Anne Wunderlich

Zwiespalt


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und verinnerlichen, worüber wir bereits vor sechs Monaten nachgedacht und diskutiert hatten - ein weiteres Kind kam für uns nicht in Frage. Irgendwann ist der Zeitpunkt für einen selbst gekommen, in dem man in sein Inneres horcht und feststellt, es ist alles perfekt, genauso wie es ist. Genau diesen Zeitpunkt hatten wir bereits vor einem halben Jahr, also warum jetzt alle Überlegungen über Bord werfen. Es war gut so, wie es war. Als ich auf der Bank saß und meine Jungs musterte, zauberte es mir ein Schmunzeln ins Gesicht. Mir wurde klar, was für drei wunderbare Jungs ich habe, welches Glück ich hatte, dass meine Schwangerschaft im Großen und Ganzen problemlos verlief und ich drei gesunde Söhne ohne eine geistige oder körperliche Behinderung gebar. Dieses Glück wollte ich nicht noch einmal herausfordern und riskieren.

      Plötzlich öffnete sich unsere Terrassentür und Florian kam heraus. In Gedanken hatte ich völlig die Zeit vergessen. Mittlerweile zeigte die Uhr siebzehn Uhr dreißig. „Zeit zum Vorbereiten des Abendbrotes“, dachte ich und erhob mich von der Bank. Auf den Weg Richtung Terrasse traf Florian und ich aufeinander. Er gab mir, so wie immer, einen Begrüßungskuss und nahm mich dann fest in den Arm. „Und?“, hauchte er mir wissbegierig ins Ohr, doch ich schmetterte die Frage ab. „Lass uns später in Ruhe und ohne die Kinder darüber reden“, warf ich ein und löste die Umarmung.

      Beim Wechseln der Schuhe blickte ich kurz zurück und beobachtete für einen Moment, wie Florian unsere Söhne nacheinander begrüßte und in den Arm nahm. „Ein schönes Bild. Wie eine heile Familie“, dachte ich mir. Dieses Bild sollte so bleiben und sich nicht noch einmal ändern.

      Dann verschwand ich in der Wohnung.

      Die neue Erkenntnis kehrten wir ganz gekonnt an dem restlichen Tag unter den Tisch. Abgesehen davon, dass es definitiv Möglichkeiten und die Zeit gegeben hätte, das Thema ins kleinste Detail durchzusprechen, gingen wir uns jedoch, bewusst oder unbewusst, gekonnt aus dem Weg. Während des Abendessens füllten wir die Zeit zwischen dem Kauen mit Unterhaltung unserer Kinder. Beim zu Bett bringen der Zwerge ließen wir uns viel Zeit und gingen auf die Wünsche jedes einzelnen gerne ein und im Anschluss, als Zeit zum Reden gewesen wäre, verabschiedete sich Florian zum Fußball schauen zu seinem Freund. Letzteres zu verschieben wäre auf jeden Fall eine Variante gewesen, um stattdessen ein Gespräch mit seiner Frau zu führen.

      Vermutlich brauchte Florian für sich Zeit, um über eine mögliche Schwangerschaft seiner Frau und dessen Folgen nachzudenken und ich war ehrlich gesagt nicht böse, nicht schon wieder das Für und Wider auszudiskutieren. Es strengte mich an. Nach diesem aufregenden Tag war es ganz gut, eine Nacht über das Thema zu schlafen, alles wirken zu lassen und morgen in Ruhe über die neue Feststellung zu sprechen und eine klare Entscheidung für sich selbst zu treffen.

      „Auch gut“, redete ich es mir schön und konnte dafür alleine auf dem Sofa verweilen und es mir gemütlich

      machen.

      Tag 1 - Der Abend …

       Der Abend gehörte mir. Mir ganz alleine. Nur was tun, nach so einem turbulenten und nervenaufreibenden Tag? Ich schaltete den Fernseher an, schenkte mir ein Glas Rotwein ein, öffnete mir eine Tüte Gummibärchen und machte es mir gemütlich, indem ich mich in die Sofadecke einkuschelte. Voller Vorfreude schaltete ich in der Flimmerkiste von Programm zu Programm durch, auf der Suche nach einer schönen Liebesschnulze oder einer Comedy Sendung. Leider wurde ich enttäuscht. Nicht einmal annähernd kam etwas, was meiner Anforderung entsprach. Nur Sportsendungen, Shows oder Krimis. Auf all diese Sendungen stand mir gerade nicht der Sinn. Eine Alternative musste her. Ich schaltete den Fernseher aus und sah mich im Wohnzimmer um. Mein Blick blieb an unserem Hochzeitsbild kleben, welches mir gegenüber an der Wand hing. Es zeigte zwei strahlende Gesichter, die sich an dem schönsten Tag in ihrem Leben anlachten. Glücklich, zufrieden und voller Liebe. „Sah ich gut aus“, dachte ich. Meine langen braunen Haare trug ich hochgesteckt, ein Blütenkranz zierte meine Frisur. Das enganliegende Vintagekleid schmeichelte meiner sportlichen Figur und das Make-up betonte meine braunen Augen. Im Gegensatz zu Florian, der immer noch genauso durchtrainiert und schlank war wie vor ein paar Jahren, näherte ich mich nach der Schwangerschaft jetzt erst so langsam wieder meiner Idealfigur. „Wir waren so glücklich“, schwärmte ich. Halt! „Wir sind es!“, besonnte ich mich und überlegte weiter, was ich mit dem angefangenen Abend anstellen konnte. Ich konnte die Spielecke der Kinder aufräumen, aber jetzt? Um diese Uhrzeit? Eher nicht. Ich konnte ein Buch lesen, aber ich wusste genau, ich würde nur die ersten maximal zwanzig Seiten schaffen, dann dieses weglegen und irgendwann, vielleicht erst in ein paar Monaten, wenn ich wieder Zeit hatte, es herausziehen und von vorne beginnen zu lesen, da ich bis dahin den Anfang schon wieder vergessen hätte. Dies fiel sofort wieder aus der engeren Auswahl. Bügelwäsche war erledigt. Ich entschied in die Küche zu gehen. Hunger hatte ich zwar keinen, aber solch ein kleines Verlangen nach etwas Kalten und Süßen.

