Uwe Siegfried Drogoin

Ich bin ein Berliner


Скачать книгу

und Straßennetz zur Stadt ordentlich ausgebaut sein, um die anfallenden Massen transportieren zu können. Allgegenwärtig war hier das riesige Loch der Grube. Das Anwesen der Lindgreens lag in der Nähe des Sees Runn, der in seiner längsten Ausdehnung etwa fünfzehn Kilometer maß, viele kleine Buchten und Inseln hatte und nahezu bis zur nächsten Kreisstadt Borlänge reichte. Die beiden Deutschen hatten schon bei ihrer Anreise einen kleinen Eindruck von der Schönheit dieses Fleckens Erde erhalten. Großvater Björn war neugierig: „Ich will mal sehen, wie die beiden Deutschen aussehen, was sie zu berichten haben und wie sie die neusten technischen und politischen Entwicklungen in Europa beurteilten“. Der Großvater wusste aus Erzählungen der Lindgreens, dass die beiden jungen Männer recht intelligente Kerle seien und kürzlich ihr Abi mit Bravur geschafft hätten. Der Familienbesitz der Lindgreens bestand aus einem großen Bauernhof mit einer ansehnlichen Anzahl von Tieren und einem respektablen Stück Land. Die beiden Gäste hatten sich vorgenommen in der Landwirtschaft mitzuhelfen und dadurch die Gastfreundschaft mit eigener Muskelkraft zu vergelten.Zur Begrüßung mussten die Beiden einen kräftigen Aquavit auf Ex austrinken. Man erhob hier das Glas, alle sagten das magische Wort „Skol“ wie bei uns das „Prost“ und der eisgekühlte Inhalt wurde in einem Zug ausgetrunken. Harald und Alfred schüttelten sich wegen des hohen Alkoholgehaltes des Getränkes und alle müssten über die verdutzten Gesichter der Neulinge lachen. „Nun geht es wieder an die Arbeit“, mahnte Lars Lindgreen, „die Bauern hier im Norden müssen jede Minute des Sommers nutzen. Da muß die Feldarbeit und die Einbringung der Ernte konzentriert erledigt werden“. Wenig später zeigte eine Magd den beiden Deutschen ihre Unterkunft. Ihr Zimmer war gemütlich im Bauernstil eingerichtet. Die Betten hatten ein Gagenetz als Himmel, der die Mücken im Sommer abhalten sollte. Die Bettstellen waren lustig mit kleinen Röschen und bunten Blättern bemalt. Sicher war das in den langen Wintermonaten die einzige vorzeigbare Natur. Sie sortierten ihre mitgebrachten Sachen in die Schränke ein, erfrischten sich am nahe gelegenen Brunnen und erwarteten die gemeinsame Abendmahlzeit.Vater Lars Lindgreen kam später hinzu, er hatte als Familienoberhaupt das tägliche Tischgebet zu sprechen. Erst wenn das Gebet gesprochen war, hatte die Tischgesellschaft das Recht mit dem Essen zu beginnen, so war es hier Brauch: „Komm Herr Jesus, segne unsere Mahlzeit und schenke uns und unseren Gästen Zufriedenheit“. Alfred und Harald kannten das aus ihren Familien nicht, aber die hiesige Zeremonie gefiel ihnen. Nun mussten sie berichten, wie die Reise verlaufen war und was es im fernen Deutschland Neues gab. Großvater Björn kannte sich in Geschichte aus und frotzelte, dass ja dieses Deutschland beinahe eine schwedische Kolonie geworden wäre. Er spielte auf die Expansionspläne des Königs Gustav Adolf von Schweden im Mittelalter an. Alfred brachte Haralds Benachteiligung anlässlich der Abschlussfeier ins Gespräch und Lars Lindgreen entgegnete, dass dieser Antisemitismus ja eine richtige Modekrankheit in ganz Europa sei. Er beruhigte Harald, dass die Lindgreens gute Christenmenschen seien und somit Nächstenliebe und Toleranz Andersdenkenden gegenüber oberste Gebote seien. „Mach´ dir keine Gedanken, hier bist du vor solchen Dingen sicher“. Mit diesen Worten verabschiedete er sich, um zu Bett zu gehen. Und zu den beiden Ankömmlingen, die ihre Hilfe angeboten hatten: „Geht auch zeitig schlafen, damit wir am nächsten Tag sehr früh mit der Arbeit beginnen können“. Er wusch sich am Brunnen mit glasklarem und kaltem Wasser und verschwand in seinem Schlafgemach. So wie er, taten es auch die beiden halb erwachsenen Söhne Thoralf und Söhren, die wie der Vater, richtige Naturburschen waren. Auch Großvater Björn verließ das Haus für heute und lud die beiden Neulinge schmunzelnd ein: „Besucht mich in den nächsten Tagen, aber vergesst es nicht“. Als letztes ging Annegret zu Bett, nachdem sie zusammen mit der Magd den Haushalt in Ordnung gebracht hatte. Die Sonne ging ja nicht vollständig unter, sie wanderte des Nachts etwas zaghaft am Horizont entlang, um in den Morgenstunden wieder in voller Pracht und Schönheit den Tag zu beleuchten. Am nächsten Tag in aller Frühe krähte ein Hahn so kräftig, als wollte er als lebender Wecker seinen Dienst mit aller Würde versehen, die ihm zu Gebote stand. Es war unmöglich bei solch einem Lärm weiter zu schlafen. Kurze Zeit später stellten sich die Lindgreens am Brunnen an, um sich am kalten Wasser den Schlaf aus den Augen zu waschen. Alfred und Harald beeilten sich, um nicht als Außenseiter da zustehen. Alfred nahm einen Eimer und schüttelte den