Anne Wunderlich

Zwiespalt


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auch jetzt die berechtigte Frage, ob es eine Phantomübelkeit oder eine Tatsächliche aufgrund der Umstände war. Allein der Fakt schwanger zu sein, löste in meinem Gehirn einen Brechreiz aus und versandt sämtliche Signale, die mich wiederrum in Richtung Toilette zwangen. Meine Körper wehrte sich.

      „Naja, das Baby wächst Tag für Tag. Da kann es schon sein, dass nun so langsam die ersten kleinen Beschwerden auftreten“, erwiderte Florian auf meine Zweifel hin.

      „Mag sein“, stimmte ich ihm zu und ruderte gleichzeitig zurück, denn ich wusste, in ein paar Tagen wäre dieser ganze Spuk vorbei. Ob sich mit der Gewissheit mein Befinden positiver stimmte, war zu bezweifeln, vorerst nur hinzunehmen.

      Ferngesteuert von meinen Hormonen bog ich trotz anhaltender Übelkeit und dem flauen Gefühl auf dem Weg ins Wohnzimmer in die Küche ab, öffnete die Tür des Kühlschrankes und griff zu einem Becher Joghurt. Ein kleines Hungergefühl machte sich breit oder Appetit oder wie man es nennen wollte. Ein falsch geleiteter Befehl meines Gehirnes an meinen Magen oder andersherum, so hätte ich es auch bezeichnen können. Egal, der Joghurt schmeckte mir ausgezeichnet und die Übelkeit war wie weggeblasen. Erst einmal. Für die nächste Stunde. Etwa aller sechzig Minuten wechselte sich der Hunger mit dem Flau sein ab. Trotz Übelkeit musste und konnte ich essen. Ich war eindeutig schwanger! Natürlich ließ ich mir nach außen hin nichts anmerken, auch nicht gegenüber den Kindern. Kleine Happen zwischendurch aß ich, als keiner mich sah, mich alleine oder mit Florian zusammen in der Küche befand und versuchte den ganzen Tag über, die Übelkeit in den Griff zu bekommen, ohne ständig das WC aufsuchen zu müssen.

      Tag 3 - Besuch

      So auch am Nachmittag, als wir unsere Freunde Matthias und Karina besuchten. Freunde, die wir seit Jahren kannten, aber aufgrund diverser Umstände beiderseits wenig trafen. Das letzte Mal sahen wir sie vor fünf Jahren. Eine lange Zeit, in der aber auch viel passiert ist. Zugegeben, wir waren mit unseren Drillingen gut eingespannt und bei den beiden kam ein Hausbau und drei Schwangerschaften dazwischen. Zeit für ein Treffen war theoretisch immer, aber wie es so ist, jeder ist in seinem Leben arg eingespannt und wenn man sagt „wir treffen uns mal“ und kein fester Termin vereinbart wird, wird die Zusammenkunft immer wieder weiter hinausgeschoben. Woche für Woche, Monat für Monat und plötzlich sind fünf Jahre vergangen. Allerdings ließen wir von den beiden in dieser Zeit bewusst ab, denn die zweite Schwangerschaft von Karina verlief zwar planmäßig und sie gebar das Kind, jedoch verstarb es kurze Zeit später als ein sogenanntes „Sternenkind“. Kinder, die der poetischen Bedeutung des Wortes nach den Himmel erreichen, noch bevor sie das Licht der Welt erblicken dürfen und gemäß der Wortbedeutung verstorbene Kinder bezeichnet, insbesondere wenn die Schmetterlingskinder vor, während oder zeitnah nach der Geburt verstorben sind. Alleine diese Erläuterung lässt jedes Herz einer Mama zerbrechen, wie schlimm mag es dann erst für die Betroffenen sein. Für die Beiden. Sie machten das Schlimmste durch, was Eltern wiederfahren kann und nicht einmal dem ärgsten Feind zu wünschen ist – ihr lebendes, gesundes Kind sterben zu sehen, welches sie noch kurz zuvor in den Armen hielten oder spielten und plötzlich nicht mehr da ist. Es zu verlieren. Eine unvorstellbare dramatische Erfahrung, bei der nicht nur das Baby selbst stirbt, sondern auch ein Teil eines Selbst. Beide zogen sich in dieser Zeit zurück und wollten mit der Trauer alleine sein. Die Teilnahme an Selbsthilfegruppen, der feste Halt der Familie und die Geburt eines weiteren, gesunden Babys holten beide zurück ins Leben und ließ sie wieder Freude und Spaß erleben. Meinen größten Respekt hatten Matthias und Karina, dass sie diese unerträgliche Zeit überstanden und gelernt hatten, damit umzugehen. Über ihr Sternenkind Emil werden sie nie hinwegkommen und ihn vergessen, selbst der Satz „die Zeit heilt alle Wunden“ ist in diesem Zusammenhang unangebracht.

      Nun waren sie bereit, auch uns in Empfang zu nehmen. Im gleichen Atemzug der Einladung einigten wir uns darauf, bezüglich ihres Sternenkindes nicht nachzufragen, um keine alten Wunden aufzureißen. Trotz Kenntnis völlige Ausblendung! Weiterhin galt es Stillschweigen über meinen Zustand sowie unseres Vorhabens zu bewahren.