      Somit begab ich mich auf die Suche nach einem kleinen Häppchen, das meinen Appetit stillen konnte und welches bereits flehend aus dem Kühlschrank rief: „Nimm mich. Ess´ mich. Ich bin so lecker“. So stand ich nun vor dem Gutgefülltem und starrte unentschlossen hinein. Es sprach mich einfach nichts an, doch nahm ich einen großen Schluck aus der Milchflasche und leerte diese gleichzeitig.

      Plötzlich, als ich auf dem Absatz kehrtmachte und gerade wieder zurück zu meiner Ausgangsposition ins Nachbarzimmer wollte, kam mir der bahnbrechende Einfall. Vor meinem direkten Auge hing unser Familienplaner. Ich schaute nicht auf die bevorstehenden Termine in diesem Monat, sondern sah nur auf die Zahlen und die Tage. Sofort erinnerte ich mich an die Worte meiner Frauenärztin: „Sie haben noch etwas Bedenkzeit, aber überlegen Sie nicht zu lange“. Heute war Freitag, morgen somit Wochenende mit zwei Tagen. Zeit genug für mich und meinen Mann, um in Ruhe abzuwägen, so dass ich hoffentlich bereits am Montag mit einer eindeutigen Entscheidung meine Ärztin in Kenntnis setzen konnte. „Heute ist Freitag. Die siebte Schwangerschaftswoche plus eins“, wiederholte ich immer wieder vor meinem geistigen Auge. Obwohl ich mich für den restlichen Abend ablenken wollte, beschloss ich mich nun doch mit dem Thema intensiv auseinander zu setzen. Ich kramte ein Buch aus unserer Anbauwand, welches ich mir bei meiner ersten Schwangerschaft gekauft hatte und nahm mit diesen auf dem Sofa Platz. Bevor ich es aber aufschlug, trank ich einen Schluck Rotwein und kaute genüsslich ein paar Gummibärchen, fast schon so, als müsse ich mir Mut antrinken beziehungsweise in diesem Fall, auch anessen.

      Eingekuschelt in meiner Decke hielt ich nun die Lektüre in beiden Händen. Für einen kurzen Moment zögerte ich. War ich mir sicher, über die Entwicklung eines Embryos nachzulesen oder sollte ich es doch besser lassen? „Ach, was soll´s!“, motivierte ich mich selbst und blätterte die Seite auf, in welche Informationen rund um die siebte Schwangerschaftswoche geschrieben standen. Ich las unter anderem, dass sich bei dem Embryo bereits ein erstes Stupsnäschen erkennen ließe und das Kleine schon so etwas wie Augenlidfalten hätte. Abgesehen davon, dass sich das Gehirn und das Herz immer weiterentwickeln und der Kopf, wie auch bereits auf dem Ultraschallbild zu erkennen war, überproportional zu dem Rest des Körpers wächst. Typisch für die werdende Mama seien in dieser Schwangerschaftswoche Stimmungsschwankungen, Übelkeit, Veränderung des Geschmacks- und Geruchssinns sowie vermehrter Harndrang.

      Ich muss zugeben, als ich mir diese Seiten zu Gemüte führte, ließen mich die Informationen ziemlich kalt. Erstaunlicherweise berührten sie mich nicht. Im Vergleich hätte ich auch eine Computerzeitschrift oder den Duden lesen können, die mich genau so wenig gepackt hätten, wie das soeben Gelesene. Rein aus der Tatsache resultierend, dass ich weder das kleine Etwas spürte, noch von den genannten Beschwerden betroffen war. Bis heute ging es mir wie immer, gut. Alles war ganz normal. Nur weil ich seit heute von der Überraschung wusste und nun auch von der Entwicklungsstufe des Embryos Kenntnis erlangte, veränderte dies nicht plötzlich mein Wohlbefinden. Dennoch schien es mich unbewusst mehr gefesselt und gepackt zu haben, als ich mir selbst eingestehen wollte, denn ich bemerkte überhaupt nicht, dass ich während des Lesen das Glas Rotwein austrank und die Tüte Gummibärchen leerte. Den Verzehr der Genussmittel stellte ich erst beim Zuklappen des Buches fest.

      In meiner jetzigen Stimmung genügte mir das Ergattern und zurück ins Gedächtnis Holen der Informationen nicht. Ich griff zu einem Kugelschreiber und einen Blatt Papier und notierte alle wichtigen Stichpunkte, die mir in der nächsten