Ralf Lützner

Die Irrfahrt des Charles Philip Plumpton


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„Nennst du das etwa ‚wachsam bleiben’?“

       Er fragte sich, ob er wachte oder träumte, als er die Erscheinung in seinem Zimmer erblickte.

       „Was ist, Plum? Freust du dich nicht, mich wiederzusehen?“

       Zärtlich glitten ihre Finger über seine Lippen, als er gerade den Mund für eine Antwort öffnen wollte.

       „Ssscht...“

       Sie streifte ihre Kleider ab und schlüpfte zu ihm ins Bett. Rittlings setzte sie sich auf ihn. Im Mondlicht, das durch sein Fenster fiel, schimmerte ihr Körper, als würde eine innere Glut in ihr brennen. Die Hand mit dem Albatros kreiste auf seiner Brust.

       Sie beugte sich vor. Wie ein Windhauch strichen ihr Atem und ihre Lippen über sein Gesicht, sodass sich sämtliche Härchen in seinem Nacken aufstellten.

       „Vertraust du mir?“ wisperte sie in sein Ohr.

       Erst jetzt fand er die Sprache wieder.

       „Warum bist du zurückgekommen?“

       Sie richtete sich auf und grinste ihn an.

       „Ich kann ja wieder gehen, wenn dir das lieber ist.“

       Charlie Plumpton sagte kein Wort mehr.

       „Los, Plum! Zieh dich an!“ drängte Emma schließlich. Sie stand bei der Wasserschüssel und wusch sich zwischen den Beinen. „Raus aus dem Bett!“

       Es war tief in der Nacht. Unten in der Gaststube war es schon lange still. Sie hatten eine Öllampe angezündet.

       „Warum? Was ist los?“ fragte Charlie missmutig.

       Er wollte einfach nur liegen bleiben, dicht an ihre Haut geschmiegt ihren Duft in sich aufsaugen, bis er in einen seligen Schlummer fiel.

       „Wir müssen verschwinden!“ entgegnete Emma knapp.

       Sie griff nach seinen Klamotten und warf ihm diese zu.

       „Los, anziehen!“

       Widerwillig fügte er sich.

       „Du könntest mir trotzdem sagen, was eigentlich los ist!“

       „Ich habe dir doch erzählt, dass ich einen Freund in St. George’s treffe“, begann sie daraufhin zu berichten.

       „Und?“

       „Nun ... er behält dort die Vorgänge in der britischen Garnison im Auge ... für meinen Vater. Nicht so wichtig...“

       „Ein Spion?“

       „Ein Freund!“

       „Was für ein Freund?“

       „Nicht wichtig! Nach dem Angriff glaubte ich zuerst, er habe mir gegolten ... also habe ich mich umgehört. Aber sie haben nicht nach mir gesucht ... die wussten gar nicht, dass ich an Bord war. Du warst das Ziel!“

       „Ich?“

       Charlie, der sich gerade in seine Hose kämpfte, stolperte zurück auf das Bett.

       „Glaub mir, ich war genauso überrascht wie du jetzt.“

       „Aber weshalb? Ich habe doch nichts getan!“

       „Ich weiß es nicht“, erwiderte Emma. „Aber das ist im Augenblick nebensächlich! Auf jeden Fall hat man schon lange vor deiner Rückkehr angefangen, Auskünfte über dich und deine Fahrt einzuholen ... bei den Familien deiner Kameraden in St. George’s ... bei den Händlern, dem Schiffseigner ... und wohl auch hier bei deinen Leuten...“

       Charlie war so perplex, dass er zunächst vergaß, sich weiter anzuziehen.

