Anne Wunderlich

Zwiespalt


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anderes sagte. Tief in meinem Inneren wurde eine andere Meinung laut. War es vielleicht doch ein Fehler, gestern bei der Frauenärztin auf den Bildschirm geblickt zu haben und das kleine Wesen in mir zu sehen? Froh war ich, dass ich das ausgedruckte Ultraschallbild mir habe nicht mitgeben lassen. So konnte ich meine Gefühle relativ gut im Zaum halten, wenn ich das in meiner jetzigen Verfassung überhaupt so bezeichnen kann, und trug unsere in Anführungszeichen „Kopfentscheidung“ mit. Ich sah Florian an, sah in seine grünen Augen. „Ich hoffe, du verurteilst mich nicht beziehungsweise hasst mich nicht dafür. Immerhin töte ich ein kleines Lebewesen, einen Teil von dir und von mir. Unser gemeinsames Kind“, merkte ich wehmütig an. „Komm her“, sagte Florian und nahm mich fest in den Arm. Das war genau das, was ich in diesem Moment brauchte. Aufgefangen, getröstet und festgehalten zu werden. Plötzlich brach tiefe Traurigkeit über mich ein. Ich fing zu schluchzen und dann bitterlich zu weinen an. Ich realisierte die Neuigkeit von gestern und die damit verbundenen Konsequenzen und was ich mit der gefallenen Entscheidung uns allen, aber vor allem dem Baby antuen werde. Ich hasste mich selbst dafür, dass ich als Mutter mich nicht über das Kleine freuen konnte, stattdessen mir als erster Gedanke in den Sinn kam, es wegmachen zu lassen und nach wie vor die Entscheidung stand. Bislang konnte ich mir nichts Schlimmeres vorstellen, als wenn einen meiner Söhne etwas Folgenschweres zustößt oder gar sterben würde und nun entschied ich mich bewusst gegen ein Kind, welches noch nicht einmal die Chance hatte, zu leben. Was war ich nur für ein Mensch? Ich hasste mich bereits jetzt schon so sehr dafür, machte mir mehr Vorwürfe, als einfach auf die Vernunft zu hören. Der Heulanfall war daher kein Wunder. Konnte ich eine Abtreibung tatsächlich vornehmen lassen? Irgendwie hoffte ich auf eine Umstimmung meines Gegenübers. Halt! Mein Unterbewusstsein arbeitete erneut gegen mich oder nur gegen mein schlechtes Gewissen, welches in mir erwachte? So oder so konnte ich momentan keinen klaren Gedanken mehr fassen und versank stattdessen in Wehmut, Trauer und Ärger.

