Hymer Georgy

Geheimauftrag für SAX (4): SPECTATOR II


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bei der Burg absetzen, die hoch auf einer Anhöhe etwa zwei Kilometer Luftlinie vom Fundort der Leiche aufragte. Sie war nordöstlich der Talsperre von einem Autohof abgesehen das einzige nennenswertere Anwesen auf dieser Seite der Flusses, bei dem Holler vielleicht etwas gewollt haben konnte. Gegenüber sah dies freilich völlig anders aus, dort war alles sehr touristisch ausgelegt.

      Bei seiner Ankunft wirkten die verschiedenen teilweise eingerüsteten Gebäudeteile mit ihren hellen Renaissance-Fassaden und beinahe roséfarbenen Spitzdächern im Sonnenlicht märchenhaft schön. Das ohnehin gut erhaltene Bauwerk aus dem frühen 17. Jahrhundert mit seinen weitläufigen Befestigungsanlagen aus Gräben, Schanzen und Bastionen, welches sich seit fast hundert Jahren im Staatsbesitz befindet, wurde gerade aufwändig restauriert. Seine Ursprünge ließen sich einer Informationstafel zufolge sogar bis ins 11. Jahrhundert zurückverfolgen. Eine Weile lang ging Freysing im Gelände umher, konnte aber niemanden ausmachen, der ihn vielleicht suchte.

      Vom äußeren Wehrgang aus bekam man einen weiten Blick über die südöstlich gelegene dichte Waldlandschaft, durch welche sich die Svretka wand, die nahe des Fußes der Burg eine moderne nicht recht ins Bild passende schmale Spannbogen-brücke unterquerte. Alles wirkte äußerst friedlich und überhaupt nicht gefährlich.

      Bis zum Treffen um ein Uhr blieb noch eine Weile Zeit, und bislang war Freysing noch von niemandem angesprochen worden. Er schloss sich daher einer kleinen Führung an, während welcher er weiter erfuhr, dass 1881 der Finanzmagnat Moritz Hirsch Gereuth zunächst Eigentümer der böhmischen Königsburg wurde. 1908 verbrachte dann der damals erst dreiunddreißigjährige Winston Churchill, seinerzeit britischer Handelsminister, einen Teil der Hochzeitsreise hier mit seiner frisch angetrauten Frau Clementine Hozier. Und im letzten Weltkrieg sei sie dann ein Wehrmachts- und SS-Lazarett gewesen. Es war eine recht bewegte Geschichte. Der Agent hörte aufmerksam zu und erinnerte sich hierbei einmal mehr der Worte seiner Ausbilder in jungen Jahren: Alles kann wichtig sein.

      Falls Holler tatsächlich selbst hier gewesen war, würde das sicher einen besonderen Grund gehabt haben. Der Mann aus Prag war kein Tourist!

      Die Zeit schien stehengeblieben zu sein in den Räumlichkeiten. Es gab typisches Mobiliar, Wandregale voller alter Bücher und Staffeleien mit den Konterfeis von Erbauern und zwischenzeitlichen Bewohnern aus verschiedenen Epochen. Die Erklärungen in den einzelnen verschiedenen Zimmern erfolgten auf Tschechisch und wurden dann in zwei Sätzen zusammengefasst in schlechtem englisch wiederholt, aber Freysing bekam keine Probleme damit, den längeren Ausführungen in der Landessprache zu folgen.

      Als die Führung zu Ende ging und sich die buntgemischte Schar der übrigen Teilnehmer allmählich verstreute, zog Freysing ein Foto Hollers aus der Tasche, das aus dessen Personalakte stammte und ihn sehr lebendig zeigte. Er hielt es dem Leiter des Rundgangs, einem älteren Bediensteten der Burgverwaltung, unter die Nase. Dieser verneinte jedoch glaubwürdig, dass er den Mann darauf erkenne. Gut, es war einen Versuch wert gewesen, aber Holler besaß eigentlich ein Allerwelts-gesicht und verstand es wie jeder gute Spion, sich unauffällig zu verhalten.

      Wieder im Freien, musterte Freysing - ohne sie jeweils anzustarren - die sich hier befindlichen Touristen. Er hielt seinen Blick mehr in die Natur gerichtet. Ein einsames Eichhörnchen kreuzte ein Stück weiter flink seinen Weg, erklomm dann geschickt eine Kastanie und verschwand im oberen sich bereits etwas lichtenden Blattwerk.

      Einmal dachte Sax, er habe seinen Kontakt endlich ausgemacht, doch der Mann, der sich ihm näherte, fragte lediglich nach der Kasse für die Burgführungen. Es war inzwischen beinahe ein Uhr geworden.

      Im Hof der Anlage befand sich ein kleines aufgeschlagenes Zeltlager, in welchem stattliche Zivilisten in historischen Uniformen das Armeeleben des 18. Jahrhunderts nachstellten. Während sich Freysing gerade an einer lebhaften Szene erfreute und die hier in die Hofanlage hereinfallenden wärmenden Sonnenstrahlen genoss, war erneut ein Mann neben ihn getreten. Dies war nichts grundsätzlich beunruhigendes, denn er befand sich keineswegs alleine hier, sondern war begleitet von weiteren Besuchern des Areals in einer sehr losen Ansammlung. Es dauerte auch einen Moment, bis derjenige bei ihm sich unverfänglich äußerte.

