Ingo M. Schaefer

Kein Zurück Ohne Dich


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danke, dass Sie die Zeit fanden zu kommen.“ Chadakis gab den Weg vor, den das Gespräch nehmen würde, wenn es nach ihm ginge.

      Warum sollte man zu einem Vorstellungsgespräch nicht kommen, dachte Louis und erwiderte Chadakis Lächeln.

      Als sie saßen, sagte der Jüngere: „Ich soll Sie von Miss Strout grüßen.“

      „Danke, wie geht es ihr?“, fragte Chadakis im Plauderton. Seine Entscheidung war bereits gefallen, als er Louis' Bewerbung auf den Schreibtisch bekam, mit der er gehofft, aber nie gerechnet hatte. Das Fremantle Hospital konnte mit den Gehältern anderer Kliniken und schon gar nicht mit jenen in den Staaten mithalten. Seine alte Mentorin in Boston war sehr mitteilsam gewesen, wer den jungen Chirurgen umwarb.

      Fast einsneunzig Zentimeter groß, lange sehnige Hände. Nur die Augen, obwohl blau und klar, schienen zu zeigen, dass die Welt alles andere als gut war. Chadakis kannte nur den offiziellen Lebenslauf.

      Bester Abschluss an der Monash University in Melbourne, einer der besten Universitäten für Medizin weltweit. Praktikum völlig überraschend hier bei ihm in Fremantle. Chadakis hatte Louis nach Boston gezwungen, um ihm alle Möglichkeiten zu zeigen. Er arbeitete nun seit zwanzig Jahren im Fremantle Hospital und begriff immer besser, wie die Menschen hier tickten. Egal welche Hautfarbe, jene, die hier aufwuchsen, waren auf eine stille, edle Art heimatverbunden wie die Wonghis, die Ureinwohner Westaustraliens. Louis White war und blieb für immer ein Westler, wie die Menschen sich selber nannten, egal, wie viel Geld die Ferne anbot. Er sah sich die Ferne an, kam mit neuem Wissen zurück und bewarb sich in Fremantle.

      Der Direktor wusste, in einem Jahr würde Louis zum Stationsarzt aufsteigen und das Fremantle Hospital zu bisher ungeahntem Ruf führen.

      Kapitel 2

       15. Dezember 2022

       Police Departement, Perth, Westküste Australien

      Chiefinspector John Taylor griff eine zerfledderte Akte aus seiner Schublade.

      Der Todestag seines Schwagers Steve White und seiner Schwester Olana jährte sich. Heute würde er die Mappe durch eine neue ersetzen. Dazu musste er die wenigen Blätter aus dem Hefter nehmen. Diese Arbeit vermied er bisher. Die ersten Jahre suchte er verzweifelt nach dem Durchbruch, um die Gründe für ihren Tod zu finden.

      Olana und Steve, beide erfahrene Segler und ihr dreizehnjähriger Sohn Louis, sein Patenkind, verließen heute vor genau sechzehn Jahren den Hafen in Brisbane. Kein Sturm, kein hoher Seegang. Dennoch war das Schiff innerhalb weniger Stunden spurlos verschwunden. Die Küstenwache fand einen Tag später einen verstörten Louis in einem Rettungsschlauchboot. Der Junge war mit Seglerknoten festgebunden, die er nicht beherrschte.

      Elena White, die Schwester seines verschollenen Schwagers, und er waren Louis‘ Paten und flogen aufgeregt und aufgewühlt nach Brisbane. In den ersten Tagen begingen sie Fehler, verboten Verwandten den Besuch, überließen Louis gutgläubig Psychologen und Ärzten.

      Dass Louis in der ersten Woche niemanden erkannte, nicht wusste, wer er war, beunruhigte niemanden. Schließlich wuchs er außerhalb Australiens auf. Verwirrung trat ein, als er Elena und John einfach Mama und Papa nannte.

      Nach zwei Wochen fielen die Erklärungen der Ärzte und Psychologen unsicherer aus, da in vergleichbaren Fällen die Patienten sich bereits an bestimmte Begebenheiten erinnerten.

      Louis Gehirn schien einen vollständigen Neustart durchgeführt zu haben, eine komplette Löschung seines bisherigen Lebens. John stellte sich vor, wie der Junge zusehen musste, als seine Eltern ihn am Boot festzurrten und dabei mit dem Sog in die Tiefe gerissen wurden. Warum konnten beide sich nicht retten?

      Solange Louis sich nicht erinnerte, blieb alles Mutmaßung. Sein vorheriges Leben war für den Jungen nicht mehr da. Zudem kannte er niemanden auf dem Kontinent, dachte John.

      Die ledige Elena erwies sich als perfekte Mutter. Als Lehrerin besaß sie die nötige Geduld und Härte. Vielleicht hätte John irgendwie geschafft ein Vater zu sein. Leider sah er in Louis meist Olana. Er hasste sich, weil er dem Jungen unbewusst den Tod seiner Schwester vorwarf. Dafür versuchte er ständig für seine Schwägerin da zu sein. Sie kehrten mit Louis nach Perth zurück.

