Ralf Lützner

Die Irrfahrt des Charles Philip Plumpton


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„Hier, dein Amulett. Den Schlüssel brauchen wir nicht mehr...“

       Charlie hatte inzwischen seine Ersatzkleidung in den Kissenbezug gestopft und zum Bündel verschnürt.

       „Was, wenn diese Typen da draußen auf der Lauer liegen?“ fragte er unsicher.

       „Mach dir darüber keine Gedanken“, erwiderte Emma gelassen.

       Sie zog eine kurze Pistole hervor und überprüfte die Pulverladung. Dann kontrollierte sie das spitze, stilettartige Messer im Schaft ihres Stiefels.

       Charlie hätte schwören können, dass an dessen Klinge Reste von Blut klebten.

       Emma blies die Lampe aus.

       Als sie hinaus in die Gaststube traten, mussten sie feststellen, dass sie nicht allein waren. John Miller saß an einem Tisch im dunklen Schankraum. Vor ihm brannte eine Kerze. Eine Flasche Rum stand daneben.

       „Wer ist da?“ rief er aus, als er oben am Treppenabsatz jemand bemerkte. Leicht schwankend richtete er sich auf und griff nach einem Brotmesser. Er war nicht mehr ganz nüchtern. „Bist du das, Charlie?“

       „Bleib weg von mir, John!“ knurrte dieser. „Was ist? Wartest du darauf, dass deine Spießgesellen mich holen kommen?“

       „Bah! Was weißt du schon?“ schnaubte John Miller. „Glaubst du, ich hatte eine Wahl? Glaubst du, es wäre mir leichtgefallen?“

       „Ich hoffe, es hat sich für dich gelohnt, John!“

       Langsam gingen Charles und Emma die knarrenden Stufen hinab.

       „Versteh doch, Charlie!“ John Miller klang fast ein wenig verzweifelt. „Sie haben meine Familie bedroht! Meine Frau ... meine Kinder!“

       „Was hast du denen gesagt, John?“

       „Sie kamen vor ein paar Monaten“, versuchte er sich mit schwerer Zunge zu erklären. „Sie wollten wissen, wie lange eure Fahrt dauert, welche Route ihr einschlagen würdet. Ich sollte mich bei einer bestimmten Adresse melden, falls du zurückkommst ... sie haben gedroht, Anna und den Kindern etwas anzutun, sollte ich mich weigern...“

       „Und was war gestern? Diese beiden Typen?“

       „Sie wollten wissen, wann das Gasthaus schließt ... wo deine Kammer sei ... ich ... ich sollte sie hereinlassen...“

       „Geh aus dem Weg, John“, sagte Charles angewidert. „...und du wirst mich nie wiedersehen...“

       „Das kann ich nicht tun, Charlie!“

       Unsicheren Schrittes baute er sich zwischen ihnen und dem Ausgang auf. Drohend hob er das Brotmesser.

       „Die Kinder, Charlie! Denk an die Kinder!“

       „Geh beiseite, John ... und dir wird nichts geschehen!“

       Emma sagte kein einziges Wort. Sie beobachtete. Charlie war sich sicher, dass sie bloß auf den rechten Augenblick wartete, um zuzuschlagen.

       „Das kann ich nicht, Charlie!“ Johns Stimme wurde fester. „Hast du nicht zugehört? Ich werde nicht meine Familie für dich opfern!“

       Etwas ungelenk fuchtelte er mit dem Brotmesser herum.

       „Was weiß ich, was du für finstere Geheimnisse hast ... was du und deine zwielichtigen Freunde hinter unserem Rücken treiben...“

       Er machte eine abfällige Geste in Emmas Richtung.

       „...ich will es auch gar nicht wissen! Aber ich werde nicht zulassen, dass deine Machenschaften meine Familie ins Unglück...“

       „John, was ist hier los?“

       Millers lautstarke Tiraden hatten seine Frau aufgeweckt.

