Uwe Siegfried Drogoin

Ich bin ein Berliner


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mir gegrüßt. Ich küsse Dich,

       Deine Mutter

      Als Harald zu Ende gelesen hatte und das Blatt Papier senkte, leuchteten dicke Tränen in seinen Augen. Was war das nur für ein Vaterland, in dem man sich wegen seiner Geburt oder seines Glaubens schämen musste. Er rannte, so wie er war, ins Freie, um seinem Schmerz freien Lauf zu lassen. Alle am Tisch ahnten, dass hier etwas Schlimmes passiert sein musste. Mutter Annegret ging ihm nach und nahm den jungen Mann in ihre Arme, drückte ihn an sich, wie das nur Mütter können., um ihn zu trösten, doch der Strom der Tränen war so leicht nicht zu stoppen. „Du wirst es in Deutschland schwer haben, wenn du zurück gehst“, meinte Vater Lars. „Wenn du möchtest, kannst du bei uns bleiben, solange du magst“, bot er ihm an. „Wir könnten auch in den Wintermonaten noch kräftige Hilfe brauchen“. Alfred schämte sich, dass er im Glück schwamm und sein bester Freund bis über die Ohren in Schwierigkeiten steckte. So fragte er besorgt, „hättet ihr etwas dagegen, wenn ich auch bleibe?“ Nun musste der Familienrat zusammenkommen, alle setzten sich in der guten Stube an einen Tisch und Vater Lars trug das Anliegen der beiden jungen Männer vor. Thoralf und Söhren, die sich mit den jungen Deutschen prächtig verstanden, waren sofort einverstanden und Mutter Annegret gab ihren Segen dazu. „Im Übrigen, wenn ihr unbedingt studieren wollt, sollten wir uns mal in Uppsala umsehen, dort haben wir eine berühmte Universität“ fügte Vater Lars hinzu.Uppsala, eine mittelgroße Stadt von etwa einhundertfünfzigtausend Einwohnern zwischen Falun und Stockholm, etwa achtzig Kilometer entfernt, empfing sie schon von weitem mit seinen leuchtend roten Dächern und den Spitzen des alles überragenden Doms. Vater Lars hatte sie mit seinem Volvo hingefahren. Unterwegs fiel dichter Regen. So pflegte sich hier der Herbst anzukündigen. Vater Lars setzte sie an der Uni ab, weil er noch andere Besorgungen machen musste und die beiden Deutschen gingen geradewegs zur Anmeldung. Das Hauptgebäude, ein schöner Bau aus der Gründerzeit, hatte etwas streng Ehrwürdiges an sich. Sie schritten die langgezogene Freitreppe hinauf und betraten eine reich geschmückte Vorhalle mit schönen Ornamenten an den Wänden, tragenden Rundbögen und reich verzierten Säulen. „Sieh dir das an“, bemerkte Alfred, sogar der Fußboden ist hier mit farbigen Mosaiksteinen, passend zu Wand- und Treppenornamenten ausgelegt“. Sie erkundigten sich bei einer Studentin nach dem Sekretariat und erhielten staunende Blicke und eine präzise Antwort, wie sie zu gehen hatten. An einer überdimensional großen Tür lasen sie das Wort „Sekretariat“ und klopften vorsichtig an. Von innen war keinerlei Reaktion zu spüren. Harald versuchte es noch einmal und jetzt hörbar lauter. Nun hörten sie von innen eine unverständliche Stimme, die sie als „Herein“ interpretierten. Alfred drückte die Klinke herunter, da öffnete sich die Tür von innen. „Heute ist kein Sprechtag, meine Herren“ eröffnete ihnen die Sekretärin, „Es ist auch keiner da, der mit ihnen sprechen könnte. Also was wollen sie“. Bei so viel Reserviertheit fand Harald zuerst die Sprache wieder: „Wir wollen hier studieren“. „Das wollen alle, die hier her kommen“, erwiderte die Dame, über ihre Brille blickend, „Ich gebe ihnen eine Übersicht über unsere Sprechzeiten mit, kommen sie wieder, wenn einer der Chefs anwesend ist. „Das wird sehr schwer werden, wir kommen aus Deutschland“, gab Alfred zurück. „Was ist denn da los“? Ein Herr, hoch in den fünfziger Jahren in einem abgeschabten Anzug und ausgebeulten Hosen, kam in leicht gebückter Haltung auf die Tür zu. Die Sekretärin berichtete ihm kurz vom Anliegen der beiden jungen Männer und dass sie Deutsche seien. „Na dann kommen sie schon mal herein“, brummte der Herr mit dem grauen Haar und den ausgelatschten Schuhen, „Wir gehen zum Dekan“. Der Dekan empfing sie mit finsteren Blicken, weil er nicht wollte, dass deutsche Studenten so ohne weiteres hier eingeschrieben werden konnten, das konnte auch politische Verwicklungen nach sich ziehen. Er machte zur Bedingung, dass beide zuerst auf Eignung geprüft werden müssten und ob sie voll der schwedischen Sprache in Wort und Schrift mächtig seien. Dann könnte man in Erwägung ziehen, ob eine Immatrikulation möglich sei. Ein Oberassistent wurde gerufen und der sollte die geeignete Prüfung vorbereiten, natürlich mit erschwerten Bedingungen. Als erstes hatten sie einen Aufsatz zu schreiben über ein selbst gewähltes Thema, einen englischen Text ins schwedische zu übersetzen und einige Textaufgaben in der Mathematik zu lösen. Da die Lehranstalt in Uppsala den Ruf einer Elite Universität hatte, konnten nur die Besten hier studieren, das hatte Ihnen Großvater Björn ans Herz gelegt. Als Übersetzung für Beide lag ein Text des englischen Dichters Byron vor. Alfred untersuchte in seinem Aufsatz die Bedeutung der Wickinger als germanischer Volksstamm für die Entwicklung Europas. Dieses Thema hatte er ausführlich mit Großvater Björn diskutiert und Harald untersuchte die Erfindung Alfred Nobels als Segen oder Fluch für die Menschheit je nachdem wie der Mensch das Dynamit zur Anwendung bringt. Die mathematischen Aufgaben waren aufgrund ihrer ausgezeichneten Berliner Schulbildung eine leichte Hürde und wurden von beiden fehlerfrei gelöst. Dank der ausgezeichneten Lehrer, Vater Lars und Großvater Björn, hatten sie recht gute Schwedisch – Kenntnisse und abgesehen von kleineren unbedeutenden Fehlern, legten beide die Aufnahmeprüfung mit Erfolg ab. Der Dekan war verblüfft über die spontanen Ergebnisse, hatte aber zugesagt, bei ordentlichem Abschneiden einer Immatrikulierung zu zustimmen. Als Vater Lars sie abholte, hatten beide ihre Aufnahmepapiere in der Tasche. „ Seht ihr, es wird alles gut werden“, meinte Vater Lars, als sie eingestiegen waren und ihre Unterlagen vorzeigen konnten. Sie hatten sich in den Studiengang Architektur einschreiben lassen und konnten schon in einer Woche hier anfangen.

