Uwe Siegfried Drogoin

Ich bin ein Berliner


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konnten sie schließlich weiter fahren. Harald besänftigte seinen Freund: „Wenn weiter nichts passiert, als solch eine kleine Panne, dann können wir noch ganz zufrieden sein“. Die nächste Übernachtung war in Västervik vorgesehen, eines der ältesten Städte Schwedens mit den liebevoll erhaltenen alten Häusern, die sich in Vorbereitung des langen Winters aneinander zu schmiegen schienen und kaum etwas Raum für den modernen Durchgangsverkehr boten. Am vierten Tag nach der Überfahrt erreichten sie Stockholm. Harald hatte einiges über Stockholm gehört und gelesen und Alfred hatte eigene Erlebnisse vergangener Jahre geschildert. „Nun wollen wir das Flair dieser schönen, weltoffenen Stadt auf uns einwirken lassen“, schwärmte Alfred. „In seiner wechselvollen Geschichte hat sich diese Stadt zur Metropole einer europäischen Großmacht entwickelt. Die verbliebenen alten militärischen Einrichtungen haben etwas vom Hauch einstiger Größe Schwedens über die Zeiten gerettet“. Die Stadt schien auf unzähligen Inseln erbaut zu sein, überall sah man Boote und gut gelaunte Menschen. Bis zu ihrem Zielort Falun waren es nur noch etwas mehr als zweihundert Kilometer, doch die Hauptstadt Schwedens mit den Fjorden und Schären, mit seiner Geschichte und seiner Bewohner hatte so viel Neues und Wissenswertes zu bieten, dass ihnen die Zeit davonlief. Schließlich wollten sie noch weiter in das Landesinnere und waren verabredet mit der Familie Lindgreen. Alfred ging zur nächsten Post und telegraphierte den Bekannten in Falun:

       26.06.1935

       Liebe Familie Lindgreen,

       auf unserer Anreise nach Falun haben wir heute Stockholm erreicht. Wir werden uns Eure Hauptstadt ansehen und am Morgen des dritten Tages weiter fahren. Wenn alles so planmäßig läuft, wie bisher, werden wir in vier Tagen gegen Abend bei Euch sein.Viele Grüße auch von meinem Freund Harald

