Matthias Hahn

Wächter des Paradieses - Teil 2


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      „Vielleischt“, stimmte Victor zu, „ein ’eftiges Fieber kann uns manchmal falsche Tatsachen vorgaukeln, die wir dann für Wirklischkeit ’alten. Na ja, da ’aben wir dann fast einen ganzen Vormittag verschwendet. Aber mach dir kein schleschtes Gewissen, mein Freund, isch ’abe den Spaziergang sehr genossen.“ Er legte einen Arm um seine Geliebte. „Und isch ’offe, dass wir den Rückweg ebenso genießen können.“

      Sophia drückte ihm einen Kuss auf den Mund. „Aber ein wenig sollten wir uns schon auf den Weg konzentrieren“, mahnte sie. „Wenn wir aus Zufall auf den Eingang stoßen, fallen wir womöglich noch hinein, und soweit ich weiß, magst du keine großen Löcher.“

      „Völlisch rischtisch“, bestätigte Victor. „Eigentlisch bin isch ganz froh, dass wir deinen Eingang in die Unterwelt nischt gefunden ’aben, Rischard. – Ge’en wir?“

      Richard zögerte. „Ich möchte gern noch ein wenig hier bleiben. Ich muss nachdenken. Geht ihr nur schon voraus. Ich komme dann nach.“

      „Aber bleib nicht zu lange“, bat Sophia. „Mittags wird es hier ganz schön heiß in der Sonne.“ Sie wandte sich an Victor und berührte zärtlich seine Schulter. „Komm, wir ’aben noch zu tun“, hauchte sie.

      Richard schaute den beiden nach, bis sie hinter der nächsten Biegung verschwunden waren. Er musste endlich diesen dummen Fiebertraum vergessen. Jetzt war es schon so weit gekommen, dass er andere in seine Fantasieerlebnisse mit hineinzog. Natürlich war der Gedanke, es gäbe einen Eingang zu dem Altarraum, für jeden verlockend, der an dem Grabungsprojekt beteiligt war. Und es musste ja auch irgendeinen Eingang geben, das war nur logisch, das entsprach den Naturgesetzen, denn die, die in der Halle ihre finsteren religiösen Rituale abgehalten hatten, hatten sich dort sicher nicht hineingebeamt. Aber diese Feststellung hatte nichts mit seinem Traum zu tun. Was er da erlebt hatte, das entsprach nicht den Naturgesetzen, das war nicht logisch, das war einfach nicht möglich. Und wenn ihm die Alte im Dorf von einem Eingang erzählt, und er deshalb davon geträumt hatte, dann mochte ja dieser Zugang zur Halle der Bogomilen tatsächlich existieren, aber es war dennoch äußerst unwahrscheinlich, dass ausgerechnet er ihn finden würde. Selbst wenn man damals wirklich eine Öffnung auf eben diesem Hügel angelegt hatte, dann war sie mit ziemlicher Sicherheit schon längst verschüttet und somit unauffindbar geworden.

      Die Alte im Dorf, dachte er, sie hatte ihm das Leben gerettet, und er hatte sich kaum bei ihr bedankt. Sollte er ihr nicht ein Geschenk überreichen? Aber was? Geld? Das war so unpersönlich, doch ihm fiel nichts Besseres ein. Morgen würde er von hier wegfahren, und bis dahin bot sich keine Gelegenheit mehr, einen Markt zu besuchen. Er hatte sowieso keinen Schimmer, was einer alten Frau in einem so rückständigen Dorf Freude bereiten könnte. Hatten sie dort überhaupt schon Strom?

      Langsam näherte er sich den Häusern. Sein Blick fiel auf die Böschung, hinter der er das Gespräch zwischen der Alten und seiner Schönen belauscht hatte. Auch diese Böschung wirkte anders, als er sie im Fieber gesehen hatte, aber immerhin existierte sie.

      Zwischen den trockenen Büschen der Erhebung entdeckte Richard ein mögliches Mitbringsel für die Alte: eine Decke. Er erinnerte sich, dass er mit einer Decke um die Schultern die Hütte der Alten verlassen hatte, aber war er auch ohne Decke zurückgekehrt? Hatte er sie etwa hier verloren? Er stieg auf die Böschung, um den Fund aufzuheben, stutzte aber. Das war doch im Fiebertraum geschehen. Diese Decke durfte doch gar nicht hier liegen.

      Schwer atmend hob er sie auf. War es dieselbe Decke? Er konnte sich nicht erinnern, auf solche Einzelheiten hatte er im Fieberwahn nicht geachtet. Und doch, es konnte sich kaum um einen Zufall handeln. Seiner Erinnerung nach hatte er die Decke zwar getragen, als er die Hütte der Alten verlassen hatte, aber er musste sie irgendwann unbewusst abgelegt haben. Als er eng umschlungen mit seiner Schönen den Hügel hinuntergerollt war, da war die Decke nicht mehr um seinen Körper gewickelt, dessen war er sich ganz sicher. Er schloss die Augen, um dieses letzte Bild festzuhalten, um die Leidenschaft, die ihn durchflutet hatte, erneut zu spüren. Er wünschte sich so sehr, dass sein nächtliches Erlebnis kein Traum gewesen, dass ihr Kuss wirklich war. Und wenn diese Decke dieselbe war, die er letzte Nacht getragen hatte, dann hielt er hier einen untrüglichen Beweis in seinen Händen.

