Uwe Siegfried Drogoin

Ich bin ein Berliner


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heran. Beide Jungen hatten sich verabredet, gemeinsam zu dem erwarteten Zeremoniell zu erscheinen und ihre besten Anzüge aus dem Schrank geholt. Schließlich bekam man nicht alle Tage das begehrte Abiturzeugnis überreicht. Herr Neumann, ihr Klassenlehrer, empfing die festlich gekleideten Herren in ihrem Klassenzimmer und beglückwünschte jeden Einzelnen für seinen gelungenen Abschluss. Die große Feierstunde wurde unter Einbeziehung aller Lehrer und Schüler in der Aula abgehalten und begann mit einer Darbietung des Schulchores, der Beethovens „Freude schöner Götterfunken“ aus seiner Neunter Symphonie sang. Anschließend hielt der Direktor Dr. Scholz eine flammende Rede von Vaterland und Stolz und von Anstrengungen des deutschen Volkes, welches sich verteidigen müsse. Schließlich wurden alle fertigen Abiturienten zum Zeugnisempfang auf die Bühne gerufen, nur Harald nicht. Alfred wandte sich fragend an den Freund: „ Du hast doch auch bestanden, oder nicht“? Harald war genauso erstaunt, wie die Anderen, aber er blieb auf seinem Platz sitzen und wartete geduldig, dass etwas passierte. Es konnte sich nur um einen Irrtum handeln, er war doch einer der Besten gewesen und hatte in fast allen Fächern glänzend abgeschnitten.Die Feier nahm ihren Lauf, doch warum bekam ausgerechnet er sein ehrlich verdientes Zeugnis nicht? Er traute sich auch nicht zu fragen, weil plötzlich eine furchtbare Unsicherheit in seinen Gliedern saß. „Frag` du doch mal, warum ich nicht aufgerufen wurde“, bat er seinen Freund. Alfred wollte es nun genauer wissen und meldete sich wegen des offensichtlichen Versehens zu Wort. Doch ehe er den ersten Satz beendet hatte, zog ihn ein Lehrer zur Seite und macht ihm klar, „Harald ist eines deutschen Abiturzeugnisses nicht würdig, weil sein Vater Jude ist“. „Hast du das gewusst“, wollte Alfred von Harald wissen. Harald saß da, wie ein Häuflein Unglück: „Mir ist plötzlich bitter kalt, ich will nur noch weg von hier“. Er verließ die Veranstaltung, ohne sich zu verabschieden, in ihm kochte es gewaltig und er fühlte nur noch Wut und Verzweiflung. Irgendetwas war in dieser Welt nicht in Ordnung und ausgerechnet er musste darunter leiden, dass sein Vater nicht arischer Abstammung war. Zu Hause gab es heftige Diskussionen. Die Eltern glaubten nicht, dass die Schule das Zeugnis zurückhielt, nur weil Harald einen jüdischen Vater hatte. Es musste noch einen anderen Grund geben. Hatte er nicht zielstrebig genug gelernt oder sich daneben benommen? Warum hatten seine Eltern so plötzlich kein Vertrauen mehr zu ihm? Harald verstand die Welt nicht mehr. Aber sollte er darum gleich seinen Vater verdammen, nur weil die große Politik und der Führer es so wollten? Alfred kam gleich nach Ende der Veranstaltung zu Haralds Eltern und klärte den Zweifel auf. Ihm tat es in der Seele weh, dass sein Freund für all die Arbeit und Mühen leer ausgehen sollte. Doch offen zu opponieren hatte er nicht gewagt, weil er dann leicht mit in den zu erwartenden Sog hinein gezogen würde. In solchen unsicheren Zeiten hielt man manchmal lieber die Klappe, ehe man sich die Zunge verbrannte. Man hatte ja schon einiges gehört, dass jüdischen Menschen das Leben schwer gemacht wurde und in der Öffentlichkeit verstärkt eine systematische Herabsetzung betrieben wurde. Im Stadtteil Mitte hatten braune Horden mehrere Läden jüdischer Händler demoliert und mit Hakenkreuzen beschmiert. In Berlin Neukölln hatten sie ein ganzes Kaufhaus angebrannt. Besonders krasse Nachrichten kamen aus Bayern, wo jüdische Mitbürger aus ihren Häusern getrieben wurden. Doch in der letzten Zeit waren die Nachrichten spärlicher geworden und einige munkelten schon, dass die Gerechtigkeit gegen diese Elemente siegen werde. Alfred schlug kurzerhand vor: „Nun machen wir erst mal Ferien. Wir haben da eine befreundete Familie in Schweden. Die würden sich freuen, wenn wir einige Wochen bei ihnen verbringen. Über die Finanzen brauchst du dir keine Sorgen zu machen, erstens sind diese Leute nicht arm und zweitens werden uns meine Eltern unterstützen“. Harald willigte schweren Herzens ein, er wollte erst einmal alles um sich herum vergessen. Alfred übernahm die schriftliche Anfrage per Post und binnen einer reichlichen Woche war die positive Bestätigung da.

       Falun, der 11. Juni 1935

       Lieber Alfred,

       Du weißt, dass Deine Familie bei uns immer herzlich willkommen ist.Auch für Deinen Schulfreund wollen wir gute Gastgeber sein.Bereite ihn auf das Landleben vor, denn hier ist das Leben einfacher, als im schönen Berlin und die Uhren gehen hier anders, als bei Euch. Momentan ist sehr viel Arbeit auf dem Hof und auf den Feldern, aber wir werden noch genügend Zeit miteinander verbringen können.

