Anne Wunderlich

Zwiespalt


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ausgesprochenen Töne einfach nicht wahrnehmen. Dies war nur meine persönliche und ironisch gemeinte „Stimmlagen-Theorie“, die ab und an zum Tragen kam. Wir zogen uns und die Kinder an, verabschiedeten uns höflich und mit einer herzlichen Umarmung. „Bis bald“, riefen sie uns winkend in der Haustür stehend zu, als wir alle angeschnallt im Auto saßen und ich gerade die Beifahrertür schließen wollte. „Auf jeden Fall bis ganz bald und vielen Dank für alles!“, erwiderte ich und ließ die Tür zufallen. Florian startete den Motor und als wir die Einfahrt hinaus zur Straße fuhren, sah ich sie durch die Heckscheibe immer noch stehen und winken. „Das war wirklich ein schöner Nachmittag“, schwärmte ich. Florian hackte nach. „Trotzdem?“ „Ja, trotzdem“, erwiderte ich entschlossen. „Im Übrigen müssen wir uns, wenn die Kinder im Bett sind, noch einmal in Ruhe unterhalten.“ Florian legte seine rechte Hand auf meinen Schoß, lächelte mich an und sagte „Das machen wir.“ Eine Nachfrage bezüglich des Themas war überflüssig. Er wusste genau, was ich meinte.

      So kam es dann auch. Kurz nach zwanzig Uhr kehrte im Hause Jakobi Ruhe ein. Die Kinder schlummerten und wir machten es uns auf dem Sofa gemütlich. Die Flimmerkiste lief als Hintergrundgeräusch- und Bild, das Augenmerk galt jedoch uns und dem Finden beziehungsweise Untermalen des Entschlusses. Im Schnellverfahren durchkauten wir ein letztes Mal alle Für- und Widerpunkte und werteten den heutigen Nachmittag aus.

      „Das mag ja alles sein, das war auch von Anfang an mein Gedanke, aber …“ Ich stockte für einen Moment, atmete tief durch und zupfte nervös an dem Zipfel der Sofadecke. „… ach, ich weiß auch nicht. Ich stelle mir immer wieder die Frage, warum jetzt und warum so? Vor einigen Jahren hätten wir und diesen Umstand gewünscht. Nie wären wir auf den Gedanken gekommen, das Baby abzutreiben. Und jetzt haben wir das Glück und werfen es einfach so weg. Hast du gesehen, wie Karina am Boden zerstört war und das im wahrsten Sinne?! Selbst jetzt noch nach den Jahren!“ Alleine bei dem Gedanken daran, übermannte mich eine gehörige Portion Traurigkeit, gepaart mit Unentschlossenheit, was von Florian nicht unbemerkt blieb. Fest nahm er meine Hand in Seine. Dann sah er mir tief in die Augen und meinte „Ich weiß Conny, aber bedenke alles andere. Zum jetzigen Zeitpunkt und mit allen Gegebenheiten ist es das einzig Vernünftige und Richtige und tief im Inneren deines Herzens weißt du das auch.“

      Genau das war das Problem. Tief in meinem Herzen versteckten sich Muttergefühle, die versuchten, immer mehr zum Vorschein zu kommen. Natürlich war es die einzig vernünftige Variante, abgesehen von der wohnlichen Begrenzung, das Aufgeben der erst kürzlich gewonnen Freizeit und der ruhigen Nächte, des vermutlichen Verlustes meines Berufes und des erneuten Auftretens des Dauerstresses mit dann insgesamt vier Kindern, malte ich mir dennoch eine Zukunft als sechsköpfige Familie immer und immer wieder aus.

      „Sei doch vernünftig. Du musst bedenken, dass wir den langen und steinigen Weg gegangen sind, um überhaupt unsere Kinder zu bekommen. Sie sind gesund und entwickeln sich prächtig. Wir wissen nicht, ob wir mit diesem Baby auch so viel Glück haben.“

      Es spielte keine Rolle, welche Argumente Florian vorbrachte und wie pessimistisch er sie beäugte, sie alle stimmten mich nicht entschlossener, sondern trauriger. Dennoch waren sie alle vernünftig und das wusste ich auch. Eine zwiespältige Entscheidung und eine Komplizierte zugleich.

      „Wir wissen jetzt, dass du auf natürlichem Wege schwanger werden kannst und wenn die Jungs größer sind und du in deinem Job gefestigt bist, können wir immer noch ein Baby machen.“ So makaber dies klingen mag, dennoch eine realistische Einschätzung und Tatsache, die ich akzeptieren musste. Ein Lichtblick am Horizont und doch nur ein schwacher Trost.

      Tag 4

      Montag. Der Tag des Anrufes bei der Frauenärztin, der das Schicksal des Ungeborenen besiegeln sollte, die Weichen stellte und alle entsprechenden Konsequenzen zur Folge hatte.