       „Bist du betrunken?“

       „Charlie?“

       Auch Katrina kam nun, vom Lärm aufgeschreckt, aus ihrem Zimmer.

       „Geh wieder zu Bett, Liebes!“ sagte John Miller. „Du auch, Katrina! Ich kümmere...“

       Es war der Moment der Unachtsamkeit, auf den Emma gewartet hatte. Blitzschnell griff sie nach Millers Arm und drehte ihm diesen auf den Rücken. Er heulte auf vor Schmerzen. Das Messer fiel aus seiner Hand. Mit Wucht stieß Emma ihn daraufhin nach vorn, sodass er mit dem Unterleib gegen die Tischkante prallte.

       Stöhnend sank er zusammen.

       „John!“ schrie Anna entsetzt und stürmte die Treppe hinunter.

       Katrina folgte ihr.

       Emma bückte sich und hob das Messer auf.

       „Wir sollten jetzt besser gehen“, sagte sie ruhig. „Bevor jemand verletzt wird...“

       „Charlie ... wer ist diese Frau?“ Katrina Jørgensen war völlig außer sich. „Was hat das alles zu bedeuten?“

       Charlie wich einen Schritt vor ihr zurück und schüttelte mit dem Kopf.

       „Wie konntest du nur?“ presste er eisig hervor.

       „Was ... ich ... wovon redest du?“

       „Tu nicht so! Ich habe dir vertraut! Ich habe dir alles erzählt ... und du hast mich verraten und verkauft!“

       „Nein, Charlie ... ich könnte niemals...“

       Katrina brach in Tränen aus.

       „...ich ... wie kannst du so was nur glauben?“

       „Geh, Charlie!“ ging Anna dazwischen. Sie war über ihren Ehemann gebeugt. Ihre Stimme war kalt. Feindseligkeit lag in ihrem Blick. „Geh! Nimm deine Freundin und verschwinde! Lass mich und meine Familie in Ruhe!“

       Plötzlich hämmerte jemand gegen das Eingangstor.

       „Aufmachen! Im Namen Ihrer Majestät und des Regionalgouverneurs! Öffnen Sie!“

       „Soldaten!“

       Charles und Emma sahen sich an.

       „Das Küchenfenster!“

       „Nein, Charlie! Geh nicht!“ flehte Katrina.

       Sie griff nach seinem Arm, um ihn zurückzuhalten.

       „Du musst dich den Behörden stellen! Es wird alles gut! Ich bin bei dir!“

       „Lass mich!“

       Energisch schüttelte Charlie sie von sich ab.

       Ihr dünnes Nachthemd zerriss.

       Schluchzend ging sie zu Boden.

       „Aufmachen!“ tönte es abermals von der Tür.

       Emma wartete bereits am geöffneten Fenster.

       „Komm schon, Plum!“ winkte sie ihm zu. „Wir müssen raus hier!“

       Zusammengekauert blieb Katrina liegen und weinte bitterste Tränen. Mit einer Hand versuchte sie, ihre Blöße zu bedecken.

       „Fass mich nicht an!“ wimmerte sie nur, als ihre Schwester ihr aufhelfen wollte.

       Charles und Emma schlüpften hinaus in die Nacht. Es hatte sich zugezogen. Eine Regenfront war im Anmarsch. Sie befanden sich seitlich vom Haus beim Ziegenstall. Der rettende Waldrand war nicht weit entfernt.

       Vorne am Eingang hörte man die Soldaten weiter gegen das Tor hämmern.

       „Es wird nicht lange dauern, bis die merken, dass wir uns verkrümelt haben“, flüsterte Emma Charlie zu. „Los, in den Wald!“

       „Da! Da vorne! Das ist er!“ erschallte es beinahe im gleichen Augenblick.

       Es war die Stimme von Rupert, dem Nachtwächter.

       Charles und Emma nahmen die Beine in die Hand.

       „In Ordnung ...