Anne Wunderlich

Zwiespalt


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hatte schon immer das Talent, eine Frage und zugleich einen Beschluss in einem Satz zu formulieren. Noch bevor Florian antworten konnte, stand Matthias bereits am Kühlschrank und öffnete diesen, um zwei Flaschen herauszunehmen. „Ihr Frauen trinkt ein Glas Sekt?!“ Ich sah Karina an. Sie nickte und diesmal zögerte ich nicht so lange, wie gestern bei Luis. „Gerne“, antwortete ich und unser Freund stellte die entsprechenden Kaltgetränke und Gläser bereit. Wir stießen zusammen mit den Worten „Schön, dass wir uns mal wiedersehen. Prost“ an und die Gläser klangen wie liebliche Glocken.

      Nach dem ersten Schluck war sie wieder da, meine Übelkeit. Der Kuchen, der Kaffee und nun der Sekt schlugen mir ganz schön auf den Magen und ich kämpfte mit dem Würgereiz. Dieses Gefühl, wenn die verschlungene Speise nun sauer die Speiseröhre wieder hochwandern möchte, musste ich während des Erzählens versuchen zu unterdrücken und zu verdrängen. „Nichts anmerken lassen, Conny!“. Sie durften keinen Verdacht schöpfen. Florian und ich konnten den beiden auf keinen Fall erzählen, dass ich schwanger bin und wir das Kind nicht wollen. Nicht den beiden. Was würden sie von uns denken und halten, wenn wir ihnen offenbaren, dass wir eine Abtreibung planen? Wie würde es den beiden damit ergehen? Nicht auszumalen!

      So, wie ich Karina kannte, wusste ich, sie würde in Erinnerung an Emil sofort in Tränen ausbrechen und mir wütend einen Vortrag halten, wie ich nur solch eine Entscheidung treffen könne. Als Mutter. Als Frau. Als Mensch. Sie hätten uns voller Trauer gesagt, wie sie damals alles dafür getan und aufgegeben hätten, um das Leben von Emil zu retten, selbst ihr eigenes Leben. „Wie könnt ihr nur!“ oder „Habt ihr überhaupt ein Gewissen?!“, solche oder ähnliche Äußerungen hätten sie garantiert, trotz unserer Freundschaft, uns an den Kopf geworfen und wutentbrannt uns des Hauses verwiesen. Selbstverständlich völlig nachvollziehbar und nicht einmal böse zu nehmen. Darauf oder auf eine vergleichbare Situation wollte ich es einfach nicht ankommen lassen.

      Leider konnte ich nicht einfach aufstehen und rasch die Örtlichkeiten des Hauses besuchen. Das ging nicht. Ich musste mich so verhalten, als sei alles normal und mir der Sekt gut schmeckt. Das funktionierte offenbar, denn kaum hatte ich mir das Glas hineingequält, wurde auch schon nachgeschenkt. Ein „nein, ich möchte nicht“ war nicht akzeptabel. Mir blieb lediglich die Hoffnung, durch die Kinder so in Besitz genommen zu werden oder Zeit durch die versprochene und noch offene Hausbesichtigung zu schinden, dass ich unangetastet das Glas stehen lassen konnte.

      Das Schicksal meinte es gut mit mir und Letzteres trat ein. Matthias erhob sich von seinem Platz. „Komm, ich führe euch herum.“ Neugierig und ganz gespannt folgten wir seiner Einladung. Wir begannen mit dem Rundgang im Obergeschoss. Am besten gefiel mir das Badezimmer. Eine Eckbadewanne genau unter dem Dachfenster. Das konnte ich mir gemütlich und romantisch vorstellen. In der Wanne liegend, dem Regen zuhören, der auf das Fenster plätschert oder bei klarer Nacht die Sterne aus dem warmen Nass beobachten oder im Winter die kleinen Schneekristalle beobachten, wie sie sich auf der Scheibe niederlassen. Dazu erklingt leise Musik aus dem Radio und die eine oder andere Kerze ziert das Bad mit ihrem Schein. Das könnte mir gut gefallen.

      „Du wirst es nicht glauben, das habe ich bis jetzt nur einmal geschafft“, erwiderte Karina, als ich laut dachte. „Dafür brauche ich Ruhe und Zeit, was beides bislang sehr begrenzt war. Außerdem schmerzt ab und an der Blick in die Sterne.“ Sie senkte den Kopf und lenkte ab. „Duschen geht deutlich schneller.“ Das zuerst Gesprochene ausgeblendet, konnte ich ihr nicht widersprechen, aber man darf ja wohl noch träumen dürfen. Mit einer Badewanne war zwar unser Bad ebenfalls ausgestattet, aber bei einer Wohnung im Erdgeschoss gestaltete es sich mit Sterne beobachten schwierig.

      Es gab viele schöne und liebevolle Details im Haus, was sie beim Bau haben mit einfließen lassen und nach ihren Vorstellungen und Wünschen entstehen ließen, auch bei der Einrichtung. Alles war in sich stimmig und geschmackvoll. Zum Schluss zeigte mir Karina und auch nur mir, auf dem Sims des Kachelofens eine in Anführungsstrichen „kleine Gedenkecke“. Diese war nur vom Sofa aus sichtbar, nicht vom Essbereich, in welchem sich unsere Ehemänner an der langen Tafel niederließen.