      Gleich nachdem ich Simon, Valentin und Adrian in die Kindertagesstätte gebracht hatte, nahm ich mir die Zeit, auf dem Weg zur Arbeit mein Auto in einer kleinen Seitenstraße zu parken, um das entscheidende Telefonat zu führen. Nervös war ich und aufgeregt, jedoch euphorisch mit einem festen Ziel vor Augen. Einen letzten prüfenden Blick in den Rückspiegel, ob die Frisur sitzt und die Schminke nicht verwischt war. Fast so, als hätte ich eine Verabredung oder einen wichtigen Termin wie ein Bewerbungsgespräch, bei welchem mein Äußeres perfekt aussehen sollte. Beim Betrachten meines Spiegelbildes stellte ich mir selbst die Frage, ob ich die Entscheidung tatsächlich fällen will und diese ruhigen Gewissens tragen könne. Das Erlebte vom Wochenende kramte ich aus meinem Gedächtnis und redete dies mir so lange schön, bis ich mir selbst ein klares „Ja“ laut und deutlich zurief und kramte in der Handtasche, die auf dem Beifahrersitz stand, nach meinem Handy. Nur gut, dass mich niemand sehen, geschweige denn hören konnte. Passanten hätten mich, eine sich selbst anschreiende Frau, für wirr und verrückt gehalten.

      Nun hielt ich also den kleinen schwarzen Kasten vor mir und öffnete das Anrufprotokoll, aus dessen ich die Telefonnummer der Frauenarztpraxis aufrief und anwählte. Es versuchte, eine Verbindung aufzubauen und ich wartete vergebens auf das Freizeichen. Nach einer gefühlten Ewigkeit und tatsächlichen zwanzig Sekunden blickte ich auf das Handy. Die Verbindung war abgebrochen, kein Empfang. „Na klasse“, dachte ich. Gestern wäre ich noch ins Grübeln gekommen, ob dies ein schlechtes Omen sei, doch heute verschwendete ich keinerlei Zweifel an Schicksal, Zufall oder ähnlichen. Entschlossen probierte ich es erneut und plötzlich ertönte das Freizeichen, gefolgt von der netten Stimme der Sprechstundenhelferin. „Guten Morgen, die Frauenarztpraxis Frau Doktor Funke. Sie sprechen mit Schwester Hilde. Was kann ich für Sie tun?“

      „Guten Morgen, hier spricht Frau Jakobi. Ich war bereits am Freitag bei Ihnen zur Untersuchung und habe mit Frau Doktor Funke vereinbart, mich zu melden.“

      „Ach ja, ich weiß Bescheid Frau Jakobi“, fiel sie mir ins Wort. Nun zögerte ich einen Augenblick. Wenn sie und die Ärztin es wussten, wer trug noch Kenntnis von meinem Zustand oder noch besser gefragt, warum wusste die Schwester so genau Bescheid? Ich hoffte, sie entnahm die Informationen meiner Patientenkurve oder sollte ich etwa Freitag nach Feierabend Gesprächsstoff der Praxis gewesen sein? Insgeheim wünschte ich mir die erste Variante herbei und wartete auf einen weiteren Satz der Sprechstundenhilfe.

      „Haben Sie eine Entscheidung getroffen?“

      Ich nickte und wartete weiter.

      „Frau Jakobi?“, fragte Hilde nach, „sind Sie noch dran?“

      „Äh… Entschuldigung“. Ich vergaß, dass sie meine Kopfbewegung nicht sehen konnte und gestand mir selbst ein, gerade ein wenig durch den Wind zu sein. „Ja, wir haben uns entschieden. Gegen das Kind.“

      Schwester Hilde wiederholte meinen Satz „Gegen das Kind“ und fuhr im gleichen Atemzug fort. „Ich stelle Ihnen die Überweisung für das Krankenhaus aus, die Sie sich abholen können.“

      Jetzt unterbrach ich sie und hackte nach. „Kann ich dann gleich vorbeikommen? In zehn Minuten?“

      „Ja, das passt. Die Praxis ist geöffnet. Kommen Sie einfach zu unserem Anmeldetresen.“

      „Okay, so machen wir es. Bis gleich und vielen Dank“, verabschiedete ich mich von ihr, verstaute mein Handy wieder in der Tasche und startete das Auto. Was ich gleich erledigen konnte, hatte ich erledigt sowie hinter mich gebracht und ließ mir selbst keine Chance zu, mich doch noch von meinem Vorhaben umstimmen zu lassen.

      Tag 4 - Praxis

      Vor der Praxis parkte ich ein, holte tief Luft, stieg aus dem Auto aus und lief gezielt zur Eingangstür. Kaum hatte ich diese geöffnet, erblickte mich auch schon Schwester Hilde. Sie begrüßte mich noch einmal persönlich.

      „Benötigen Sie noch etwas von mir?“, fragte ich beim Herantreten an den Tresen.

      Sie schüttelte den Kopf und meinte „Nein. Falls Sie noch Fragen haben oder sich doch noch um entscheiden, können Sie sich jeder Zeit bei uns melden“, sagte sie und reichte mir zeitgleich den gelben Überweisungsschein. Meine Lippen fest aufeinandergepresst, tief ausatmend und langsam nickend packte ich den Schein vorsichtig mit gesenktem