Ralf Lützner

Die Irrfahrt des Charles Philip Plumpton


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müssen...“

       Über eine Treppe in der Gaststube gelangte er in seine Kammer. Sie lag unter dem Giebel des Daches und war nicht sehr geräumig. Charlie griff nach dem Hemd, das Katrina liebevoll auf dem Bett drapiert hatte, und streifte es über. Sie hatte das Fenster zum Lüften geöffnet. Auf dem Tisch stand eine kleine Vase mit einer gelben Blume.

       Charlie trat vor den Schrank. Bloß seine Sonntagskleider, eine alte Jacke sowie ein Paar ausgelatschte Schuhe befanden sich darin. Die meisten seiner Sachen waren mit der ‚Eleanore’ untergegangen.

       Es klopfte.

       Katrina trug eine mit Eisen beschlagene Schatulle.

       „Ich habe hier noch etwas für dich“, sagte sie und stellte das Kästchen auf dem Tisch ab. „Dein Vater wollte, dass ich das für dich aufbewahre. Er sagte, es sei wichtig...“

       „Was ist drin?“ wollte Charlie wissen.

       „Ich weiß nicht ... ich habe nicht reingeschaut.“

       Sie zog einen Schlüssel aus der Tasche ihrer Schürze und legte ihn neben die Kiste.

       Verlegen standen sie sich gegenüber. Dann presste sie sich an ihn und küsste ihn, wie sie ihn noch nie zuvor geküsst hatte. Erhitzt hob und senkte sich ihre Brust, als sie sich schließlich voneinander lösten.

       „Ich lasse dich jetzt besser allein...“

       Auf der Schwelle blieb sie stehen und drehte sich noch einmal zu ihm um.

       „Komm zu mir, wenn du dich einsam fühlst“, hauchte sie, schwer atmend. „Wann immer du willst...“

       Eine Weile stand Charlie einfach nur da und starrte auf die Tür, durch die Katrina entschwunden war. Dann setzte er sich an den Tisch, griff nach dem Schlüssel und öffnete die Schatulle.

       Viel war nicht darin: eine Handvoll Papiere, ein paar Goldmünzen, eine Halskette mit Anhänger.

       Er betrachtete die Halskette. Der Anhänger war aus Silber. Er ließ sich öffnen. Zum Vorschein kam das Bildnis einer Frau, filigran, mit feinsten Pinselstrichen gemalt. Es war das Bild seiner Mutter, Elizabeth. Er konnte sich kaum an sie erinnern. Lange studierte er jede Nuance ihres Gesichts. Wie jung sie noch aussah!

       Seufzend legte er das Amulett beiseite und überflog die Papiere. Alle waren säuberlich versiegelt. Auf einem konnte er den Schriftzug ‚Lindenbrook & Söhne, Leeds’ entziffern. Aber im Augenblick konnte er kein Interesse dafür aufbringen. (Das Lesen fiel ihm ohnehin schwer.)

       Er schlug den Deckel der Schatulle zu und verschloss sie wieder. Den Schlüssel befestigte er an der Kette des Amuletts und hängte es sich um den Hals. Er verstaute die Kiste in seinem Schrank und verließ das Zimmer.

       Gedankenverloren wanderte er durch das Dorf. Die Sonne stand bereits tief. Bald würde sie Coopersville in ein magisches Abendrot tauchen. Unterwegs begegnete er Barthelmé mit dessen Eselsgespann.

       Man winkte sich zu.

       Er erreichte die Dorfkirche. Umringt von ein paar Palmen erhob sie sich auf einem flachen Hügel am Rand der Siedlung. Durch das Gatter des Lattenzauns gelangte er auf den Friedhof. Langsam schritt er durch Reihen schiefer, teils verwitterter Grabsteine. Vor einem schlichten Holzkreuz blieb er stehen.

       Es war das Grab seines Vaters. Andächtig verweilte er dort eine Zeitlang. Man hatte ihn an der Seite Hilda Jørgensens beigesetzt. ‚Hilda Plumpton’ lautete die Inschrift. Eine Weile nachdem man sich hier niedergelassen hatte, hatten sie und sein Vater geheiratet. Obwohl sie die Vierzig damals schon überschritten hatte, wurde Hilda noch einmal schwanger. Sie und das Kind starben bei einer Fehlgeburt. Das war vor etwa zehn Jahren. Charlie erinnerte sich noch, wie untröstlich sein Vater gewesen war.