Inhalt lachend über Haralds Rücken: „Jetzt sind wir auch solche Naturburschen, wie die anderen, also nicht zimperlich sein“. Annegret hatte inzwischen die Brote und einen warmen Malzkaffee auf den Tisch gebracht. Nach einem kräftigen Frühstück gingen alle an das Tagewerk. Der Gastgeber nahm die beiden neuen Helfer mit und ging zu den Kühen. Sie mussten als erstes mit Nahrung und Wasser versorgt und ausgemistet werden. Vater Lars begrüßte jede Kuh persönlich mit Namen und hatte an jeder Box ein gutes Wort parat. Anfangs rümpften die beiden Stadtkinder die Nase über die angeblich gesunden ländlichen Gerüche, aber sie gewöhnten sich schnell an die Duftnoten der Tiere. Die Kühe mussten anders behandelt werden, als die Schweine. Die Schafe wurden auf karge Weiden getrieben, die keinen anderen Tieren Nahrung geben würden, doch den Schafen genügte es immer noch.Da die Helfer nun in ihre Aufgaben eingewiesen waren, konnte sich der Hausherr anderen Arbeiten zuwenden und überließ den jungen Männern die Erledigung. Gegen Mittag traf man sich wieder im Hause und den Neulingen schmerzten schon Schultern und Rücken von der ungewohnten Arbeit. Alfred fragte Harald ganz verstohlen, „Was sagen deine Knochen zu der Schinderei?“ Doch Harald fand das ganz normal, zumal sie diese Muskeln in der Vergangenheit nicht belastet hatten. „Alfred, das legt sich wieder, spätestens in drei bis vier Tagen macht dir das alles nichts mehr aus und du wirst über deine anfänglichen Schmerzen nur noch lachen“. „Ich hoffe du hast mit deiner Prognose Recht“, witzelte Alfred mit einem ungläubigen Lächeln. Nachdem sie die erste Woche hinter sich hatten, machte ihnen die Arbeit tatsächlich nichts mehr aus und ihr Hunger hatte sich der Allgemeinheit der männlichen Mithelfer angepasst. Mutter Annegret freute sich, wenn es ihren Männern so richtig schmeckte und das gute Brot, der reichhaltige Fisch und das Fleisch gaben die nötigen Kalorien ab, die solch ein Bauer brauchte, um die schwere Arbeit hier auf dem Lande zu schaffen. Auch Vater Lars lobte die Beiden, die wider Erwarten von Anfang an vollwertige Arbeit leisteten und der Familie eine große Unterstützung waren. Außerdem lernten die beiden Deutschen abends intensiv schwedisch und konnten sich nach einigen Tagen ganz gut in der fremden Sprache verständigen. Die gesamte Familie war ihnen nach Kräften behilflich, weil sie sahen, dass die jungen Leute intelligent und willig waren. „Ihr wolltet doch Großvater Björn besuchen“, ermahnte Mutter Annegret, "nehmt euch die Fahrräder, die im Gerätehaus stehen“. Am Wochenende nahmen sie die Räder aus dem Stall und radelten zu Großvater Björn. Der Alte bemerkte sie schon von weitem und lief ihnen freudig entgegen: „Ihr seid ja tatsächlich gekommen“, rief er noch ganz außer Atem, als er sie erreicht hatte. Der alte Herr hatte ein schönes rotes Holzhaus, nahe am See, und ein kleines Segelboot mit einer eigenen Anlegestelle. In den Sommermonaten liebte er es, auf den See hinaus zu fahren, zu fischen oder sich einfach von der Sonne braun brennen zu lassen. Er lebte allein, denn seine Frau war bei der Geburt von Annegret, seiner jüngsten Tochter an einem tückischen Fiber gestorben. Der diplomierte Lehrer lebte nun von seiner erworbenen Staatspension, die ihm einen bescheidenen Wohlstand sicherte. Wenn außergewöhnliche Anschaffungen anstanden, halfen schon mal Lars und Annegret Lindgreen, und seine anderen Kinder, aus. Seine große Leidenschaft, die Sagen und Märchenwelt Skandinaviens hatte etwas Mystisches an sich. Er konnte stundenlang mit großer Hingabe erzählen und mit gekonnter Mimik und Gestik seine Zuhörer begeistern. Thoralf und Söhren kannten und liebten seine Geschichten, besonders, wenn es draußen stürmte oder schneite, lieferten seine Erzählungen den richtigen Hintergrund. Die beiden Deutschen, des Schwedischen noch nicht mächtig, mussten immer wieder in englischer Sprache unbekannte Wörter und Redewendungen erfragen. Es war am Anfang ein mühsames Herantasten, doch sie kamen gut voran. Großvater Björn hatte versprochen, mit dem Boot auf den See hinaus zu fahren. Bei diesen ausgezeichneten Wetteraussichten, gab der alte Seebär volle Segel und das elegante Boot glitt schon bei einem lauen Lüftchen mit einer beachtlichen Geschwindigkeit über das Wasser. Hier, in der Mitte des Sees, hatte der braun gebrannte alte Herr eine kleine Insel, die er immer aufsuchte, um sich zu sonnen oder mit seinem leistungsstarken Teleskopfernrohr die Natur zu beobachten. Hier war er ungestört und hier konnte er, wenn er wollte, seine Kleidung vollständig ablegen, ohne dass ihn jemand in seiner Blöße störte. Björn hatte einen kleinen Picknickkorb mitgebracht und Mutter Annegret hatte den beiden Gästen für das Mittagsmahl Speisen und Getränke mitgegeben. Aus einer Tasche holte der Alte ein Buch hervor,