Uwe Siegfried Drogoin

Ich bin ein Berliner


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ist mir aber neu, ich habe bisher angenommen, die Nibelungen seien eine rein Deutsche Angelegenheit, mit dem Held Siegfried, mit dem Schwert Balmung, dem Drachentöter und Hagen, der Siegfried nach einem Wettlauf erstochen hatte, mit dem König Gunter und dem Hunnenkönig Ätzel“, scherzte Harald. Großvater Björn belehrte sie eines Besseren, die Nibelungen seien aus dem Norden gekommen und hatten sich bei Xanten am Rhein niedergelassen. Ein Norweger hatte im letzten Jahrhundert in mehreren Ländern nachgeforscht und die Heldensagen in der Edda aufgeschrieben. „Die Grundelemente der Drachentötung und die Wanderung der Nibelungen nach Süden kommen in den mündlichen Überlieferungen des irischen, schottischen und skandinavischen Sagenschatzes in geringen Abwandlungen vor“. Alfred erinnerte sich, dass sich der Begriff Nibelungen im Sprachgebrauch mehrmals geändert haben musste, im Urtext übersetzt hieß es da wohl „ Nieflungen, die aus dem Nebel kamen, oder die Söhne des Nieflung“, so genau war das inzwischen nicht mehr zu deuten. Am Nachmittag frischte der Wind auf und Wolken zogen heran. Harald bemerkte als erster, dass ihr Segelboot nicht mehr zu sehen war. Sie rannten zum Ufer, und richtig, das Boot schwamm schon mehr als einhundert Meter vom Ufer entfernt führerlos auf dem See. Der Großvater schaute die beiden jungen Männer erschrocken an, als wollte er sagen: „Was haben wir da wieder falsch gemacht“? Alfred und Harald stürzten sich, so wie sie augenblicklich waren, ins Wasser und schwammen dem Schifflein hinterher. Alfred erreichte als erster den Ausreißer und hielt die Leine fest. „Steig auf“, rief er Harald zu. Harald schwang sich an Deck und half Alfred, hinauf zu kommen. „Kannst du segeln“ fragte ihn besorgt Harald. „Warte, das kriegen wir schon hin“, meinte Alfred, wir werden erst einmal die Segel einholen, das hätte Großvater Björn schon bei der Landung machen müssen. Wir werden sonst vom Wind abgetrieben. In der Hitze der Unterhaltung hatte der Großvater, allen Sicherheitsvorschriften zum Trotz, die Segel gespannt gelassen und das Schiffstau nur notdürftig an einem Baum festgebunden. Mit den Paddeln, die sie im Schiffsrumpf fanden, arbeiteten sich die beiden mit viel Mühe gegen den Wind zum Anlegeplatz zurück. „Da bin ich aber froh, dass ich euch beiden mit dabei habe, sonst hätte ich heute größere Probleme bekommen“, rief der Großvater erleichtert aus. „Ich werde euch beiden noch das Segeln beibringen“, damit steuerte er das Boot gekonnt zurück zu seinem Bootshaus. Da der Tag ohnehin zur Neige ging, zündete er zu Hause im Kamin ein Feuer an und sie unterhielten sich bis spät in die Nacht hinein. Man merkte dem alten Lehrer an, dass er in seinem Leben viel gelesen haben musste und in seinem Berufe getreu, hatte er immer das Bedürfnis, Anderen sein Wissen weiter zu geben. Wie dieses Wochenende, sollten noch mehrere folgen und Großvater freute sich immer, wenn er aufmerksame Zuhörer hatte.Am Wochenende vor dem 24. Juni feierte ganz Schweden den Mittsommer. Es war seit alters her ein Fest des Lichtes und der Lebensfreude und auch die Lindgreens hatten sich auf diesen Höhepunkt des Jahres gefreut. Das Fest, eigentlich heidnischen Ursprungs, hatte sich auch die katholische Kirche zu Eigen gemacht und feierte mit einem festlichen Gottesdienst und einer heiligen Prozession. Am Anfang des Zuges ging der Geistliche der Faluner Kirche mit einem hölzernen Kreuz vor dem Festzug her, der an der Festwiese am Maibaum endete. Blumengeschmückte Mädchen schwenkten Papierfähnchen mit den schwedischen Farben, die jungen Männer zogen geschmückte Wagen hinter sich her. Auf der Festwiese spielten Musikanten alte schwedische Waisen und neben dem Maibaum hatte man aus Brettern eine große Tanzfläche aufgebaut, auf welcher junge Männer und Frauen in traditionellen Trachten zu tanzen begannen. Auch Alfred und Harald durften bei diesem Ereignis nicht fehlen. Vater Lars hatte ihnen bei der Auswahl der Kleidung aus seinen Beständen geholfen und so konnte man die beiden Deutschen von den schwedischen jungen Männern kaum unterscheiden. Mutter Annegret hatte sich einen Kranz aus frischen Blumen und Kräutern geflochten und mit Klemmen auf dem Kopf befestigt. Zum allgemeinen Verzehr hatte sie einem eigens für dieses Fest Fleisch, Gemüse, frische Kartoffeln, Obst, Erdbeeren und Schlagsahne mitgebracht und für die Allgemeinheit auf dem Tisch verteilt. Andere Familien hatten wieder andere Leckereien beigesteuert, so dass eine bunte Mischung zur allgemeinen Verköstigung bereit stand. Mutter Annegret ermunterte die beiden Deutschen: „Feiert mit und geht tanzen, es gibt genügend hübsche junge Mädchen, die nur darauf warten, dass ein junger Mann sie auffordert“. Unweit vom Maibaum wurde ein Wettlauf veranstaltet. Alfred und Harald erkundigten sich, welche Bedingungen anstanden und entschlossen sich mit zu machen. Die Strecke ging über Stock und Stein, zum Teil durch den Wald und zum Teil auf Feldwegen über sieben Kilometer. Es meldete sich ein bunter Haufen an Teilnehmern. Jeder wollte natürlich den Hauptpreis gewinnen: einen lebenden Fasan. Den Preis hatte die Stadtverwaltung von Falun gestiftet. Der Bürgermeister gab auch das Startzeichen mit einer Holzklatsche. Energisch knallten zwei Holzbretter aufeinander, so dass ein scharfer Knall entstand, was so viel hieß wie: „Jetzt könnt ihr los laufen“. Die Gruppe Läufer setzte sich in Bewegung und drängelte sich auf den schmalen Weg voran. Es gab ein Gerangel und Geknuffe, denn jeder wollte den Anderen ausstechen oder außer Gefecht setzen. Bei etwa drei Kilometern hatte sich schon eine achtköpfige Spitzengruppe abgesetzt zu der auch Alfred und Harald gehörten. Von den Zuschauern angefeuert, liefen die Athleten so gut sie konnten. Wer nicht mehr laufen konnte, versuchte die Anderen daran zu hindern, indem er seine Konkurrenten festhielt oder zu Fall brachte. Alfred hatte mit solch einen unliebsamen Mitkämpfer zu ringen. Der hielt Alfred an der Hose fest und wollte nicht mehr los lassen. Harald bemerkte den Störenfried und schlug dem Gegner seines Freundes mit einem Stock auf die Finger, so dass dieser vor Schmerz aufschrie und von Alfred abließ. Die Gelegenheit nutzte ein junger Schwede, überholte freudig die kämpfenden Drei und gewann schließlich das Rennen. Alle lachten bei dem Gedanken, Alfred hätte ohne Hose weiter laufen sollen. So hatten alle ihren Spaß. Am Abend gab es einen schönen Fackelzug der Kinder. Die Erwachsenen tanzten nach den modernsten Schlagern oder ließen sich das Bier schmecken. Mutter Annegret wandte sich an Alfred und Harald mit der Bitte ihr zu helfen. Vater Lars, zu viel Alkohol getrunken, hatte Schwierigkeiten den Heimweg zu finden. Die Beiden nahmen den betrunkenen Mann in die Mitte und gemeinsam ging es nach Hause. So verlebten alle in diesem Jahr eine schöne Zeit und als der Sommer zur Neige gehen wollte, fragte sie Vater Lars über ihre Pläne aus: „Ich bin euch für die erwiesene Hilfe sehr dankbar und freue mich über eure Anwesenheit, doch langsam wird es Zeit an die kalte Jahreszeit zu denken. Wie soll es weiter gehen“? „Ich will in diesem Jahr noch pausieren“, meinte Alfred nachdenklich, „und im nächsten ein Studium beginnen. Ich habe es nicht eilig, weil meine Eltern mir auch so ein angenehmes Leben sichern können“. Nur Harald dachte mit Bangen an die Rückkehr, denn sie hörten aus der Ferne in der Frage der zunehmenden Judenverfolgung nichts Gutes. Am 29. August kam dann ein langer Brief von Haralds Mutter. Mutter Annegret übergab ihn nach dem Abendessen.

