Ralf Lützner

Die Irrfahrt des Charles Philip Plumpton


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östlicher Richtung mündete hier der Weg von der Rumbrennerei. Ein mit Fässern beladener Eselskarren kam von dort auf sie zu.

       „Nach Coopersville geht es...“

       Ehe er ausgesprochen hatte, musste Charlie feststellen, dass Emma verschwunden war. Er blickte sich um. Nirgends eine Spur von ihr. Er war allein auf der staubigen Straße. Kein Zweig regte sich im angrenzenden Wald.

       Noch einmal seufzte er tief.

       Sie hätte wenigstens Lebewohl sagen können!

       Niedergeschlagen nahm er den Weg nach Westen — nach Hause.

       „Na, wenn das nicht Charlie Plumpton ist!“

       Ratternd hatte der Eselskarren zu ihm aufgeschlossen. Auf dem Kutschbock saß ein dicker Mann in Hochwasserhosen, verschlissener Weste und einem zerfransten Strohhut.

       „Mr. Barthelmé!“

       Seit Charlie sich zurückerinnern konnte, hatte der Mann die Rumlieferungen für das heimische Gasthaus getätigt.

       „Mein Gott, Charlie! Was ist denn mit dir passiert?“ Schmunzelnd musterte ihn der Dicke, schmutzbeschmiert, wie er war: die Stirn zerkratzt, sein Hemd zerrissen. „Bist du in der Wildnis verloren gegangen?“

       „So ähnlich...“

       „Komm, spring auf! Ich fahre sowieso in deine Richtung!“

       Charlie kletterte auf den Wagen.

       Barthelmé schwang eine dünne Peitsche, worauf sich der Esel blökend in Bewegung setzte.

       „Seit wann bist du wieder zu Hause?“

       „Gerade erst angekommen“, gab Charlie zur Antwort.

       „Oh ... das wusste ich nicht.“ Irgend etwas schien Barthelmé unangenehm zu sein. Unruhig rutschte er auf seinem Sitz umher.

       „Stimmt was nicht?“ fragte Charlie.

       „Ah ... ach nichts!“ winkte Barthelmé ab. „Du weißt ja, wie es ist ... ein ständiges Auf und Ab ... mal gewinnt man, mal verliert man. Letzte Woche, zum Beispiel, hat es fast jeden Tag geschüttet wie aus Eimern ... kannst dir ja vorstellen, wie da die Straßen ausgesehen haben! Bin kaum noch mit meinen Lieferungen nachgekommen! Aber, glaubst du, die Leute hätten Verständnis dafür? Meckern und meckern...“

       In diesem Stil plapperte er weiter, bis sie schließlich das Dorf erreichten.

       „Danke fürs Mitnehmen, Mr. Barthelmé“, sagte Charlie und sprang vom Bock.

       „Keine Ursache“, erwiderte dieser. „Du kannst John ausrichten, ich komme auf dem Rückweg vorbei und bringe seine Sachen.“

       „Mach ich.“

       Das Gespann setzte sich wieder in Trab.

       Es fühlte sich seltsam an, nach den Monaten auf See wieder daheim zu sein. Alles war wie immer, und doch kam man sich irgendwie fremd vor.

       Sein Bündel in der einen Hand, die andere in der Hosentasche, schlenderte Charlie den Weg zum Gasthaus entlang. Vorbei an den vertrauten Fassaden der bescheidenen Häuschen. Vorbei am Schweinepferch des alten Donnelly mit seinem dampfenden Misthaufen. Die Leute grüßten ihn freundlich, auch wenn sein ramponiertes Erscheinungsbild den einen oder anderen befremdlichen Blick auf sich zog. Gackernd liefen ein paar von Mrs. MacMillans Hühnern über die Straße. Offenbar hatte diese ihren Hühnerstall noch immer nicht reparieren lassen. Vorbei an der Hütte von Rupert, dem Nachtwächter, der jeden Abend auf ein Bier ins ‚Journeymen’s’ kam, nachdem er die Laternen im Dorf angezündet hatte. Hammerschläge drangen aus O’Neills Schmiede und der Werkstatt von Mr. Strickland, dem Küfer. Der verrückte Bauer Hollum führte wie jeden Tag seine beste Milchkuh spazieren.

       Dann endlich stand er vor dem heimischen Gasthof. ‚The Journeymen’s Table’ war eine umgebaute hohe Scheune. Tagsüber — so auch heute — waren die großen Tore weit geöffnet, damit Licht und Luft in den Schankraum dringen konnten. Zur rechten Seite und nach hinten heraus hatte es Anbauten aus Ziegel. Darin befanden sich Küche, Wohnräume und Gästezimmer.