      Der Studienbeginn

      Das neue Semester hatte zwar schon begonnen, da aber die diesjährige Beteiligung in diesem Fach unter den Erwartungen lag, hatte man ein Auge zugedrückt. Sie konnten ab sofort kostenlos im Internat wohnen. Alfreds Eltern waren in keiner Weise einverstanden mit der Entscheidung ihres Sohnes und forderten ihn auf, sofort nach Deutschland zurück zu kehren, weil der hoffnungsvolle Spross der Familie auch in die neue Zeit eingepasst werden sollte. Außerdem warnten sie Alfred vor dem Einfluss von Harald, dessen Vater verhaftet worden war. „Wer weiß, was der ausgefressen hatte“, mutmaßte Vater Nagel. „Meistens ist an schlimmen Gerüchten etwas dran“. Harald sei nicht der richtige Umgang für ihn. Alfred verschwieg den ungeheuerlichen Inhalt seines Briefes, um Harald nicht noch weiter zu verunsichern. Er war entschlossen seine Freundschaft nicht kaputt machen zu lassen. Herr Nagel hatte einen Posten in der Stadtverwaltung bekommen und wollte, dass sein Sohn die militärische Laufbahn einschlug. Der Briefwechsel von Vater und Sohn umfasste die ganze Palette der möglichen Beleidigungen und Anweisungen zurück zu kommen, doch Alfred verspürte keinerlei Lust in seiner unsicheren Heimat zu leben.Die Lindgreens hatten dafür Verständnis.Die Nachrichten hier in Schweden waren bei weitem nicht so einseitig gefärbt, wie in der Heimat und so konnte sich jeder logisch denkende Mensch ausrechnen, wohin dieses Wettrüsten in den nächsten Jahren führen würde. Hier hatte man eine unabhängige Sichtweise zu den Dingen. Die Regierung Schwedens hatte eindeutig erklärt, im Falle eines militärischen Konfliktes neutral zu bleiben. Zunächst war erst einmal ihr Studium wichtig und hinterher wollten sie weiter sehen. Für Alfred und Harald begannen somit relativ sorgenfreie Jahre. Im Internat waren sie mit noch zwei jungen Männern aus Stockholm untergebracht, die ihrer Entscheidung hier in Schweden zu bleiben, sehr viel Hochachtung entgegenbrachten. Der Studienbetrieb nahm sie nun voll in Anspruch, denn sie wollten sich von Anfang an ein solides Wissen aneignen. Gute Noten waren dabei das notwendige Abfallprodukt. Inzwischen wurden die Tage merklich kürzer und die Tagestemperaturen erreichten kaum noch zweistellige Werte. Die Laubfärbung fiel in diesem Jahr besonders schön aus und die beiden Mitteleuropäer genossen die unbekannte Farbenpracht in vollen Zügen. So oft es ihre Zeit zuließ, besuchten sie ihre Ersatzeltern in Falun und halfen nach Kräften in der Landwirtschaft. Als das Jahr sich schließlich dem Ende zu neigte, schien ganz Schweden in einer dicken Schneedecke zu versinken. Überall in den Fenstern sah man beleuchtete Figuren und wer nicht unbedingt ins Freie musste, blieb in den schützenden Wänden der Häuser. Alfred und Harald waren solche Schneemassen nicht gewöhnt und zu Anfang fanden sie es recht lustig, dass es jeden Tag schneite. Die Straßenlaternen hatten dicke weiße Bäckermützen auf und manches kleine Haus schien unter der weißen Pracht fast erdrückt zu werden. Die gebräuchlichsten Fortbewegungsmittel waren nun Schlitten und Schneeschuhe, denn in dem tiefen Schnee konnte man plötzlich versinken und das war in der Regel sehr unangenehm. Erst jetzt erkannten sie den Wert der Häuserfassaden mit ihren leuchtenden Farben, an denen