Anna Sydney

Verfluchte Freiheit


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sein, dass jemand an ihnen gearbeitet hatte. Hazel schüttelte probeweise eine Decke auf und das gesamte Zimmer verschwand in einer Staubwolke.

      „Valentin, wir können hier nicht bleiben! Diese Zimmer wurden jahrelang nicht gereinigt, es ist zu staubig hier!“, klagte sie. Sie war den Tränen nahe. Durch die niedrige Decke konnte der Staub, der sich über Jahre hinweg angesammelt hatte, nicht einmal weichen.

      Valentin hustete, dann öffnete er ein Fenster.

      „Wenn hier mal richtig gelüftet wird, ist es schon viel besser! Es ist wirklich schön hier, einfach und herrlich! Du hast doch Bettwäsche dabei. Die ziehen wir einfach darüber, und dann geht das schon. Du wirst sehen, wie gut es uns hier gefallen wird. Am Ende willst du gar nicht mehr weg von hier!“

      „Das glaube ich eher weniger“, meinte Hazel, während ihr Blick durch das Zimmer schweifte. Sie öffnete einen Koffer, doch schloss ihn gleich wieder. Sie hatte das Gefühl, der Staub würde sofort in ihrem Koffer verschwinden und sich in ihrer Wäsche einnisten.

      „Ich überziehe die Betten später. Zuerst werde ich putzen.“

      Sie ging hinunter in die Küche zu Oswald und seinem Vater. Hazel erkundigte sich nach Putzsachen. Oswald reichte ihr einen Besen, eine Schaufel und einen alten Lappen. Hazel sah die Sachen an.

      „Das ist alles?“

      „Ja, das ist doch ausreichend“, erwiderte Oswald.

      Skeptisch ging sie nach oben. „Victoria, bleib bei deinem Vater! Ich werde das Zimmer oben etwas herrichten.“ Sie wollte nicht, dass die Kleine sich in dem Staub aufhielt. Während Hazel putzte, überlegte sie verzweifelt, wie sie hier wegkamen, ohne unhöflich zu wirken. Das Haus war schön, aber in den letzten hundert Jahren war hier nichts modernisiert worden, außer Küche und Bad, die Räume mit den Nasszellen.

      Sie sah zum Fenster hinaus. Es musste die Ostseite sein. Sie liebte es, wenn ein Schlafzimmer nach Osten ging. So konnte man am Morgen sehen, wie die Sonne aufging. Ein berauschender Anblick. Die Berge waren sehr steil, noch bewaldet.

      Sie schleuderte die Betten hinaus, und ein Staubwall kam ihr entgegen. So viel Staub konnte man unmöglich in kurzer Zeit entfernen, dachte sie. Sie ließ die Betten auf dem Fensterbrett liegen und sah sich noch einmal die Gegend an. Sie seufzte und überlegte, wie sie hier etwas Ordnung hinbekäme. Noch einmal sah sie sich kritisch im Zimmer um, bevor sie schließlich unter Husten die Dielen abkehrte. Freudlos bezog sie danach die Matratzen. Die Zudecken legte sie auf das Bett und überzog sie mit der mitgebrachten Bettwäsche. Sie kippte das Fenster an, damit nicht so viele Mücken hereinkamen. Als sie an dem schweren Vorhang zog, kam ihr erneut eine Staubwolke entgegen. Hazel musste husten und dachte: Hier wäre man Wochen beschäftigt, alles ins Reine zu bringen. Ein Dampfstrahler würde gute Dienste leisten! Sie sah sich um. Ein Staubsauger wäre auch nicht schlecht. Sie bezweifelte jedoch, dass es hier einen gab. Sie atmete tief, schloss den Koffer sorgfältig und ging hinunter.

      Valentin und Oswald waren vertieft in ein Gespräch. Es ging um den Wald, die Kühe und die Jagd. Oswalds Vater unterhielt sich selbst und hatte sichtlich Spaß an der einseitigen Unterhaltung, und Victoria hatte ein paar Bücher ausgepackt, sich auf die Terrasse gesetzt und las „Die kleine Raupe Nimmersatt“. Versunken in ihre Lektüre, saß sie im Schaukelstuhl; ihre kurzen Beine baumelten in der Luft.

      In der ersten Nacht konnte Hazel nicht gut schlafen. Kurz vor fünf krähte der Hahn. Die Geräusche waren anders als in der Stadt. Sie lebten am Stadtrand, aber das war kein Vergleich zu Südtirol, am Ende der Welt. Die Vögel sangen und zwitscherten wie in einem Konzert.

      Als sie um halb sieben aufstand, schliefen noch alle, bis auf Oswald, der im Kuhstall schon die Kühe gemolken hatte. Er musste in der Herrgottsfrühe aufgestanden sein. Punkt sieben fuhr ein großer Lastwagen vor, der die Milch abholte. Sie zog sich an und sah in den Spiegel. Dann ging sie langsam die Treppen hinunter ins Bad und machte sich frisch.