      Wir klingelten an der Tür des Neubaus. Diese wurde von Karina mit ihrem Sohn geöffnet. Ein breites Grinsen brachte sie uns entgegen und John reichte uns ganz anständig die Hand. Zur Begrüßung umarmten wir uns herzlich und unsere Jungs sagten anständig „Hallo“. Als wir eintraten und uns den Schuhen und Jacken entledigten, kam Matthias mit dem kleinen Töchterchen Helen zur Begrüßung auf uns zu. Wir sahen zum ersten Mal die kleine Maus. „Ein Mädchen, wie schön“, dachte ich und wurde zugleich für einen kurzen Moment sentimental. Gut, dass mich Florian stupste und mir ein paar Hausschuhe reichte. Nichts anmerken lassen, war unser Bestreben.

      Die beiden baten uns in den offenen Wohn- und Essbereich einzutreten und es uns an der gedeckten Kaffeetafel gemütlich zu machen. Einen großen Esstisch hatten sie, der längs entlang des Zimmers gestellt war. Der Vorteil bei Besuchen, denn wir alleine schlugen schon mit fünf Personen auf und zu Familie Müller zählten bereits vier Mann.

      An der Stirnseite fand ich meinen Platz, direkt neben Karina und zur Linken Adrian.

      „Wir trinken Kaffee und dann zeigen wir Euch unser Haus. Einverstanden?“, fragte und beschloss Matthias in einem Satz und schenkte uns währenddessen das Heißgetränk ein. Karina reichte die Getränke für die Kinder und verteilte an jeden ein Stück Kuchen. Dies ließ Zeit, unsere Blicke in ihrem Neubau schweifen zu lassen, doch immer blieb ich bei der kleinen Helen hängen. Mit einem Lätzchen um den Hals saß sie in ihrem Kinderstuhl, beobachtete mich mit ihren blauen Kulleraugen und lächelte mich die ganze Zeit an. Selbst der Blick in die große Stube mit dem wunderschönen Kachelofen, der Holztreppe, die ins Obergeschoss führte oder die große und moderne Küche mit einer Kochinsel konnte meine Aufmerksamkeit nur kurzzeitig von der kleinen Maus ablenken. Ihr blond gelocktes Haar lag auf ihren zarten Schultern auf und unter dem Lätzchen trug sie ein rotes mit weißen Punkten getupftes Kleid. Wie eine Puppe sah sie aus. Wunderschön.

      „Jetzt erzählt mal, wie geht es Euch? Conny, ich habe gehört, dass du wieder zu arbeiten angefangen hast“, eröffnete Karina das Gespräch und spießte zeitgleich die Gabel in das Stück Kuchen. Ich hingegen schluckte sprichwörtlich meinen riesigen Kloß im Hals beziehungsweise in diesem Fall ein großes Kuchenkrümel hinunter, fing an von meiner Rückkehr nach der Elternzeit zu erzählen. Wir kamen ins Plaudern, wie glücklich ich war, den Posten bekommen zu haben und auch Beruf und Familie aufgrund der Teilzeitanstellung und Gleitzeit gut unter einen Hut zu bekommen.

      Die Tatsache, dass wir uns ganze fünf Jahre lang nicht gesehen hatten, hätte uns ein Außenstehender niemals angemerkt. Es war so, als hätten wir erst letzte Woche zusammengesessen. So ist es eben mit guten Freunden, egal wie lange man sich nicht sieht, bei einem Zusammentreffen ist keiner dem anderen böse, ist beleidigt, nachtragend oder ähnliches. Nein, man freut sich, den anderen zu sehen und ist sofort herzlich in einer Unterhaltung.

      Die Gesprächsrunde am Kaffeetisch gestaltete sich sehr locker und angenehm, bis zu dem Punkt, als die beiden uns fragten, ob wir noch ein weiteres Kind haben wollen. Ein Augenblick, an dem mir wieder einmal bei solch einer Frage kurz der Atem stockte und ich entsetzt zu Florian sah. Wie kamen die beiden darauf? Hatten sie mir etwas angemerkt? Verhielt ich mich anders als sonst? Gut, naheliegend war die Frage, wenn wir unsere Kinder mit John und Helen spielen sahen und doch immer wieder die Kinder als Thema in das Gespräch einflossen. Natürlich blieb die Frage nicht aus. Nicht nach so einem langen Wiedersehen, ein paar Kindern, festen Jobs und einer häuslichen Basis später.

      Fast schon zeitgleich stritten Florian und ich ein weiteres Geschwisterchen ab und argumentierten vehement dagegen. Ganz nach dem Motto: „Mit unseren Drillingen haben wir alle Hände voll zu tun“. Als wir entschlossen gegen ein Baby redeten, wurde mir erneut bewusst, so niedlich die Kleine auch war und ich mich wie verrückt über ein Mädchen freuen würde, umso weniger wollte ich es. Wenn ich an die Anfangszeit zurückdachte, an das Nächte lang wach liegen, Windeln wechseln, ständiges Geschrei, Milchflaschen zubereiten und überall mit hinnehmen, Brei kochen, das Essen an sich beibringen, einfach mit Allem wieder von vorne zu beginnen, nein, das wollte ich nicht. Nicht zum jetzigen Zeitpunkt. Ein Kind von Freunden oder Bekannten für ein paar Stunden oder auch ein Wochenende lang mit zu betreuen, das war in Ordnung, aber nicht ein Eigenes. Es war gerade gut so, wie es war. Perfekt?