       Liebe Grüße auch an Deine Eltern

       Lars und Annegret Lindgreen

      In der Abschlusskonferenz der Schulleitung des Gymnasiums kam der Fall Haralds nochmals zur Sprache. Einige Lehrer fanden die Entscheidung des Direktors nicht richtig, zumal der Junge die Sympathien aller auf seiner Seite hatte. Doch der Direktor Dr. Scholz blieb in seiner Entscheidung hart. Der Klassenleiter der ehemaligen 12b, Herr Neumann, hörte sich die fadenscheinigen Gründe an, warum man Harald das Abschlusszeugnis verweigert hatte, doch er wollte sich damit nicht abfinden. Sein Protest fand im Stillen statt. Schließlich ging es um die Zukunft eines begabten jungen Mannes, der weiter keine Verbrechen begangen hat, als dass sein Vater Jude war. Er fand einen Grund nach Dienstschluss länger zu bleiben, um das Zeugnis nachträglich noch ausliefern zu können. Geschrieben hatte er es zusammen mit den anderen, doch der Direktor hatte es vor der allgemeinen Übergabe unter Verschluss genommen. Nun kam es darauf an, in den Besitz des Dokumentes zu gelangen, ohne dass es jemand merkte. Herr Neumann wusste, dass es kriminell war, was er nun tat. Trotz heftiger Bedenken, wollte er begangenes Unrecht wieder gut machen und brach in das Büro des Direktors ein. Wenn jemand dahinter kam, konnte er seinen Beruf an den Nagel hängen.Das Büro des Direktors, gleich neben dem großen Lehrerzimmer im ersten Stock, war bei dessen Abwesenheit immer verschlossen. Der Klassenlehrer besorgte sich einen stabilen Dietrich und öffnete vorsichtig die kleine Verbindungstür. Er betrat mit klopfendem Herzen den ehrenwerten Raum, mit dem übergroßen Bild des letzten Kaisers und den schön geschwungenen Möbeln, die allesamt nach dem Pfeifentabak des Inhabers rochen. Im hinteren Teil des Raumes befanden sich die Unterlagen für Lehrer und Schüler in einer Registratur sauber nach Anfangsbuchstaben der Nachnamen abgeheftet. Die Schubfächer dieses Archivs waren abgeschlossen, doch er wusste, wo die Schlüssel aufbewahrt wurden. Oft genug hatte er zugeschaut, wie und wo die Sekretärin des Direktors die Schlüssel verwahrte. Halt! da war doch ein Geräusch? Wie elektrisiert hielt er in seinen Bemühungen inne und wagte nicht zu atmen. Richtig, der Hausmeister kam mit schweren Schritten den Gang entlang und rief: „Ist da noch jemand“? Im leeren Haus hallten Schritte und Rufe deutlich wider. Er wollte offensichtlich das Haus abschließen. Als niemand antwortete, ging er schließlich wieder nach unten.Dann war alles wieder still und der Lehrer nahm erneut seine Suche auf. Der vierte Schieber war der richtige. Hier waren alle Schüler mit dem Anfangsbuchstaben –E – abgelegt und nach Klassenstufen geordnet.Er nahm das Zeugnis von Harald Eisenstein heraus und schloss alles wieder sorgfältig ab. Doch wie verhielt er sich, wenn der Verlust bemerkt wurde? Dieser Gedanke schoss ihm durch den Kopf. Jetzt, wo er sicher sein konnte nicht gestört zu werden, konnte er diese Aufgabe doch auch besser und auch unauffälliger beenden. In aller Ruhe schloss er die Registratur wieder auf, suchte nach einem unausgefüllten Zeugnisformular und schrieb das Dokument mit größter Sorgfalt ab. Nun musste auch noch ein Stempel auf das Papier, sonst war es nicht rechtswirksam. Auch die Stempel waren im Schreibtisch sicher verwahrt, doch zum Glück war er an dieser Stelle offen. Nach reichlichen zwanzig Minuten besah Herr Neumann sein Werk und war mit sich zufrieden. Doch halt, die Unterschrift des Direktors fehlte noch. Der Chef unterzeichnete immer mit einem undefinierbaren Gekrakel, was nicht im Entferntesten an seinen Namen erinnern konnte. Der Lehrer musste also diesen Schwung in der Schrift erst üben. Nach mehreren Anläufen und einigen vollgeschmierten Blättern kam sein Namenserkennungszeichen der Unterschrift des Direktors sehr nahe. Nicht ohne ein ungutes Gefühl in der Magengegend beendete er seine Urkundenfälschung und besah sich seine Arbeit. Dieses Exemplar war vom echten in keiner Weise zu unterscheiden. Nun zum Abschluss noch das Schulsiegel darauf. Dieses Detail hätte er fast vergessen. Ein Blick auf dem Schulhof... der Hausmeister war nicht zu sehen. Herr Neumann schloss alles wieder sorgfältig ab, packte die vollgeschmierten Übungsblätter ein und verließ über den Hinterausgang die Schule. Festen Schrittes und in der Überzeugung größeres Unrecht verhindert zu haben, ging der Lehrer nach Hause, steckte das Zeugnis in einen neutralen Umschlag und schickte den Brief ohne Absender an Herrn Harald Eisenstein. Wie groß war die Überraschung, als Harald einen Tag später sein Zeugnis in der Hand hielt. Haralds Mutter hatte die