Uwe Siegfried Drogoin

Ich bin ein Berliner


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die Eltern informiert, dass ihr Sohn, als er im Begriff war die Republik zu verlassen, durch Schüsse lebensgefährlich verletzt wurde. Routinemäßig wurde eine Akte mit folgenden Personalien angelegt:

      Name: Nagel Thorben

      Geboren: am 9. Februar 1943 in Falun, Schweden

      Adresse: Berlin Köpenick

      Vater: Nagel Alfred

      Mutter: Nagel Hilda, geborene Andersson,

      Schwedin

      Festnahme: am 14. März 1964

      Straftatbestand: versuchte Republikflucht

      Gesundheitszustand: schwere Schulterverletzung durch einen Schuss aus einer automatischen Waffe.

      Von nun an wurde ein präzise arbeitender Staatsapparat in Gang gesetzt, der die Strafverfolgung des Grenzverletzers zur Folge haben sollte. Als Thorben aus der Narkose aufwachte, fragt er sich, wo bin ich? „wie komme ich hier her? wie sollte es nun weiter gehen? Würde er sein geliebtes Mädchen wohl jemals wiedersehen“? Er empfand tiefe Trauer und Niedergeschlagenheit, weil seine Lebensträume in einer Nacht wie ein Luftballon zerplatzt waren. Eins war ihm nun sonnenklar: es würde nun nichts mehr so sein, wie es war.

      Wie alles begann

      Anfang September des Jahres 1935 war im Berliner Stadtteil Tempelhof schon wieder das geschäftige Treiben der Großstadt im vollen Gange. Die Urlaubszeit hatte nur eine kurze Atempause gewährt. Die Schrebergärten wurden nur noch an den Wochenenden angefahren und wer sich eine Reise an Nord- oder Ostsee hatte leisten können, war wieder in der Stadt eingetroffen. Der Sommer neigte sich langsam dem Ende zu und in manchen Nächten lag schon leichter Nebel über den Wiesen der Stadt. Es war ein schöner Sommer gewesen und jeder empfand ein bisschen Melancholie bei dem Gedanken, dass nun bald die kältere Jahreszeit beginnen würde. Der erste Tag des neuen Schuljahres im Schiller - Gymnasium war gekommen. Die Lehranstalt hatte nur Jungenklassen. Das Mädchengymnasium befand sich streng getrennt in einer Nebenstraße, damit die Schüler nicht durch die Begegnung mit dem anderen Geschlecht vom Lernen abgehalten wurden. Das Schulgebäude, ein Bau aus den Gründerjahren Berlins, war mit seinen schönen roten Backsteinen, hohen hellen Klassenzimmern und großen, schön geschwungenen Fenstern wie ein großes „U“ angelegt. In der Mitte dieses Gebäudekomplexes befand sich der Schulhof mit einigen weit ausladenden Kastanienbäumen, deren Blätter schon teilweise gelbe bis braune Flecken hatten und die allgemeine Laubfärbung ankündigten. Nach den Sommerferien sollte die Klasse 12b die letzte Etappe bis zum Abitur zurücklegen. Bevor der Schulbetrieb wieder einsetzte, fanden sich alle Schüler auf dem Hof vor der Schule ein und warteten, bis das Vorklingeln ertönte. Zurückblickend wurde ausgetauscht, was jeder in den großen Ferien, die in jedem Falle zu kurz waren, erlebt hatte. Und eigentlich war man auch froh, dass die Tage wieder geordnet zugingen und der untätige Urlaubstrott ein Ende hatte. Der Schulhof war in einzelne Segmente unterteilt und jede Klasse hatte ihren angestammten Stellplatz. An normalen Unterrichtstagen gingen die Schüler zu Beginn der großen Pausen im Gänsemarsch auf den Schulhof hinaus und hielten sich an ihren zugeordneten Plätzen auf. Diese Ordnung hatte den Vorteil, dass die große Zahl von Schülern von der Schulleitung perfekt beobachtet und kontrolliert werden konnte. Harald, ein neuer Schüler, wartete etwas abseits vom Standort seiner zukünftigen Klasse 12b. Er sollte in diesem Jahr neu hinzukommen, hielt sich aber noch zurück, bis das Klingelzeichen die Schüler, wie in jedem Jahr, am ersten Schultag zur Eröffnungsfeier in die Aula rief. Die Aula befand sich in der ersten Etage direkt über der Turnhalle als schöner Festsaal mit einem flexiblen Stuhlbestand und einer kleinen Bühne. Auf der linken Seite der Bühne war ein Rednerpult aufgestellt, welches an der Vorderseite das Schulwappen trug. Rechts daneben saßen die Mitglieder der Schulleitung an einem langen Tisch. Vor dem Pult war ein Fahnenständer auf dem Fußboden befestigt, bei dem sowohl die Reichsals auch die Berliner Flagge eingesteckt waren. Nachdem sich alle Schüler laut klappernd und schwatzend auf ihren Plätzen niedergelassen hatten, trat der Direktor, Herr Dr. Scholz, an das Pult: „ Meine Herren, ich bitte sie um Disziplin und Aufmerksamkeit, denn bei allem Verständnis für ihre Wiedersehensfreude mit ihren Klassenkameraden und der Schule wollen wir das neue Schuljahr beginnen. Ich begrüße zuerst die neuen Klassen mit all ihren hoffnungsvollen Talenten und nicht zuletzt auch die Alteingesessenen“. Er erläuterte traditionell die straffe Schulordnung und versuchte die heranwachsenden jungen Männer dafür zu motivieren für sich und ihr Vaterland im Unterricht beste Ergebnisse zu erzielen. „Sie sind die Zukunft unseres Reiches und ich erwarte von ihnen, dass sie sich dieser Verantwortung bewusst stellen. Geben sie ihr Bestes, damit unser Volk und unser Führer stolz auf sie sein können“. In dieser Schule arbeiteten mehrere Lehrer, die den Schülern eine hohe Lernmotivation vermitteln konnten. Dadurch wurde im Maßstab der Reichshauptstadt ein überdurchschnittlich hohes Wissensniveau gehalten. Nach der großen Ansprache gingen die Schüler geordnet in ihre Klassenräume.Als Harald in das Klassenzimmer kam, nahm zunächst keiner Notiz von seiner Anwesenheit, bis der Klassenlehrer, Herr Neumann, in den Raum trat und den Neuen vorstellte: „Das ist ab heute euer neuer Mitschüler Harald Eisenstein“. Zu Harald gewandt wünschte er: „Viel Erfolg und gutes Gelingen in der letzten Klasse. Setzen sie sich erst einmal auf die hintere Reihe. Alfred sie, als Klassensprecher, werden Harald nachher einen Platz zuweisen“. Damit war das Organisatorische zur Einführung des Neuen abgeschlossen. Alfred, der Klassenprimus der Zwölften, galt als hoch begabt, hatte ausgezeichnete Noten und galt als der körperlich Stärkste unter den Jungen. Als Klassensprecher vertrat er die Klasse nach außen. Nach innen richteten sich alle nach seiner Meinung. Die Klasse war ein intelligentes Rudel und Alfred der Leitwolf.