       „Eine traurige Heimkehr, nicht wahr?“

       Charlie zuckte zusammen.

       „Guten Abend, Charles. Ich wollte dich nicht erschrecken...“

       Es war Fennimore Jones, der Vikar der Gemeinde.

       „Eine traurige Heimkehr, in der Tat, wenn einer unserer Lieben während unserer Abwesenheit zu Gott befohlen wird.“

       Charlie senkte den Kopf.

       Vikar Jones trat zu ihm vor das Grab.

       „Ich hoffe, du grämst dich nicht allzu sehr, dass du in den letzten Stunden nicht an seiner Seite sein konntest. Magst du auch nicht an seinem Bett gewesen sein, so warst du doch in seinem Herzen.“

       „Danke, Vikar.“

       „So, junger Charles“, wechselte Jones daraufhin das Thema. „Ich sehe, die diesjährige Fangfahrt ist vorüber. Zufriedenstellend, wie ich hoffe...“

       „Es ... ähm ... es ist nicht so einfach...“

       Charlie fühlte sich unwohl. Er konnte nicht einfach einen Geistlichen anlügen!

       Der Vikar blickte ihn fragend an.

       „Ich weiß nicht...“

       „Hast du etwas zu beichten, mein Sohn?“

       „Nicht ... ähm ... nicht im eigentlichen Sinne“, stammelte Charlie. „Es ... es ist kompliziert...“

       „Die Tore zum Haus des Herrn stehen dir jederzeit offen, mein Sohn.“

       „Charlie! Hier bist du! Ich habe dich schon überall gesucht!“

       Katrina Jørgensens Rufe befreiten ihn aus der Verlegenheit.

       Die Dämmerung hatte eingesetzt. Bald würde es dunkel sein.

       „Guten Abend, Vikar Jones“, grüßte sie freundlich.

       „Guten Abend, Miss Katrina“, erwiderte dieser.

       „Charlie ... warum bist du einfach weggegangen, ohne etwas zu sagen?“

       „Weiß nicht ... schätze, ich musste ein wenig allein sein und nachdenken“, gab er achselzuckend zur Antwort.

       „Komm, Charlie ... die anderen warten schon mit dem Abendessen auf uns...“

       „Dann will ich euch auch nicht länger aufhalten“, sagte Fennimore Jones. „Vergiss nicht, meine Tür steht jederzeit offen. Wir sehen uns am Sonntag zum Gottesdienst!“

       Katrina nahm Charlie bei der Hand und führte ihn heim.

       In dieser Nacht hatte er einen Traum. Er trieb allein im dunklen Ozean. Mit Blitz und Hagel brauste ein Unwetter über ihn hinweg. Er schwamm nach Leibeskräften, doch die verwunschene See war wie Luft und wollte sein Gewicht nicht tragen. Dann plötzlich riss der Himmel auf. Er großer weißer Vogel mit schwarzen Flügelspitzen stieß herab und brachte ihn sicher ans Ufer. Er wollte den Vogel festhalten, umarmen und ihm für seine Rettung danken. Doch der Albatros flog einfach davon.

       Als er am Morgen erwachte, hörte er unten in der Gaststube laute Stimmen. Verschlafen erhob er sich. Aus einer Schüssel, die neben seinem Bett parat stand, spritzte er sich ein paar Tropfen Wasser ins Gesicht. Er stieg in seine Kleider und öffnete die Zimmertür, um zu sehen, was der Tumult zu bedeuten hatte.

       Die Jørgensen-Schwestern mühten sich, eine aufgebrachte Frau zu besänftigen. Sie war in Tränen aufgelöst, kaum bei Sinnen.

       Charlie erkannte sie. Es war Margaret Rhodes, Ehefrau von Perry Rhodes, dem Harpunier, den alle bloß Spunk nannten.

       „Charlie Plumpton!“ kreischte sie, als sie diesen erblickte. „Die Leute im Dorf sagen, du seist zurückgekehrt! Aber da ist kein Schiff ... wo sind die anderen ... wo ist mein Perry?“

       „Beruhige dich, Marge“, redete Anna ihr zu und bugsierte sie auf die Sitzbank an einem der Tische. „Wir klären das schon...“

       Charlies Herz klopfte, als er sich widerwillig die Stufen herunter bewegte. Aber nun war es zu spät, sich in seiner Kammer zu verbergen.

       Katrina sah hilflos zu ihm