       Berlin, der 26. August 1936

       Mein geliebter Harald,

       vielen Dank für Deinen letzten Brief von Anfang September.Ich freue mich, dass es Euch gut geht und dass Du so gut mit der schwedischen Sprache zurechtkommst.Heute muss ich Dir eine traurige Mitteilung machen. Die Nazis haben gestern Vater abgeholt. Ihre Begründung: „das deutsche Volk ist vom jüdischen Einfluss zu säubern“. Sie beschimpften mich, wie ich es mit solch einem Judenschwein ausgehalten habe und drohten mir mit Konsequenzen, wenn ich gerichtlich gegen diese Maßnahmen vorgehen wollte. Zum Abschied schrien sie mir ins Ohr „ Es lebe Adolf Hitler, unser geliebter Führer“. Harald, ich hatte nackte Angst und Vater hat bitter geweint. Er wollte sich melden, wenn er wüsste, wohin er interniert würde. Es hieß, dass alle jüdischen Bürger in Lagern untergebracht werden und dass sie zu Zwangsarbeit verpflichtet werden. Zu allem Übel bin ich auch heute noch in der Firma entlassen worden.Die Begründung: ich würde jüdischem Einfluss unterliegen und die Vertrauensbasis zur Firma wäre damit gestört. Den Laden, Vaters ganzen Stolz, werde ich aufgeben müssen. Nun lieber Harald, ich will Dir nicht die Ohren voll jammern. Der liebe Herrgott hat Dir sicher ein Zeichen gegeben, so dass Du wenigstens im Ausland in Sicherheit bist. Wenn ich keine Arbeit mehr habe, werde ich die schöne Wohnung hier in Tempelhof nicht mehr halten können. Ich habe vor, zu den Großeltern nach Potsdam zu ziehen. Dort am Rande von Berlin ist die Hysterie vielleicht noch nicht so groß. Ich werde trotzdem versuchen Vater zu besuchen, so oft ich kann. Wir haben so viele schöne Jahre miteinander verlebt und ich kann ihn doch jetzt, da er meine Hilfe braucht, nicht einfach im Stich lassen. Hier werden auf uns alle schwere Zeiten zukommen.Wenn du zurückkommst, sei vorsichtig mit Deiner Wortwahl. Du kannst in diesen Zeiten ganz schnell in Schwierigkeiten kommen,