      Ein weißer Bilderrahmen, der das Abbild von Emil zeigte, daneben eine kleine Vase mit getrockneten rotweißen Röschen und einen herzförmigen hellgrauen Stein mit der Aufschrift „Emil - Für immer in unseren Herzen“ sowie das eingravierte Geburts- und Sterbedatum, zwischen welchen nicht einmal vier Wochen lagen. Ich stand neben Karina, Seite an Seite und starrte auf den Sims. Es war so, als würde ein Schalter umgelegt werden und in meinem Kopf ein Film ablaufen. Ich blendete die Anwesenheit von meiner Freundin aus, wie auch alles andere um mich herum. Bei dem Anblick des Bildes sah ich nicht Emil, sondern das Ultraschallbild meines Ungeborenen, so wie ich es am Freitag auf dem Monitor der Frauenärztin sah. Ich erschrak. Ein eiskalter Schauer lief mir den Rücken hinunter und ich spürte, wie meine Lippe anfing zu vibrieren. Ich wurde traurig, kurz vorm Weinen. Mein Herz schlug schnell. Bis auf die Worte „Für immer in unseren Herzen“ verschwamm der Schriftzug auf dem Stein vor meinen Augen. Ich fühlte mich so, als stände ich vor unserer eigenen Gedenkstätte. Ich presste meine Lippen fest aufeinander und plusterte meine Nasenlöcher auf. Ich konnte das nicht. Ich konnte einfach nicht mehr hinsehen. Es ergriff mich so sehr. Schnell wandte ich meinen Blick zu Karina. Ihre Augen schimmerten gläsern und in dem Moment wischte sie sich ganz unauffällig eine Träne aus dem Gesicht. Keine einzige Sekunde zögerte ich und nahm sie in den Arm. Stillschweigend. Mitleidend. Ich versuchte ihr Trost zu spenden und mein Mitgefühl zu zeigen. Ein Hauch von Egoismus versprühte meine Handlung, denn so wurde ich selbst getröstet. Unfair meiner Freundin gegenüber, ich weiß. Ich konnte einfach nicht anders. Das brauchten sie und ich auch. Fest hielt ich sie und spürte, wie sie leicht zitterte. Dann vernahm ich ein leises Schluchzen, welches zu einem Weinen überging. Es traf mich so sehr, ihre persönlichen Erinnerungen an Emil zu sehen, ihren Schmerz zu spüren und sie so verletzt und verzweifelt zu erleben, dass ich ebenfalls nicht mehr innehalten konnte und mir ebenfalls die Tränen nur so die Wangen hinunterliefen. Was war nur los mit mir? Unsere Entscheidung stand zu neunundneunzig Prozent und heute Abend definitiv, warum berührte mich ihr Schicksal so sehr? Weil es ein kleines Stück weit Unserem ähnelte! Zumindest der Verlust des Kindes. Bislang konnte ich der ganzen Misere sicher und relativ gefühlsneutral gegenüberstehen und abwägen, aber Karina so zu sehen und ihr Leid zu spüren, das traf mich im Herzen und da ich sie bereits viele Jahre kannte und wir uns vom Charakter sehr ähnelten, wusste ich, dass es mich spätestens nach der Durchführung der Abtreibung genauso umreißen würde. Wie schafften es die Beiden? Was mussten sie durchgemacht haben? Konnte ich diesen Schmerz, der nicht annähernd an dem der beiden herankam, durchhalten und verkraften? Macht dieser einen anderen Menschen aus mir? Einen Deprimierten, Verbitterten, Frustrieten und konnte ich durch mein Umfeld so viel Ablenkung finden, dass mich einst der Schmerz nicht berühren wird? Letzteres kaum vorstellbar. Nicht für mich als Person und schon gar nicht als Mutter. Was war ich nur für ein Mensch, der sich freiwillig gegen das größte Wunder auf der Welt entschied? Ich konnte nicht einmal sagen, meine Handlung sei vernünftig. Weder aus Überzeugung, noch von ganzem Herzen. Matthias hatte unser beider Kummer bemerkt und kam mit zwei Taschentücher in der Hand auf uns zu, welche er uns reichte. „Ist alles in Ordnung?“, fragte Matthias besorgt. Ich denke, eine Antwort war an diesem Ort des Hauses und bei dem Anblick unserer Umarmung überflüssig und dennoch säuselten wir Tränen überflutet zeitgleich „aber ja“ vor uns hin und mussten im gleichen Atemzug lachen. Wir lösten uns und wischten mit dem weißen Zellstoffviereck unsere salzigen Wassertropfen weg. Gut, dass es wasserfeste Wimpernmascaras gibt, sonst hätten unsere Gesichter denen aus einem Gruselfilms geähnelt. Rote und geschwollene Augen und zu guter Letzt schwarze Striche verlaufend von den Augen bis hin zum Kinn. Einen Schönheitspreis konnten wir so nicht gewinnen. Da Karina nicht wusste, warum diese Situation mich so mitnahm, entschuldigte ich mich bei ihr, bevor Fragen aufkamen. „Es tut mir leid. Es ist nur so, wenn ich dich so sehe …“ Bevor ich ausreden konnte, fiel sie mir jedoch ins Wort und bat mich für ihren Gefühlsausbruch um Verzeihung. „Es gibt Tage, da betrachte ich stundenlang das Bild von meinem kleinen Engel und dann gibt es wieder Tage, da, naja, dann holen mich die Erinnerungen ein und dann reißt es mich richtig herum, so wie gerade eben“, stammelte sie vor sich hin. „Weißt Du Conny, es war die schlimmste Zeit in meinem Leben und so froh wie ich bin, dass ich diese überstanden habe, kann und will ich sie nicht vergessen. Diese Verzweiflung gehört zu mir, zu uns, genauso wie Emil