       Euer Alfred

      In einer Jugendherberge am Stadtrand schlüpften sie in ordentliche Straßenkleidung und erkundeten ohne Gepäck die Großstadt. In der Nähe des Schlosses herrschte ein besonders geschäftiges Treiben. Sie erlebten die Ablösung der Wache am Königspalast. Eine militärische Einheit junger Männer mit traditionellen Pickelhauben kam anmarschiert, nahm Aufstellung und löste eine andere Einheit ab, die ihren Dienst beendet hatte. Laut krachend wurden die Gewehre präsentiert und die Ablösung erfolgte zackig im Stechschritt. Man hatte den Eindruck, dass diese Leute eine Menge von den Preußen gelernt hatten. Später unternahmen die beiden Deutschen eine Stadtrundfahrt per Pferdekutsche. Gegen Abend besuchten sie das Schloss Gripsholm, das der deutsche Schriftsteller Kurt Tucholsky in einer amüsanten Liebeskomödie von 1931 zum Hauptschauplatz gemacht hatte. Tucholsky hatte seit 1929 ständig in dieser Gegend gewohnt, weil er wegen seiner jüdischen Herkunft und seines Glaubens in Deutschland verfolgt wurde. Harald umschlich wieder dieses bange Gefühl, denn auch er wurde in seiner Heimat benachteiligt. „Wir kaufen uns einige englische und schwedische Zeitungen“, meinte Harald, als sie an einem Zeitungsstand vorbei kamen. Sie setzten sich auf eine nahe gelegene Bank und bekamen zu lesen, dass man die Weltpolitik hier, in dem neutralen Schweden völlig anders beurteilte, als in den deutschen Medien. Was sie hier erfuhren, war so erfrischend anders als gewohnt und nicht durch übertriebene, wie in Deutschland übliche, Hetze vergiftet. Hier konnte man es sich leisten die Wahrheit zu schreiben, in Deutschland war alles in den Dienst der Nazipropaganda gestellt worden. Anderslautende Meinungen wurden brutal unterdrück oder bekamen erst gar keine Plattform. Die Regierung um Hitler wurde durch einen schwedischen Abgeordneten als unfähig und gefährlich dargestellt, besonders heikel empfand er das Verbot demokratischer Parteien, die Verfolgung der Opposition und die massive Juden- und Christenverfolgung. So deutlich hat das in der Heimat niemand zu denken, geschweige auszusprechen gewagt. „Hättest du geahnt, dass die Leute hier die deutsche Politik so ganz anders sehen, als wir, in unserer Heimat“, lächelt Alfred seinen Freund an. Er war diesen Abstand aus seinen vorjährigen Aufenthalten mit seinen Eltern gewohnt. „Am Anfang siehst du dich noch verschämt um, wenn du die Zeitung liest, doch allmählich gewöhnst du dich an diesen Zustand, dass hier keiner von dir Notiz nimmt, was du auch tust oder liest“. Mit ihren Englischkenntnissen kamen sie ganz gut voran, doch es wäre schöner gewesen, wenn sie sich in der hiesigen Landessprache hätten verständigen können. Am nächsten Tage, sie unternahmen einen Besuch im Hafen, lief ein deutsches Segelschiff ein. Das wäre in normalen Zeiten nichts Besonderes, doch heute kamen viele Leute zum Empfang, es musste eine bekannte Persönlichkeit sein. Bei näherer Befragung erfuhren sie von der besonderen Bewandtnis. Ein reicher Kaufmann jüdischen Glaubens aus Lübeck hatte mit seiner gesamten Familie das Land verlassen, um die schwedische Regierung um Asyl zu ersuchen. Harald und Alfred sprachen mit dem Familienoberhaupt und erfuhren Dinge, die ihnen fast die Luft nahmen, so schlimm erschienen sie ihnen. Die Polizei hatte vor, das gesamte Vermögen zu beschlagnahmen und die komplette Familie in ein Lager zu schicken. Harald lief es kalt den Rücken herunter, denn auch er hatte wegen seiner Herkunft so viel Ungerechtigkeit erfahren müssen. Alfred hatte seine liebe Not die Bedenken Haralds zu zerstreuen: “Hier bist du sicher, hier passieren solche schrecklichen Dinge nicht“. Dabei wusste er, wie in Deutschland mit Andersdenkenden und Menschen jüdischen Glaubens umgesprungen wird. Doch jeder hatte die vage Hoffnung: im eigenen Falle würde es vielleicht nicht so schlimm ausfallen. Die Nazis konnten ja nicht alle Juden, Christen, Kommunisten und Andersdenkende vernichten, dazu waren es doch zu viele. Stockholm, eine Stadt bestehend aus Tausenden von Inseln, entschädigte die beiden Besucher dann doch noch für diese trüben Gedanken mit einer wunderschönen Natur, mit einem sehenswerten Hafen und liebenswerten, gastfreundlichen Menschen. Die Nähe zum Polarkreis spürte man hier noch deutlicher, indem die Sonne auch während tiefer Nacht nicht vollständig hinter dem Horizont verschwinden wollte. Milde Temperaturen und die aufgeschlossenen Atmosphäreverführten die Touristen zu langen Abenden im Hafenviertel. Mit diesen Eindrücken aus Stockholm beladen, gingen die Beiden die letzte Etappe bis Falun an. Die Natur wurde allmählich anders, als im geordneten Mitteleuropa, wo jeder Zentimeter landwirtschaftlich genutzt wurde. „Hier ist die Natur noch ursprünglich, bizarr und voller Überraschungen“, kommentierte Alfred seinem Nebenmann. Auf den letzten Kilometern kamen sie an einem herrlichen See vorbei: „Kommst du mit ins Wasser? Ich kenne hier eine schöne Badestelle“, rief Alfred und bog schon von der Straße ab. Nach einer kurzen Abkühlung, bei der sie nackt ins Wasser sprangen, waren sie schon wieder in den Sätteln. Sie hatten sich mit ihren Gastgebern zeitlich fest verabredet, man konnte ja später noch einmal Ausflüge hier her unternehmen. Etwa dreißig Minuten, nachdem sie die Stadt Borlänge hinter sich gelassen hatten, tauchten vor ihnen die alten Bergbauanlagen von Falun auf. „In Falun wurde ab dem elften Jahrhundert Kupfer abgebaut und als Abfallprodukt der Kupfergewinnung gewann man den schönen roten Farbstoff zur Färbung und Konservierung der Holzhäuser für ganz Skandinavien“, wusste Alfred zu berichten. „Der Winter ist hier lang und die Natur schläft dann unter einer dichten Schneedecke. Dann verlangt das menschliche Auge nach Farben in dem weißen Einerlei und so hat man sich damit geholfen, dass man den Häusern eine leuchtende Farbe gibt, meistens ein knalliges Rot oder ein sattes Grün“. Für Harald erhob sich die bange Frage: „Wie werden uns die fremden Leute aufnehmen und ob sie Anstoß an seiner Abstammung nehmen“? Alfred beruhigte seinen Freund: „Die Lindgreens sind die besten Gastgeber, die ich kenne und ich glaube nicht, dass sie sich für deine Herkunft interessieren“. Sie radelten durch die mittelgroße Stadt mit etwa fünfzigtausend Einwohnern hindurch, vorbei an dem riesigen Loch des eingestürzten Bergwerkes und hielten sich nach Nordosten. Hier berührte die Stadtgrenze von Falun das beliebteste Ausflugs- und Erholungsziel der Schweden, die Dalarna.

      Ferien auf dem Land

      Die Lindgreens hatten sich komplett vor dem Haus versammelt und erwarteten die Gäste mit großem Hallo und den Worten, „Herzlich willkommen, fühlt euch bei uns wie zu Hause“ und das war ehrlich gemeint. Das Empfangskomitee Lars und Annegret Lindgreen, Großvater Björn und die Söhne Thoralf und Söhren warteten vor der Haustür auf die beiden Deutschen. Lars und Annegret waren schon viele Jahre mit Alfreds Eltern befreundet und schon mehrmals mit großem Interesse in Berlin zu Gast gewesen. Dagegen liebte Alfreds Vater Schwedens unendliche Weiten. Als leidenschaftlicher Jäger faszinierte ihn die unberührte Natur und nahezu ein Dutzend Trophäen in Nagels guter Stube zeugten von seinem Jagdglück. Falun, am Rande der für die Schweden beliebten Region