       Ein Aufschrei des Entzückens erklang aus dem Inneren der Schenke. Eine Frau mit wallendem rotbraunem Haar hetzte heraus. Sie trug ein verschlissenes hellblaues Arbeitskleid. Sie streifte ihre Holzschuhe ab und rannte barfuß auf ihn zu.

       „Charlie! Oh, Charlie!“

       Stürmisch fiel sie ihm um den Hals und drückte ihn derart fest an ihren üppigen Busen, dass ihm zunächst die Luft wegblieb.

       „Oh, Charlie! Ich habe mir solche Sorgen gemacht!“

       Wild bedeckte sie sein Gesicht mit Küssen.

       Katrina Jørgensen war völlig außer Atem, als sie schließlich von ihm abließ. Ihre ältere Schwester Anna und deren Ehemann, John Miller, führten das ‚Journeymen’s’. Sie hatten drei Kinder: John Jr. (10), Oskar (8) und Rachel (5). Damals in New Manchester waren die Plumptons und die Jørgensens Nachbarn gewesen. Nach dem verheerenden Vulkanausbruch war man zusammengeblieben und hatte sich schließlich hier in Coopersville niedergelassen. Charlies Vater, Nicholas, richtete sich im Hinterhof des Gasthauses eine kleine Tischlerwerkstatt ein.

       Katrina war ebenfalls kurz verheiratet gewesen. Einen Tag, bevor sein Schiff in See stach, gab sie dem jungen Matrosen Billy Parker das Ja-Wort. In der Hochzeitsnacht war dieser allerdings zu betrunken, um seinen ehelichen Pflichten nachzukommen. Und am nächsten Morgen brach er zu einer Reise auf, von der er nicht zurückkehren sollte. Gut sieben Jahre war das jetzt her. Katrina blieb bei ihrer Schwester und half im Gasthof aus. Von Männern hatte sie vorerst die Nase voll. Die Leute im Dorf fanden das nicht natürlich. Schließlich war sie nun fast Dreißig!

       Charles und Katrina hatten von jeher ein inniges Verhältnis. Sie wuchsen auf wie Bruder und Schwester. Doch als Charlie älter wurde und zum Mann heranreifte, änderte sich etwas. Auf eine unausgesprochene Art und Weise fühlten sie sich plötzlich zueinander hingezogen. Einmal hatte er sie heimlich beim Baden beobachtet. Er war sich sicher, dass sie ihn bemerkt hatte. Trotzdem wandte sie sich nicht ab, während sie aufrecht in der Wanne stand und ihre prallen Rundungen wusch. Als sie sich danach im Haus begegneten, errötete sie.

       Manchmal träumte er von ihr.

       „Wir haben dich gestern schon zurückerwartet“, keuchte Katrina, nachdem sie ein paar Mal tief Luft holen konnte. „Es kam die Nachricht, dass ihr bereits in Kingstown wart und in den frühen Morgenstunden von dort auslaufen wolltet...“ Mit den Fingern strich sie über die Schramme an seiner Stirn. „...was ist passiert? Du siehst furchtbar aus!“

       Charlie gab keine Antwort.

       Auf einmal begann sie zu weinen. Tränen liefen über ihre Wangen.

       „Katrina ... was ist los?“

       „Es ... ich weiß nicht, wie...“, stammelte sie schluchzend. „...ich ... Charlie ... dein Vater ist tot...“

       Es dauerte einen Moment, bis die Botschaft sich gesetzt hatte. Sein Herz klopfte. Er konnte förmlich spüren, wie er erbleichte.

       „...im August ... während des Mardi Gras“, fuhr sie mit bebender Stimme fort. „Da wurde er plötzlich krank ... bekam Fieber. Zwei Tage später war er...“ Sie vergrub das Gesicht in ihren Händen.

       Charlie zitterte, als er sie in den Arm nehmen wollte.

       „Onkel Charlie! Onkel Charlie!“

       Die Kinder, die beim Haus am Ziegenstall gespielt hatten, entdeckten ihn. Freudestrahlend eilten sie ihm entgegen.

       „Langsam, langsam, ihr Drei!“ musste Katrina sie bremsen. „Onkel Charlie hat gerade erst erfahren, dass Großvater Nicholas von uns gegangen ist...“

       Betrübt senkten die Kinder den Blick.

       „Los ... lauft, und sagt eurer Mutter Bescheid!“ Katrina zog die Nase hoch und wischte sich die Tränen ab. „Komm, Charlie...“