Anna Sydney

Verfluchte Freiheit


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„Haut ab und lasst euch nie wieder hier blicken, ihr Diebesgesindel, ihr unrechtschaffende Leut! Haut endlich ab!“

      Mit erhobenen Händen gingen sie langsam die Terrassentreppe hinunter um das Haus herum, Victoria zuerst, gefolgt von Hazel und Valentin. Der Alte verfolgte sie nicht. Man hörte ihn immer noch schreien: „Haut endlich ab, ihr Gesindel, ihr Nichtsnutze, ihr Landstreicher!“

      Wahrscheinlich hatte er schon wieder vergessen, dass er schießen wollte. Mit zittrigen Händen nahm Valentin den Autoschlüssel aus der Hosentasche; er fiel ihm vor Aufregung zu Boden. Vorsichtig bückte er sich, um ihn aufzuheben und sah dabei zurück zu dem alten Mann. Ein paar Schüsse fielen, doch er schoss nicht in ihre Richtung und traf nicht. Schnell öffnete er die Autotüren und warf den Motor an. Kaum saßen sie alle im Auto, fuhr er mit quietschenden Reifen davon.

      Die Hotelsuche gestaltete sich schwierig. Sie waren zur Hochsaison unterwegs, es war schon spät, und sie hatten nicht gebucht. Nach zwei Stunden fanden sie ein Zimmer in einem Nobelhotel. Hazel legte sich in die Badewanne und war froh, endlich ein richtiges Zimmer zu haben. Natürlich fehlten ihr ihre Kleider und ihre Kosmetikartikel. Doch sie erwogen nicht einmal, nach oben zu gehen und ihre Koffer zu holen. Oswalds Vater war eine tickende Zeitbombe. Sie waren sich nicht sicher, ob er nicht doch schießen und vor allem, ob er treffen würde. Vermutlich war er einmal ein guter Jäger gewesen. Trotzdem war Hazel fast froh über diesen Vorfall, da sie sich endlich wieder in zivilisierter Umgebung befand. Victoria fragte immer noch: „Wenn uns der Opa findet, erschießt er uns dann?“

      Valentin erklärte ruhig: „Der Opa ist krank. Er weiß gar nicht was er da tut. Er wird uns nicht verfolgen, er bleibt dort im Haus, bei Oswald.“

      Victoria schlief in der Mitte des Bettes. Die Familie schlief gut, die Matratzen waren hart und alles war porentief rein. Genauso, wie Hazel es im Urlaub erwartete.

      Unmittelbar nach einem reichhaltigen Hotelfrühstück besuchten sie Oswald. Er wunderte sich, warum sie so unerwartet weggegangen waren. Als sie ihm den Vorfall schilderten, war er sichtlich bedrückt.

      „Wenn ich das geahnt hätte, wäre ich nicht auf die Jagd gegangen! Mein Vater vergisst viel und kann sich auch nicht mehr daran erinnern, was gestern geschehen ist. Er hat Alzheimer. Er wusste nicht einmal mehr, dass wir Besuch hatten. Ihr könnt gern wieder hier einziehen. Keine Angst, ich werde euch nicht mehr mit ihm alleine lassen!“

      Hazel sträubte sich. „Nein, vielen Dank. Aber ich ziehe das Hotel vor.“

      Oswald bedauerte den Vorfall und entschuldigte sich. Sie blieben noch zwei Wochen im Hotel, dann fuhr Hazel mit Victoria mit dem Zug nach Hause.

      Valentin aber zog wieder zu Oswald. Er half ihm im Wald und seinen Nachbarn in der Autowerkstatt. Er fühlte sich wohl bei Oswald: die anregenden Gespräche, seine Ansichten über Politik, über Literatur und über das allgemeine Weltgeschehen. Aus einer Woche wurden die gesamten Schulferien, die er bei Oswald verbrachte.

      Als Valentin zurückkam, war er wie ausgewechselt. Nicht nur äußerlich, auch sein Verhalten hatte sich geändert. Alles Moderne war ihm nun zu technisch. Das Landleben, erklärte er, sei viel gehaltvoller als das Stadtleben, und unsere materielle Welt sei nicht mehr menschengerecht beziehungsweise artgerecht, wie er sich ausdrückte. Er legte keinen Wert mehr auf sein Äußeres und wurde von Tag zu Tag missmutiger.

      Victorias Einschulung verlief stilvoll. Valentin hatte sich einen ganzen Tag freigenommen, um mit seiner Familie diesen Tag zu verbringen. Hazel hatte eine große Schultüte gebastelt und gut gefüllt. Victoria fragte gleich am Morgen: „Was passiert, wenn ich nicht jeden Tag in die Schule will? Kann ich dann schwänzen, wie im Kindergarten?“

      „Nein, mein Schatz, die Schule ist Pflicht, da darf man nicht wegbleiben, sonst holt die Polizei dich und bringt dich zur Schule!“, antwortete Valentin belustigt.

      „Das ist ja cool! Können wir das gleich heute machen? Ich wollte schon immer mal mit dem Polizeiauto fahren!“, freute sich Victoria.

