Anna Sydney

Verfluchte Freiheit


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entgehen. Sie würde nur profitieren, glaub mir! Ich will auch nur das Beste für unsere Tochter. Und für dich. Denk darüber nach!“, bat er sie mit Nachdruck und sah ihr in die Augen.

      Ein paar Tage sprachen sie nicht mehr über Valentins Pläne und Empfindungen. Hazel glaubte zu fühlen, dass sie einen Punkt erreicht hatten, wo er zu zweifeln begann, wo er sich in der Familie wieder wohlzufühlen schien. Sie schwebte über der Oberfläche des Unausgesprochenen. Ihre eigene Furcht und seine Pläne für das ungewisse Leben kehrte sie unter den Teppich.

      Valentin nahm sich Zeit für Victoria und Hazel. Es war ein warmer goldener Herbst. Die Familie unternahm viel gemeinsam. Sie gingen im Wald spazieren, Valentin und Victoria zogen die Schuhe aus und liefen über Moos und Laub. Sie beobachteten die Natur und die Tiere. Sie radelten am Main entlang, wo sich farbenprächtige Bäume im Wasser spiegelten. Freudestrahlend fütterte Victoria Enten und Schwäne, und Hazel und Valentin saßen auf einer Bank und beobachteten sie.

      Enten lagen am Wegrand, einige auf der Suche nach Fressen. Stillschweigend saßen Valentin und Hazel auf der Bank und sahen ihrer Tochter beim Entenfüttern zu. Manche lagen faul am Wegrand, andere watschelten herum, und wieder andere fraßen. Gelegentlich stritten sie um ein Stück Brot oder kämpften mit Rivalen. Schwäne verließen das Wasser. Ihr Gefieder war reinweiß; an Land sahen sie wegen ihrer kurzen Beine schwerfällig aus, im Wasser aber glitten sie stolz und graziös dahin.

      „Die Tiere sind wie Menschen. Einige liegen auf der faulen Haut, manche fressen den lieben langen Tag, und die übrigen sind aggressiv und angriffslustig und nehmen den anderen das Futter weg. Einige streiten sich um die Aufmerksamkeit der Damen, wenn es sein muss, bis aufs Blut. Der behinderte Schwan da drüben hat gelernt, mit seiner Behinderung umzugehen. Er wird jedoch von den anderen Schwänen gemieden.“

      Eine Wolke kleiner Insekten schwirrte hinweg über ihre Köpfe. Hazel drehte sich zu Valentin; die Nachmittagssonne verlieh seinem Haar einen kupferfarbenen Glanz. Sein Gesichtsausdruck war so glücklich, dass sie ihn unwillkürlich weiter ansah. Noch immer hatte sie ein stechendes, kribbelndes Gefühl in der Magengegend, wenn sie in seiner Nähe war. Er strich sich mit einer Hand durchs Haar, und sie bewunderte sein ausdrucksvolles Gesicht. Sehnsucht, Leidenschaft und heißes Verlangen stiegen in ihr empor. Sie spürte, wie ihre Wangen sich röteten und konzentrierte sich wieder auf das Wasser, in dem sich die Schwäne spiegelten. Ein Motorboot fuhr vorbei, Wellen umspülten das Ufer. Anmutig schwammen die Schwäne auf den Wellen. Sie zog ihre Augenbraue hoch, strich ihre langen Haare hinters Ohr und nickte.

      „Ja, das Verhalten der Tiere ist ähnlich wie das der Menschen. An den Bäumen habe ich auch ein ähnliches Verhaltensmuster bemerkt. Ich war früher oft mit meinem Opa im Wald, er war Jäger. Wir fütterten das Wild und beobachteten die Bäume. Manche ergaben sich dem Schicksal, dass sie abgeschlagen wurden, andere wuchsen wieder. Bei manchen konntest du eine Art Harz entdecken, um ihre Wunde zu schützen. Wenn ein größerer Ast abgeschlagen wird, kannst du einen Baum richtig weinen sehen. Opa konnte die Bäume weinen hören. Er sagte immer: Hör genau hin, dann kannst du es hören, wie die Bäume weinen! Vermutlich hörte ich nicht gut genug oder nicht genau. Ich war gern mit Opa im Wald, wir erforschten die Einzigartigkeit der Bäume. Jeder Baum hat seine eigenen Gene, genau wie der Mensch, er redete gerne und viel. Das gefiel mir.“

      Valentin lehnte sich zurück. „Du hast mir nie von deinem Opa erzählt.“

      „Nein? Mag sein. Vielleicht hast du mich nie danach gefragt.“

      Victoria riss sie aus ihrem Gespräch. „Habt ihr noch Brot? Die wollen noch mehr, sie haben Hunger!“

      „Nein, leider nicht. Wir kommen morgen wieder, mit frischem Brot“, munterte Valentin sie auf.

      Sie kletterten auf Bäume, gingen in den Freizeitpark und kauften kleine Häschen für Victoria, denen sie ein Holzhäuschen zimmerten. Hazel sah ihnen zu, als sie gemeinsam werkelten und einen Auslauf für die Häschen bauten. Gemeinsam bauten sie ein Baumhaus in die große Linde im Garten; man konnte es nur mit einem Seil erklimmen.

      Hazel war glücklich. Sie meinte, so könnte die Zeit für immer stehen bleiben. Deshalb war sie überrascht, als Valentin abermals zu Oswald nach Tirol fuhr.