      Tag 2 - Mein Weinanfall … Mein Weinanfall blieb von unseren Kindern nicht unbemerkt. Sie eilten aus Adrians Kinderzimmer in die Stube und traten an das Sofa heran. Aufgereiht standen sie vor uns und legten mitfühlend ihre kleinen Hände auf meinen Rücken und Beine und fragten „Ist Mama traurig?“ oder „Was ist denn mit Mama? Hat sie ein Aua?“ oder „Warum weint Mama?“. Ein letztes Mal geschluchzt, dann löste ich mich aus der Umarmung meines Mannes, wischte mir die Tränen mit dem Handrücken weg und nahm das von Florian gereichte Taschentuch, um mir die Nase zu putzen. Ich sah zu meinen Kindern auf und bemerkte selbst, dass ich das erste Mal, seitdem sie auf der Welt waren, ihnen nicht direkt in die Augen sehen konnte. Dieser Zwiespalt, zum einen meine Kinder zu lieben und zum anderen eins nichts zu wollen. Ein Widerspruch in sich, wie ich fand. In jenem Moment appellierte mein Verantwortungsbewusstsein an die Moral, welche das mich soeben einnehmende schlechte Gewissen verdrängen zu versuchte. Ich strich den Kindern über das Haupt und versuchte sie mit den Worten „es ist alles gut“ zu beruhigen. „Mama war nur kurz traurig, aber jetzt ist alles wieder gut.“ Ich gab allen einen Kuss auf die Stirn, erhob mich von dem Sofa und schlich in die Küche, um mich mit dem Kochen des Mittagessens abzulenken und gleichzeitig der Situation durch gekonntes Überspielen zu entkommen. Immerhin sollten unsere Kinder von all dem nichts mitbekommen. Abgesehen davon, war die Zeit für das Zubereiten des Mahls für meine hungrigen Männer ran, denn erschreckender Weise stellte ich bei dem Blick auf die Wanduhr fest, dass es bereits elf Uhr fünfundzwanzig war. „Wir haben lange geredet“, dachte ich. Das war auch notwendig. Solch eine Entscheidung trifft man schließlich und Gott sei Dank nicht alle Tage und auch nicht einfach mal so. Diese muss gut durchdacht sein und abgewogen werden. Es war immerhin nicht solch eine Entscheidung, wie zum Beispiel ob ich Turnschuhe oder Sandalen anziehe und wenn ich im Laufe des Tages feststelle, es ist mir doch zu warm oder zu kalt an den Füßen, einfach das entsprechend andere Schuhwerk wähle und es für keinerlei Leben eine Konsequenz hat. Der jetzige Schiedsspruch war eine ganz andere Hausnummer, der einmal getroffen wurde, nicht mehr zu ändern war. Dies spielte natürlich in meinem Gedankenkarussell eine bedeutende Rolle. Dieses Endgültige, nicht Widerrufbare. Aus dem Wohnzimmer hörte ich besänftige Worte seitens Florian an unsere Söhne und dann schien das Thema für die Kinder schon erledigt gewesen zu sein. Kinder vergessen schnell und sind zügig für andere Dinge zu begeistern. Ich konnte mich gelassen dem Lieblingsessen unserer Dreikäsehochs, vermutlich auch allen anderen Kindern auf diesem Planeten, widmen: Nudeln mit Tomatensoße und Reibekäse. Kommt immer gut an, nicht nur bei den Kleinen. Während des Kochens ging ich gedanklich im Schnelldurchlauf das soeben geführte Gespräch durch und war nach wie vor von meinem ersten Entschluss überzeugt. Definitiv. Jegliche Abschweifungen waren nur falsche Gefühlsirrleitungen und so fand ich nach dem Essen die innere Ruhe, mich schlafen zu legen. Das letzte Mal, als ich Mittagsruhe hielt, war schon eine ganze Weile her. Ich glaube das war, als die Jungs nachts nicht durchgeschlafen und die Nacht zum Tage gemacht haben. Ich kann nicht sagen, ob ich aufgrund der anderen Umstände so müde war oder durch die innere Aufregung und Anspannung, dennoch musste ich die Chance nutzen, zusammen mit den Kindern für ein bis zwei Stunden zu schlummern. Aus der vorgenommenen Zeitspanne wurden hundertachtzig Minuten und hätte mich Florian nicht geweckt, hätte ich wahrscheinlich noch abends schlafend im Bett gelegen. So vernahm ich jedoch ein liebevolles Streicheln meines Handrückens. Beim Öffnen meiner Augen sah ich meinen Mann auf der Bettkante sitzen. Er lächelte. Das war genau das Lächeln, in welches ich mich verliebt hatte. Seine grünen Augen strahlten dabei so sehr und er schien so glücklich und zufrieden. Meinen Blick konnte ich nicht von ihm lassen und hielt diesen, als ich mich von der Seitenlage auf den Rücken drehte und beide Arme hinter dem Kopf verschränkte. Florian streifte die Bettdecke zurück und beugte sich über mich. „Hallo kleines Baby, hier ist dein Papa“, sprach er auf einmal zu meinem Bauchnabel, so als ob dieser ein Sprachrohr zu meinem Inneren sei. Verdutzt hob ich meinen Kopf und schaute stirnrunzelnd zu Florian. In Normalfall eine ganz süße und niedliche Geste, die vor Verzückung mir Gänsehaut bereiten sollte, nach dem vorhin geführten Gespräch mich aber eher zum Nachdenken und Verwundern brachte. Wir waren uns doch einig. Baute er gerade eine Bindung zu dem Ungeborenen auf? Über was unterhielten wir uns den gesamten Vormittag? Hatte ich alles nur geträumt? War es jetzt erst früh am Morgen, Zeit zum Aufstehen? Fand das Gespräch nur in meinem Traum statt? Schlief ich nach wie vor und die Hormone führten mich in die Irre? Es kam mir aber alles so real vor! Beugte Florian gerade wirklich über meinem Bauch oder war auch dies nur eine herbeigewünschte Einbildung? Für einen Moment lang zweifelte ich an mir selbst, doch dann holte mich die Besinnung ins Leben zurück. Das Gespräch am Vormittag fand statt, eine Entscheidung wurde gefällt und an der hielt ich fest. Fast schon so, als ob mir Florians Handlung unangenehm war, stieß ich ihn von mir weg und erhob mich aus dem Bett. „Sind die Kinder schon wach?“, lenkte ich unauffällig von meiner Abweisung ab und schlüpfte gleichzeitig in meine Hausschuhe. „Ja, sie warten auf dich im Wohnzimmer.“ Während Florian dies sagte und sich aufrichtete, lief ich zur Tür, nahm die Klinke in die Hand und bevor ich diese betätigte, blickte ich von unten empor zu Florian und entschuldigte mich mit den Worten „Es tut mir leid, ich habe die Jungs gar nicht gehört. Ich war einfach so knülle.“ Für meine Ablehnung gerade eben wollte ich mich nicht entschuldigen. Wir wollten das Baby nicht und je weniger wir uns mit dem Gedanken anfreundeten, dass ein kleines Wesen in mir ist, umso besser. Mein Mann trat vor mich, nahm mich in den Arm und flüsterte „Conny, dafür brauchst du dich doch nicht zu entschuldigen. Es ist alles gut.“ Nein, nichts war gut. Doch bevor sich erneut die Emotionen, die Gefühle sowie die Gedanken hochschaukeln und meine Erholung zunichtemachen konnten, die ich mir mit meinem dreistündigen Mittagsschlaf gerade errungen hatte, lösten wir unsere Umarmung und gingen zusammen aus dem Schlafzimmer zu unseren Kindern. Wie auf einer Hühnerstange saßen sie aufgereiht auf dem Sofa, mit Schokolade verschmierten Mündern. „Hallo Mami!“, schallte es mir freudig entgegen und mein Antlitz ließ die sechs Kinder-augen leuchten. Simon hatte meine braunen Augen geerbt, Valentin und Adrian hingegen die meines Mannes. Wir gesellten uns zu ihnen und der Nachmittag nahm seinen Lauf mit kuscheln, malen, basteln und mit den Rennautos spielen. Wir genossen bei dem vorherrschenden schmuddeligen Wetter die Zeit als Familie, gemütlich im Warmen, bis Florians Telefon schellte und unser Freund Luis uns zu einem gemeinsamen Grillen ab siebzehn Uhr einlud. Ich hörte lediglich Florian zustimmen und als er mir von dem ausgemachten Treffen berichtete, war meine erste Reaktion der entsetzte Blick aus dem Fenster. „Bei dem Wetter?“, fragte ich skeptisch nach. „Grillen?“ Selbst der Blick auf das Thermometer