       „Komm, Plum! Trödel nicht!“ hetzte Emma. Sie war bereits fertig angekleidet. Sie nahm die Wasserschüssel vom Stuhl und setzte sich, um in ihre ledernen Stiefel zu steigen. „Wie auch immer ... schließlich hatte man einen Überblick vom geplanten Ablauf eurer Reise ... einschließlich dem geplanten Stopp in Kingstown. Vor ein paar Tagen dann brachte ein anderes Schiff die Nachricht, dass ihr dort vor Anker gegangen wart. Umgehend machte man die ‚Trafalgar’ seeklar. Sie segelten nur mit dem Teil der Besatzung, der als besonders loyal und vertrauenswürdig gilt. Selbst einige der Offiziere wurden zurückgelassen! Der Rest der Crew vergnügte sich redselig mit Schnaps und Huren in den Hafenspelunken. Seit der Rückkehr der ‚Trafalgar’ gab es keine offizielle Verlautbarung über den Zweck ihres kleinen Ausflugs. Man munkelt etwas von einer geheimen Aktion gegen Waffenschmuggler. Und bis jetzt scheint noch niemand einen Zusammenhang mit dem Verschwinden der ‚Eleanore’ hergestellt zu haben...“

       „Aber wie kann das sein? Man muss sich doch wundern?“ warf Charlie ein. „Die Leute müssen doch Fragen stellen!“

       „Es gibt Gerüchte ... Spekulationen. Die Piratengeschichte, die du gestern dieser Frau aufgetischt hast, wird für weiteres Futter sorgen...“

       „Woher weißt du das? Hast du mir nachspioniert?“

       Emma verdrehte die Augen.

       „Natürlich habe ich dich beobachtet! Was denkst du? Du solltest mir dankbar sein! Man weiß jetzt, dass du zurückgekehrt bist! Glaubst du, die lassen dich einfach frei rumlaufen? Falls dich deine saubere Familie nicht ohnehin schon verpfiffen hat...“

       „Wie meinst du das?“ stutzte Charlie.

       „Erinnerst du dich an die beiden Fremden, die hier herumgelungert haben ... erst in der Frühe und dann wieder am Abend?“

       „Vage ... es hieß, sie seien auf dem Weg von Woburn nach Charlotte Town...“

       „Das sind Schläger ... Halsabschneider! Für ein paar Goldstücke machen die für jeden die Drecksarbeit! Und der Wirt hier ... dieser John Miller ... hat sich mit ihnen getroffen!“

       Charlie war fassungslos.

       „Und du glaubst ... John hat sie engagiert, um mich...“

       „Unwahrscheinlich“, entgegnete Emma. „Aber Miller traf sich mit ihnen, kurz nachdem sie gestern früh das erste Mal hier im Gasthaus aufgetaucht sind. Irgendwie steckt er da drin! Ich schätze, er übermittelt ihnen Informationen über dich. Außerdem war die Nachricht über deine Rückkehr schon am frühen Abend am Tag unserer Ankunft nach St. George’s durchgesickert ... das klingt sehr nach einer Quelle aus deinem näheren Umfeld!“

       „Es könnte auch Barthelmé, der Rumlieferant, gewesen sein“, bemerkte Charlie. „Der fährt auch immer nach St. George’s. Er hat mich mitgenommen, kurz nachdem du verschwunden warst...“

       „Egal“, winkte Emma ab. „Tatsache ist ... Woburn und Charlotte Town hatten den Auftrag, dich aus dem Verkehr zu ziehen! Ich kann dich hier rausbringen ... in Sicherheit! Die Vorbereitungen sind bereits getroffen! Bist du fertig?“

       „So gut wie“, gab Charlie zurück.

       Er wusste nicht, was er denken sollte.

       „Ich brauche noch ein paar Sachen...“

       Er raffte die Seemannskluft aus dem Magazin der ‚Trafalgar’ zusammen. Katrina hatte sie gewaschen, den Riss im Hemd genäht.

       Katrina.

       Er hatte ihr alles erzählt.

       Fast alles.

       Emma warf sich einen langen schwarzen Mantel über und trat vor seinen Schrank.

       „Hübscher Anzug“, schmunzelte sie, als sie Charlies Sonntagskleidung erblickte. Sie griff nach der Jacke, die sich ebenfalls darin befand. „Hier ... die kannst du brauchen! Was ist in der Kiste?“

       Die Kiste! Beinahe hätte er sie vergessen!

       „Papiere von meinem Vater“, gab er zur Antwort. „Angeblich sind sie wichtig. Ich hatte noch keine Gelegenheit...“

       „Die kannst du dir später anschauen! Gib mir den Schlüssel!“