Ralf Lützner

Die Irrfahrt des Charles Philip Plumpton


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       „Und was jetzt?“ wollte Charlie wissen.

       Wassertretend klammerten sie sich an den Rand des Fangbootes.

       Emma warf den Kopf nach hinten, um ihr Gesicht von nassen Haarsträhnen zu befreien.

       „Wir müssen irgendwie an Bord des anderen Schiffes gelangen, ohne dabei entdeckt zu werden“, lautete ihre nüchterne Antwort.

       Charlie prustete einen Schwall Salzwasser aus, den ihm der leichte Wellengang in den Mund gespült hatte.

       „Bist du wahnsinnig?“

       „Denk nach, Plum!“ gab Emma zurück. „Glaubst du wirklich, die werden irgendwelche Zeugen zurücklassen, die darüber berichten könnten, was hier passiert ist? Die werden den Kahn hier versenken und nicht eher abziehen, bis sie sicher sind, dass keiner überlebt hat! Der einzige Ort, an dem sie nicht suchen werden, ist ihr eigenes Schiff! Das ist unsere einzige Chance!“

       Die ‚Trafalgar’ kam langsam auf sie zu. Sie hatte sämtliche Segel eingeholt und brachte sich in nun Position, die Backbordseite der weidwunden ‚Eleanore’ unter Beschuss zu nehmen.

       „Unter das Boot ... schnell!“ raunte Emma Charlie zu.

       Sie tauchten mit ihren Köpfen in dem Hohlraum unter dem Bootskörper. Durch die fehlenden Planken des zerstörten Bugs konnte Emma nach draußen spähen.

       „Sie werden ganz auf ihre Steuerbordbatterien konzentriert sein“, ließ sie Charlie wissen. „Wir müssen auf die andere Seite! Los, Plum! Schwimm! Aber nicht zu schnell ... wir müssen wie Treibgut wirken...“

       Mit den Händen fassten sie die Ruderbänke des Fangboots. Vorsichtig schwammen sie vorwärts. Stück für Stück lösten sie sich von den treibenden Trümmern.

       „Warum nennst du mich ‚Plum’?“ fragte Charlie.

       Emma grinste ihn an.

       „Es passt zu dir!“ sagte sie bloß.

       Plötzlich durchfuhr ein heftiger Schlag das Boot. Beinahe hätte Charlie vor Schreck die Ruderbank losgelassen.

       Die ‚Trafalgar’ hatte sie gerammt.

       Sie machte allerdings kaum noch Fahrt. Langsam schrammte das Boot am Schiffsrumpf entlang, bis es endlich zum Stillstand kam.

       Emma blickte hinaus.

       Sie lagen an Backbord. Massig türmte sich die Bordwand des Schlachtschiffs vor ihr auf. Knapp zwei Meter über der Wasserlinie befanden sich die geschlossenen Kanonenluken des unteren Batteriedecks.

       „Dann wollen wir mal“, murmelte sie.

       „Was, wenn sie zum anderen Ende der Welt segeln?“ schoss es Charlie auf einmal durch den Kopf.

       „Unwahrscheinlich“, erwiderte Emma leise. „Sie hat keinen großen Tiefgang. Glaube kaum, dass sie viel Proviant geladen hat ... vielleicht noch nicht einmal volle Besatzung. Still jetzt! Und versuch, das Boot ruhig zu halten...“

       Durch das Loch im Bug zog sie sich auf den Rumpf des Fangboots, während Charlie im Inneren versuchte, dem Seegang entgegen zu wirken. Schließlich gelang es ihr sich aufzurichten und Halt an der Schiffswand zu finden. Ihre linke Hand bekam die Aussparung vor einer Kanonenluke zu fassen. Querverstrebungen außen am Schiff ließen sich als Fußtritt nutzen.

       „Okay ... jetzt du!“ ließ sie Charlie wissen.

       Mühsam kämpfte sich dieser auf das Boot. Es schaukelte und schwankte auf den Wellen, schlug ein ums andere Mal an der ‚Trafalgar’ an.

       Emma streckte ihre rechte Hand aus, um ihm zu helfen.

       Charlie sah zu ihr auf.

       Das durchnässte weiße Hemd klebte förmlich an ihrem Körper.

       Deutlich sichtbar zeichneten sich darunter ihre Brüste ab.