      Oswald bereitete das Frühstück zu und bot ihr ein Glas frische, noch warme Milch an. Sie trank die Milch fast in einem Zug. Oswald erklärte ihr, dass er von der Milchproduktion und vom Verkauf der Bäume aus seinem Wald lebte. Er wurde nicht reich damit, doch es reichte zum Leben. Er und sein Vater seien nicht anspruchsvoll. Das hatte sie schon bemerkt.

      Sie warteten auf der Terrasse, bis Victoria und Valentin herunterkamen. Eine getigerte Katze strich Hazel um die Beine. Der schwarze Münsterländer lag gemütlich in der Ecke und schlief.

      Nach einem reichhaltigen Frühstück zeigte Oswald ihnen den Garten und den angrenzenden großen Wald, der ihm gehörte. Ein leichter Nebel hing über den Baumspitzen. Er erklärte, dass es manchmal schwierig sei, die Bäume zu transportieren, denn ein großes Stück Wald lag hoch oben in den Bergen; man konnte das Holz von dort nur etappenweise und mit großem Aufwand herunterbringen.

      Victoria entdeckte eine Schaukel, von der sie begeistert war: An vier langen Ketten hing eine starke, dicke Baumrinde. Sie musste von einem sehr alten Baum abstammen. Überwältigt streckte sie ihrem Dad die Arme entgegen. Automatisch hob er sie auf die Schaukel, zog sich an der Kette empor und reichte Hazel die Hand. Sie ließ sich von ihm hinaufziehen. Sogar für Oswald wäre noch Platz gewesen, doch er weigerte sich. Er lachte zufrieden und sah der Familie beim Schaukeln zu.

      Von nun an, wenn sie Victoria suchten, lag, stand oder saß sie auf der ungewöhnlichen Schaukel. Allein hatte sie nicht die Kraft, sie kräftig zu bewegen, aber ein wenig Schwingen reichte ihr völlig aus. Einmal schlief sie über dem Schaukeln ein. Sie hielt noch das Buch in der Hand und sah glücklich und friedlich aus. Schlafende Kinder waren so ziemlich das Schönste, was Hazel je gesehen hatte. Die Zufriedenheit und Sicherheit, die sie ausstrahlten, war grenzenlos.

      Sie musste zugeben: Die Gegend war traumhaft. Doch das Haus war alles andere als komfortabel. Die Toiletten waren im Garten: zwei Plumpsklos. Jedes wurde ein halbes Jahr benutzt, dann sollte es austrocknen, und in dieser Zeit wurde das andere gebraucht. Victoria hatte so etwas noch nicht gesehen und traute sich nicht, allein zur Toilette zu gehen – vor allem abends nicht, wenn es dunkel war. Es war nicht mit elektrischem Licht ausgestattet, sondern eine Petroleumlampe hing davor.

      Zwei Tage verbrachten sie nun schon bei Oswald. Rehe, Eichhörnchen, Schmetterlinge, Libellen, Hasen und einen Fuchs hatten sie im Wald getroffen. Hazel gewöhnte sich langsam an das einfache Leben. Auch Victoria lebte sich ein; vor allem die Tiere im Wald und die verspielte Katze bekamen ihre ungeteilte Aufmerksamkeit. Es gefiel ihr, dem Hund Befehle zu erteilen, und er gehorchte ihr aufs Wort und verfolgte sie auf Schritt und Tritt. Schnell wurden sie Freunde.

      Der Nachmittag war heiß gewesen, doch nun spürten sie eine wohltuende Brise. Hazel und Victoria erfreuten sich an ein paar Eichhörnchen, die damit beschäftigt waren, Haselnüsse einzugraben. Eines war schwarz, das andere braun. Sie waren stets gemeinsam unterwegs und den ganzen Tag damit beschäftigt, Haselnüsse und Eicheln zu verstecken.

      Auch viele Maulwurfhügel waren im Garten, und Hazel wünschte, sie würden einmal einen Maulwurf zu Gesicht bekommen. schließlich hatte Victoria noch nie die Gelegenheit dazu gehabt.

      Oswald verabschiedete sich. Er wollte mit ein paar Kollegen zur Jagd gehen. Er trug eine grüne Kniebundhose, eine grüne Jacke, einen Hut und ein Gewehr über der Schultern. Ein schwarzes Fernglas hing um seinen Hals.

      Valentin wartete mit Spielkarten auf der Terrasse. Victoria freute sich, ihr Lieblingsspiel Uno zu spielen. Schnell holte sie den neuen Kartenmischer, den sie zum Geburtstag geschenkt bekommen hatte. Sie mischte gerade die Karten, als plötzlich die Tür aufgerissen wurde und Oswalds Vater mit einer Schrotflinte herauskam.

      „Was sucht ihr hier, ihr Verbrecher? Ihr Diebe, wollt ihr mich beklauen?“

      Valentin sprach leise und beschwichtigend auf ihn ein: „Wir sind zu Besuch hier. Wir sind doch Freunde von Oswald. Legen Sie das Gewehr hin, guter Mann.“

      Doch der alte Mann hatte Angst. Zitternd hielt er ihnen das Gewehr vor die Nase. „Haut ab, oder ich schieße euch eine Kugel durch den Kopf, ihr Einbrecher!“, schrie er argwöhnisch, während er das Gewehr durchlud.

      Sie hoben ihre