      Als er nach ein paar Wochen zurückkam, sah er anders aus. Sie konnte es eindeutig in seinen grünen Augen lesen, sah diesen unerschütterlichen Blick. Seine Augen hatten einen völlig anderen Ausdruck. Sie konnte es nicht beschreiben, aber es war da, dieses Gefühl, wieder spürte sie es deutlich, diesen Drang nach Freiheit und Abenteuer. Sie waren sich nah und doch fremd. Eine Distanz, die sich zwischen sie gezogen hatte, wie ein Graben zwischen einem Felsspalt. Verstörende Gefühle erwachten in ihr. Sie spürte, er war entschlossen, sein Leben zu ändern, mit oder ohne Familie. Auch wenn er es nicht aussprach. Wieder stand sie vor dem unüberbrückbaren Abgrund.

      Sie musste feststellen, dass er gut aussah. Sein attraktives Gesicht war von der Arbeit im Freien braungebrannt. Unter seinem engen T-Shirt zeichneten sich seine Muskeln deutlich ab, und seine Hände wiesen Schwielen auf. Das Landleben hatte ungeahnte Kräfte in ihm freigesetzt. Er sah sexy aus, und Hazel wurde wieder bewusst, wie sehr sie diesen Mann liebte. Sie konnte den Gedanken nicht fassen, ihn zu verlieren. Noch nie hatte sie einen Mann so geliebt wie ihn. Er war der Vater ihrer Tochter, ihr Traummann, noch immer. Warum hatte er sich nur so verändert? Jahreszeiten verändern sich, aber Menschen? Konnte ein Mensch so von seinen Gewohnheiten abweichen? Wie konnte sie die Hindernisse wegräumen, die ihrem Glück im Wege standen?

      Sie suchte seine Nähe, legte ihren Kopf an seine Schulter, und er nahm sie in den Arm. Sie wünschte, wieder ein Teil von ihm zu sein. Sie wollte sich nicht in fernen Ländern verlieren. Ihr lag die Frage auf den Lippen, was dann aus ihrer Familie werden sollte. Schon der Gedanke daran machte sie traurig, fast verrückt. Sie kannte die Antwort jedoch schon und wollte sie nicht hören. Nicht von ihm. Früher hatte sie seinen brennenden Ehrgeiz geliebt, den Willen, etwas durchzusetzen. Nun erschrak sie über diese Bestimmtheit und diesen Freiheitsdrang, den er über alles setzte. Wie hatte sich alles nur so ändern können? Irgendwie, irgendwann hatten sich die Blockaden in ihre Ehe geschlichen, ohne es zu bemerken. Nichts war mehr, wie es vorher gewesen war.

      Der Winter wurde kalt. Es war die Ruhe vor dem Sturm. Valentin war ruhig, besonnen. Sie verbrachten den Winter mit Wintersport. Valentin stellte Victor in der Kanzlei ein. In den Weihnachtsferien gingen sie zum Skifahren.

      Hazel beobachtete Valentin und Victoria beim Skifahren. Kein Berg war ihnen zu hoch, keine Strecke zu weit. Victoria liebte Schneeballschlachten, Skifahren und lange Schlittenfahrten. Hazel war zufrieden in dieser Welt, doch sie wusste, dass dieses Glück nicht anhalten würde. Seit einer Weile hatte sie diese Ahnung. Es war nicht nur der kalte Schnee, den sie spürte, auch zwischen ihnen beiden wurde es frostig. Kälte sickerte von Tag zu Tag herein und breitete sich aus wie die Wellen eines Steines, den man in einen See wirft, nein, wie ein Krebsgeschwür. Valentin bereitete alles vor, um einen neuen Weg einzuschlagen. Einen Weg, auf dem sie ihm nicht folgen konnte. Ein stiller Anfang von vielen Jahren. Sie war wütend, weil sie nicht darauf vorbereitet war. Weil sie diese Veränderung nicht akzeptierte und keinen Einfluss auf seine Entscheidung hatte. Genauso wenig wie sie das Wetter hätte ändern können oder die Bewegungen der Wolken. Umso erschreckender war der Gedanke, dass sie ihn nicht wieder zur Besinnung bringen konnte. Sie versuchte diese Machtlosigkeit abzustreifen, aber sie blieb an ihr kleben wie Harz am Baumstamm. Wie konnte man einen Mann abhalten von seinem Weg? Wie sollte sie ihn zu seinem Glück zwingen? Zu ihrer beider Glück?

      Der Himmel hatte sich zugezogen. Eine weiße Wolkenschicht drückte auf die Stadt. Aus dem Winterschlaf blinzelten nicht nur die Tiere in die wärmenden Tage, auch zarte Knospen streckten ihre Fühler aus. Hier und da sah man erste Frühlingsblüher, Schneeglöckchen, Krokusse. Das Frühjahr bäumte sich auf mit seiner prächtig sprießenden Natur, und auch Valentin hatte neue Energie getankt. Willensstark und entschlossen bat er sie, mit ihm zu kommen. Wenn du mich liebst, dann folgst du mir überall hin, sagte er.

      Hazels eigener Herzschlag dröhnte ihr in den Ohren. Unzählige Gedanken wirbelten wie wild durcheinander, doch keiner von ihnen ließ sich fassen. Sie sah Valentin mit weitaufgerissenen Augen an. Ihr Blick war starr auf ihn gerichtet.