       Sie hatte kleine, feste Brüste.

       „Träumst du, oder was?“

       Charlie griff nach ihrer Hand.

       Donnerschläge ließen das Schiff erzittern. Die ‚Trafalgar’ hatte die ‚Eleanore’ wieder unter Feuer genommen.

       Charlie rutschte ab.

       „Hab dich!“ reagierte Emma sofort.

       Fest schloss sich ihre Hand um seine.

       Endlich fand auch Charlie nun sicheren Halt.

       Das zerstörte Fangboot trieb langsam von der Bordwand der ‚Trafalgar’ fort.

       Emma zückte das Messer aus ihrem Stiefel und stieß es in die Ritze am Rand der Kanonenluke. Behutsam schob sie damit die Klappe einen Spalt breit auf und spähte hindurch.

       Das Deck war breit: mehr als zehn Meter. Auf der gegenüberliegenden Seite sah sie Männer, die eifrigst damit beschäftigt waren, die Kanonen nachzuladen. Schwere 32-Pfünder Munition wanderte in die Mündungen der langen Rohre. Ladestöcke stopften sie tief in die Läufe. Befehle wurden gebrüllt.

       Emma bedeutete Charlie, sich still zu verhalten. Dann öffnete sie die Luke ganz. Sie war gerade groß genug, dass man sich hindurch zwängen konnte. Behände zog sie sich hoch und schlüpfte ins Innere.

       Das Kanonendeck war düster. Das einzige Licht fiel durch die geöffneten Luken der Steuerbordbatterie. Ein leichter Dunst und der Geruch von Schießpulver lagen in der Luft.

       Die Männer an den Geschützen bemerkten sie nicht. Sie waren gerade dabei, die Kanonen mit Seilwinden zurück in Schussposition zu ziehen und neu auf das Ziel auszurichten.

       Emma beugte sich nach draußen und winkte Charlie zu. Sie fasste ihn bei den Händen und half ihm hinein. Vorsichtig schloss sie hinter ihm die Klappe.

       Im Halbdunkel kauerten sie hinter einem der Geschütze. Fünfzehn davon waren säuberlich entlang der Backbordwand aufgereiht. Darüber und in den Zwischenräumen hingen die Hängmatten der Crew von der Decke. Das von Steuerbord einfallende Tageslicht drang kaum bis hierher vor. Vier große, im Zentrum des Decks montierte Pumpen schützten sie ebenfalls vor zufälligen Blicken.

       Trotzdem, hier konnten sie nicht bleiben.

       Von den Decks über ihnen ertönte plötzlich ein Kommando. Daraufhin begannen oben die Kanonen wieder zu feuern.

       „Feuer frei!“ erklang es jetzt auch ganz in ihrer Nähe.

       Die Kanoniere legten die Lunten an. Eins nach dem anderen ließ der Rückstoß die Geschütze auf ihren Lafetten nach hinten springen. Der Höllenlärm brachte die Planken unter ihren Füßen zum Vibrieren. Draußen hörte man das Krachen der Einschläge.

       Im selben Moment, als der Feuerbefehl gegeben wurde, packte Emma ihren Begleiter am Ärmel und manövrierte ihn zu den nächstgelegenen Stufen nach unten. Zuvor stieß sie noch einen Eimer des überall bereitstehenden Löschwassers um, um so die Spuren zu verwischen, die ihre tropfend nasse Kleidung hinterlassen hatte.

       Als das Getöse vorüber war, befanden sie sich bereits im Orlop, dem Unterdeck.

       „Laden!“ tönte es von oben. „Und jemand soll die Pfütze da wegwischen!“

       Laute Schritte näherten sich ihnen.

       Emma und Charlie huschten um die Treppe herum. Sie entdeckten eine kleine Nische, in der ein paar Taue und eine Handvoll rauer Schiffsdecken lagen. Sie hechteten in die Nische und zogen sich hastig die Decken über den Kopf.

       Im nächsten Moment trampelten die Füße mehrerer Matrosen die Stufen hinunter.

       Charles und Emma hielten den Atem an. Bewegungslos und dich aneinander geschmiegt lauschten sie, was die Seeleute wohl tun würden. Charlie spürte den Herzschlag der jungen Frau auf seinem Rücken.

       In einiger Entfernung vernahmen sie ein Rumpeln, unverständliche Stimmen, Flüche.