      Eine mit Elena befreundete Psychologin, Nora Bachner, beriet beide intensiv, zeigte neue Wege auf.

      Louis sollte jedes zweite Wochenende in Johns Wohnung schlafen. Elena wollte unbedingt einen männlichen Einfluss für Louis – ausschließlich Johns. Mit Bachners Hilfe kämpfte John gegen seinen Selbsthass an. Elena hätte ihn gern mehr eingespannt, aber der damalige Dienst ließ dies nicht zu. Mit der Zeit schlief Louis auch in der Woche bei ihm, weil der Junge mit ihm über alle möglichen Mädchen reden wollte.

      Sein neuer Vater machte aus Louis einen Gentleman.

      Der Polizist unterdrückte aufkeimende Gefühle für Elena. Er sprach nie darüber. Der Junge war fortan das Zentrum. Elena durfte nicht abgelenkt werden.

      Sie versuchten alles, jeder auf seine Art, um Louis zu seinen Erinnerungen zu verhelfen.

      Bis zum Unfall war der Junge ein normaler, frecher, aufgeweckter und mutiger Junge, der in Clubs schwamm und relativ gut in der Schule war.

      Der Polizist hoffte mit Schockerlebnissen zum Erfolg zu kommen. Auch er und Elena begeisterten sich für die See. Die gemeinsamen Segeltouren bleiben erfolglos. Weder lösten sie Erschütterungen aus, noch zeigte sich Louis begeistert. Im Gegenteil. Steve hatte John stolz berichtet, wie Louis in Los Angeles eine Jollenregatta gewann. Der neue Louis wusste weder Knoten zu schlagen, noch begriff er den Unterschied zwischen Backbord und Steuerbord. Und seine Orientierung erst. John verzweifelte und gab auf.

      Auf anderem Gebiet waren beide erfolgreich. Reiten. Elena brachte ihm Pferde näher. John unternahm mit ihm Kamelritte. Louis war ein Naturtalent. Jedes Tier, das er ritt, beugte sich seinem Willen.

      Elena ging mit ihm schwimmen, hoffte dadurch, das Unterbewusstsein anzuregen und sich an frühere Abläufe zu erinnern. Neben Segeln war Louis ein guter Schwimmer gewesen. In Fremantle musste er schwimmen lernen und versagte.

      Zu schlechter Letzt blieb Louis Fall nicht geheim. Neurologen und andere wurden auf ihn aufmerksam, wollten den Jungen für Studienzwecke gewinnen, um diverse Medikamente an ihm zu testen. Nicht autorisierte Vorträge brachten sogar Forschungseinrichtungen auf den Plan. Elena überließ die zahlreichen Anfragen dem nun wutentbrannten Polizisten.

      Mit einem Anwalt formulierte er Anzeigen wegen Verletzung des Arztgeheimnisses an jene, die einen Vortrag gehalten hatten, an die Einrichtungen und die Kongressveranstalter, weil nicht freigegebene Gesundheitsinformationen eines Patienten öffentlich dargestellt wurden. John Taylor bot zwei Wege: Teurer Vergleich oder öffentlicher Prozess. Er drohte staatlich bestellten Gutachtern die Überprüfung an. Das hätte für jene Finanzausfall und Abstieg bedeutet. Die anfragenden Forschungseinrichtungen zahlten hohe Beträge, um ihre Namen aus der Presse und aus Ermittlungen herauszuhalten, da sie um ihre öffentliche Förderung bangten. Davon ausgenommen blieb die Psychologin Dr. Bachner. Ihr vertrauten beide.

      Mit dem Geld bezahlte Elena Privatlehrer, Trainer sowie eine Privatschule und richtete für Louis einen kleinen Fond ein. Zusammen mit dem Erbe sollte Louis damit studieren können.

      Weil weder die Whites noch die Taylors den Waisenjungen kannten, zumindest jene ausgewählten Verwandten, die Elena in die Nähe ihres Schützlings ließ, begriff keiner den Rabauken, wie ihn sein Vater Steve zuvor beschrieb. Wissbegieriger und fleißiger übersprang der neue Louis eine Klasse und ging jeder körperlichen Auseinandersetzung aus dem Weg.

      Seit der Junge in Fremantle arbeitete, sah John seinen Pflegesohn nur zu den wichtigen Geburtstagen. Der jüngste Stationsarzt blieb nur kurze Zeit, um sofort wieder zur Klinik zu fahren. Das Vertrauen der Jugendzeit schien vorbei zu sein. Über beider Netzwerke erfuhren er und Elena, wie schnell seine Beziehungen zerbrachen. Die Frauen zerschnitten die Bande, meinte Elena, wenn sie über ihren Sohn sprachen. Zwei Freunde aus der Privatschule genügten