      Harald Eisenstein hatte eine lange Krankheit hinter sich. Die Ärzte hatten den Eltern geraten, die unterbrochene Klassenstufe noch einmal zu beginnen, damit der Anschluss an den anspruchsvollen Lehrstoff bis zum Abitur nicht zu schwer würde. Herr Neumann verkündete den Stundenplan und ermahnte alle noch einmal ihr Bestes zu geben, damit bei den Abiturprüfungen gute Ergebnisse erzielt werden konnten. „Dass alle das Ziel schaffen werden, steht für mich außer Frage“, betonte er, „doch sie sollen es auch mit guten Ergebnissen abschließen“. Er kannte seine Klasse gut und traute ihnen eine Menge zu. In der Horde Jungen, wo alle starke Persönlichkeiten sein wollten, musste jeder täglich den Rang seiner Popularität neu erkämpfen. So wurde Harald gleich am ersten Tag auf die Probe gestellt. „Hast du Kraft“? wollten die Mitschüler wissen. Auf alle Fälle war nun eine neue Rangverteilung fällig. Der Neuling, mit sympathisch weichen Gesichtszügen und einer schlanken Figur konnte doch, vom ersten Eindruck her, in der internen Hierarchie der Jungen nur auf den hinteren Plätzen landen. So forderte ihn der ständige Herausforderer und Rivale Alfreds, Georg auf: „Wenn du testen willst, welchen Platz du künftig in der Klasse einnehmen willst, sollten wir unsere Kräfte per Armhebel messen“. Nach anfänglichem Zögern willigte Harald ein, er wollte ja nicht als Schlappschwanz angesehen werden. Die anderen Jungen waren freudig gespannt auf den Kampf und richteten sofort in der grossen Pause eine Schulbank her. Da war gleich zu Schulbeginn richtig etwas los. „Wie wird sich der Neue einordnen lassen“? lautete die spannende Frage. „War er ein Kämpfer oder war er so sanft, wie seine Augen“? Harald hatte bisher noch nicht viel gesagt, aber nun stellte er die Bedingungen: „Wer den Handrücken des Anderen auf den Tisch drückt, hat gewonnen. Und wer gewonnen hat, tritt gegen den Stärksten an“. So kühn hatte noch keiner vor ihm gesprochen und die Allgemeinheit war widerwillig bereit, Haralds Forderungen zu akzeptieren. Die Devise hieß: „Erst mal abwarten, dann konnte man ja weiter sehen“. Georg war der ewige Zweite hinter Alfred. Mit breiten Schultern und einem geschmeidigen Gang demonstrierte er, weit hin sichtbar seine Kraft und sportliche Fitness. Sein eckiger Kopf und seine blonden Haare verliehen ihm ein nahezu seemännisches Aussehen. Beide Jungen streiften langsam die rechten Ärmel hoch, so dass man auch die Muskeln sehen konnte, wenn sie sich anspannten. Georg genoss sichtlich den Augenblick, so konnte er allen Anderen wieder einmal zeigen, wasfür ein toller Kerl er war. Er lächelte lässig und überlegen: „Diesem Milchgesicht werde ich von Anfang an Respekt beibringen“. Als beide bereit waren, setzen sie sich an der vorbereiteten Schulbank gegenüber und gaben sich die Hand. Georg begann sofort mit aller Macht zu drücken, doch Alfred rief dazwischen: „Halt, Schorsch, ich