      Mürrisch verscheuchte er diesen verrückten Gedanken aus seinem Kopf und untersuchte seinen Fund. Er wirkte recht schmutzig, so als habe er schon eine ganze Zeitlang hier im Dreck gelegen und nicht nur anderthalb Tage. Nun, die Alte würde ihm sicherlich mehr dazu sagen können.

      Ein Hund schlug an, als er an das Haus seiner Wohltäterin klopfte. Sie öffnete die knarrende Tür, und Richard verbarg seinen Fund rasch hinter seinem Rücken. Die Alte brauchte einen Augenblick, bis sie Richard erkannt hatte, dann berührte sie ehrfurchtsvoll seine Wange und murmelte „Angila“. Richard fragte sich einen Moment, ob sie damit die Wirkung der „Heilsalbe“ seiner Schönen meinte, doch schnell verbannter er diesen Gedanken aus seinem Hirn. Sie hatte zu ihrem Engel gebetet und nun sah sie, dass ihr Gebet erhört worden war. Das war alles. Er holte die Decke hinter seinem Rücken hervor und zeigte sie der Frau. Ihre Augen weiteten sich, sie nahm die Decke an sich und betrachtete Richard prüfend. Sie erkannte sie also wieder, folgerte Richard und zeigte auf seine Wange, das Wort „Angila“ wiederholend.

      Die Alte schaute ihn gebannt an, dann zuckte sie erschrocken zusammen, wich einen Schritt zurück, hob ihre Hand und stieß hastig ein paar Worte auf Bulgarisch hervor. Richard brauchte einen Moment, bis er verstand, dass sie nicht zu ihm gesprochen hatte. Schnell fuhr er herum und erblickte den Dorfältesten, der ihn mit finsterem Gesichtsausdruck betrachtete. Neben dem Greis stand ein großer, vierschrötiger junger Mann, der einen bulligen Hund an einer kurzen Kette hielt.

      Der Alte krächzte in grimmigem Tonfall ein paar bulgarische Worte, die der Vierschrötige mit knurrender Stimme in ein schlechtes Englisch übertrug.

      „Du verschwinden“, brummte er.

      „Ich will mich nur bei ihr bedanken“, sprach Richard bewusst langsam, damit sein Gegenüber ihn verstehen konnte. „Sie hat mir das Leben gerettet.“

      Der Vierschrötige übersetzte Richards Antwort, wozu er aber nur zwei Worte benötigte. Dafür dauerte der wutentbrannte Sermon, den der Alte darauf von sich gab, umso länger.

      „Du verschwinden schnell“, übersetzte der Vierschrötige knapp.

      Richard zog seinen Geldbeutel aus seiner Hosentasche, entnahm ihm einen Zehntausend-Piaster-Schein und überreichte ihn der Alten. „Charin“ murmelte er, in der Hoffnung, dass dies als Dankeschön verstanden wurde. Die Greisin nahm den Schein mit spitzen Fingern, gab ein „Uchi“ von sich und wollte ihn Richard zurückgeben. Da brüllte der Alte los, langte sich an den Kopf und ließ wieder einen langen Wortschwall folgen, diesmal an Richards Wohltäterin gerichtet, worauf die Frau schließlich den Schein in einer Rockfalte verbarg.

      „Jetzt verschwinden“, brummte der Vierschrötige.

      „Nur eine Frage noch“, beharrte Richard und wandte sich an den Dorfältesten. „Angila?“

      Der Greis erbleichte, warf einen zornigen Blick auf die Frau, die erschrocken den Kopf schüttelte, und hielt Richard einen endlosen wutentbrannten Vortrag. Der lange graue Bart und eine behaarte Warze am Kinn des Alten verliehen dem eigentlich furchterregenden Vorgang eine dezent komische Note, aber Richard beherrschte sich tapfer.

      „Engel böse“, übersetzte der Vierschrötige, „Fluch werden geweckt. Von Euch. Bringen Unglück. Stehlen Kinder. Du verschwinden. Alle verschwinden.“

      „Sie stehlen Kinder?“, hakte Richard interessiert nach, doch der Dorfvorsteher war weiteren Fragen nicht mehr zugänglich und richtete einen scharfen Befehl an den Hund, der sich mit einem wütenden Knurren auf Richard stürzte und nur durch die kräftige Hand des Vierschrötigen zurückgehalten wurde.

      „Ich habe verstanden“, beschwichtigte Richard hastig, überspielte seinen Schrecken und verbeugte sich vor seiner Wohltäterin. Er verabschiedete sich mit einem herzlichen „Chari“, drehte sich auf dem Absatz um und eilte mit großen Schritten aus dem Dorf hinaus. Der bohrende Gedanke, ob sich der Hund nicht doch