      „Nein, mein Schatz, was werden denn die Nachbarn und deine Schulkameraden denken, wenn du mit dem Polizeiauto zur Schule kommst? Dazu noch am Einschulungstag!“

      Victoria lachte. „Na, die werden sich ärgern, dass sie nicht selber auf die Idee gekommen sind!“

      „Das mag sein“, entgegnete er schmunzelnd.

      Nach dem Gottesdienst und der kurzen Einführung in die Klasse gingen sie in ein Restaurant. Valentins Eltern, Hazels Mutter, Oma Augusta und der Taufpate Victor mit seiner Freundin Sarah, Freunde und Nachbarn waren anwesend. Danach lud Hazel noch alle zum Kaffee bei ihnen Zuhause ein, und sie verbrachten einen schönen Tag. Victoria ging gern zur Schule und knüpfte schnell neue Freundschaften. Vor allem Lesen und Sport machten ihr Spaß.

      Schweigend betrachtete Valentin Hazel. Sie saß am Schreibtisch und tippte auf der Tastatur ihres Laptops herum. Valentin brauchte ein paar Minuten, um seine Augen an die Dunkelheit zu gewöhnen. Sie blickte auf. Ihre Blicke trafen sich, und sie sahen sich schweigend an.

      Valentin blieb stehen und blickte auf Hazel herab. Sie hatte sich nicht gerührt, saß reglos da und blickte Valentin an. Er ging einen Schritt auf sie zu und begrüßte sie mit einem Kuss auf ihre Lippen. Er spürte plötzlich das Bedürfnis, ihr etwas Beruhigendes zu sagen, ihr zu sagen, dass er hierbleiben würde, hier, bei seiner Familie. Dass alles wieder gut werden würde. Doch stattdessen begann er wieder mit seinem Lieblingsthema.

      „Liebes, lass uns alles hier verkaufen oder noch besser verschenken und irgendwohin gehen. Irgendwohin, wo das Leben noch lebenswert ist. Wo es nicht nur um Geld geht, um Ruhm, Ansehen und Macht“, sagte er in besänftigenden Ton.

      Hazel blieb angespannt sitzen und strich sich eine Strähne aus dem Gesicht. „Ich muss dir sagen, ich habe tatsächlich einen Augenblick darüber nachgedacht.“ Sie stand auf und lehnte sich an den Schreibtisch. Er hörte die aufkeimende Hoffnung in ihrer Stimme, doch als er ihr in die Augen sah, verschwand sie augenblicklich.

      „Immer wieder habe ich mir ein Leben, wie du es dir wünschst, vor meinen Augen abgespielt. Habe mir vorgestellt, was ist, wenn es mir nicht gefällt, wenn ich zurück will? Wie würde Victoria sich entscheiden? Valentin, ich will so ein Leben nicht führen, und noch weniger mit Victoria. Ihretwegen bin ich nicht bereit nur das geringste Risiko einzugehen. Wenn du das wirklich willst, musst du ohne uns gehen. Wir sind nicht bereit dafür.“ Sie dachte einen Augenblick nach, dann fuhr sie fort.

      „Nicht wie die Dinge sind, ist entscheidend, sondern wie wir sie sehen. Und wie wir handeln. Die Gesellschaft und der Staat haben nun einmal verschiedene Schichten geschaffen, in denen die Menschen in unterschiedlichen Stufen leben. Manch einer genießt Vergünstigungen und Annehmlichkeiten, andere kommen leider nie in diese Genüsse, so sehr sie es auch erstreben. Das kann man nicht ändern, und man kann nicht davor weglaufen. Valentin, ich verstehe deine Beweggründe. Ich liebe dich. Aber ich kann dich nicht begleiten. Auch nicht wegen Victoria. Was täte ich ihr damit an? Ich würde sie in eine völlig ungewisse Zukunft schicken, ohne Absicherung, ohne Perspektive. Abgesehen davon: Wo geht es nicht um Geld, Prestige und Macht? Überall regieren Geld, Macht und Ansehen, überall, schon immer! Und es wird immer so bleiben, Valentin! Von was träumst du? Was willst du beweisen? Vielleicht könnte ich weggehen, wenn ich keine Tochter hätte. Ich weiß es nicht. Aber, Valentin, ich habe für sie die Verantwortung, und das nehme ich ernst. Victoria ist gerade eingeschult worden. Sie fühlt sich wohl. Wie könnte ich sie aus dieser neugewonnen Umgebung wieder herausreißen? Sie hat neue Freundschaften geschlossen. Ich verstehe dich nicht mehr. Du bist physisch hier, aber doch kann ich dich nicht erreichen. Valentin, wo bist du?“

      Erschöpft ließ sie sich auf dem Schreibtischstuhl nieder, ließ keinen Raum für irgendetwas anderes Valentin wartete einen Moment, ob Hazel noch weitersprach. Doch da kam nichts mehr. Hazel saß in sich versunken auf dem Stuhl, der leicht knackste. Er lehnte sich direkt vor ihr an den Schreibtisch. Sie roch sein herbes Duschgel.

      „Überall gibt es gute Schulen. Victoria ist ein umgängliches Mädchen, das schnell neue Freundschaften schließt. Es wäre kein Nachteil für