      „Interessant, das Ganze!“, wurde Sax auf Tschechisch angesprochen. Die Stimme beinhaltete auch in den wenigen Worten jenen ostdeutschen Akzent, den Freysing bereits am Telefon vernommen hatte.

      „Nicht mehr für die Einheimischen“, entgegnete Freysing in derselben Sprache. „Aber wenn man aus Mitteldeutschland stammt…“, fügte er hinzu und ließ den Satz unvollendet.

      „Sie besitzen ein ausgezeichnetes Gehör!“, fuhr der Mann jetzt auf Deutsch fort und gab sich damit nicht mehr die Mühe, als Tscheche zu wirken. „Trotzdem, ein historisch bemerkenswertes Anwesen. Sie wissen, warum die Burg so heißt?“

      Freysing rekapitulierte, was er ebenfalls auf dem Rundgang erfahren hatte: „Der Sage nach hat sich Fürst Konrad aus dem Přemyslovci-Geschlecht um 1059 herum bei einem Unwetter während der Jagd hierher verirrt. Er flehte zu Gott, dies heil zu überstehen, und versprach dieses Falls, eine Burg und eine Kapelle zu errichten. Tatsächlich fand er daraufhin Zuflucht bei einem Köhler, den er dankbar entlohnte und an der Stelle seiner Unterkunft Kapelle und Burg bauen ließ. Während er dann einmal dort spazieren ging und überlegte, wie er sie denn taufen solle, fiel einem Eichhörnchen im Baum ein Tannenzapfen aus den Pfoten, welcher den nachdenklichen Fürsten am Kopf traf. Daraufhin nannte er sie Veveri, also von veverka – eben Eichhörnchen.“

      „Sie haben gut zugehört da drinnen!“, kommentierte der Mann.

      „Sie waren auch da“, stellte Freysing nickend fest, und erinnerte sich an ihn. Der Mann war nur einer der Besucher gewesen und er hatte sich in keiner Weise auffällig verhalten.

      „Richtig. Ich habe gehört, Sie sind auf der Suche nach einem unserer Landsleute!“, stellte die Stimme des Mannes neben ihm nun fest. Freysing wandte seine Augen vom militärischen Geschehen der Vorführung ab und musterte denjenigen genauer, der ihn angesprochen hatte.

      „Schon möglich, ja!“, antwortete er ihm und legte einen erwartungsvollen Ausdruck in sein Gesicht. „Sie sind derjenige, der mich heute Morgen angerufen hat.“

      Der hinzugetretene ältere Gesprächspartner war etwa Mitte, Ende Fünfzig Jahre alt, nicht größer als gewöhnlich, und der einsmals vielleicht schmale Kopf schien im Laufe der Jahre rundlicher geworden zu sein, wobei ganz leicht hervorstehende Wangenknochen auf ein früher einmal eher spitzes Gesicht hinwiesen. Seine Haare hielten noch die Farbe dessen Jugend, waren nunmehr jedoch überwiegend dünn und strähnig. Zwei hellwache braune Augen versteckten sich hinter einer großen, dicken unmodernen Brille mit leicht getönten Gläsern. Er trug einen grauen Straßenanzug von der Stange und bemühte sich vergeblich um absolute Unauffälligkeit. Ganz entfernt kam die Erscheinung Freysing irgendwie bekannt vor, aber er wusste nicht, wie und wo er ihn einzuordnen hatte. Trotzdem riskierte er es:

      „Sie erinnern mich entfernt an jemanden, aber es ist lange her…“, begann er, und sogleich flog ein zustimmendes Lächeln über das Gesicht seines Stehnachbarn.

      „Ist es wohl. Bin aber selbst nicht viel herumgekommen in der Welt, seit damals. Nach den turbulenten Tagen der Wende…“, half dieser ihm auf die Sprünge.

      Trotzdem musste Freysing zu dem Zeitpunkt sehr weit zurückdenken, um sich auch nur vage zu erinnern. Der Mann gab ihm Zeit, sein Gedächtnis zu durchforsten. Als es seinem Gegenüber jedoch gar zu lange dauerte, zog dieser eine Schachtel mit Zigarillos aus der Tasche. Es war eine alte DDR-Marke, die auch heute noch vertrieben wurde: „Sprachlos“. Freysing musterte die Packung. Dann fiel es ihm ein: Er kannte ihn aus dem damals geteilten Berlin, aber das letzte Mal war er diesem Mann in Leipzig begegnet - vor nunmehr beinahe bereits fünfundzwanzig Jahren.

      „Steiner!“, brachte er schließlich heraus. „Major Steiner...“. Der Mann neben ihm war ein Gespenst aus seiner lange zurückliegenden Jugend. „Stasi…!“

      „Vergessen Sie das mit dem Major“, entgegnete dieser langsam. „Und die Staats-sicherheit wurde 1990 aufgelöst. - Ja, Steiner. Und Sie sind dieser rebellische