Ralf Lützner

Die Irrfahrt des Charles Philip Plumpton


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       „Ich bin nicht blind ... und ich kann selber laufen, vielen Dank!“

       Maulend ließen die drei von ihr ab.

       „Soso ... du bist also zurück“, bemerkte Anna, etwas reserviert.

       „Ja ... ich bin zurück.“

       „Ich nehme an, Katrina hat dir bereits gesagt, dass...“

       Charlie nickte.

       „Es tut mir so leid. Ich wünschte, wir hätten mehr tun können ... aber der Doktor sagte ... irgendwie ... irgendwie schien er den Lebenswillen verloren zu haben...“

       „Setz dich erst mal.“

       Katrina manövrierte Charlie an einen der Schanktische.

       Zu dieser Tageszeit — es war früher Nachmittag — herrschte kein Betrieb im ‚Journeymen’s’. Erst gegen Abend, nach getanem Tagewerk, würden die Dörfler wieder ins Gasthaus strömen.

       „Ich bringe dir etwas Porridge ... dann mache ich Wasser heiß, damit du dich waschen und rasieren kannst.“

       Aufgekratzt und immer noch barfuß huschte Katrina zur Küche.

       „Vergiss nicht, den Boden fertig zu kehren, Schwesterherz!“ rief Anna ihr nach.

       Seufzend bückte sie sich nach dem Reisigbesen, den Katrina achtlos fallengelassen hatte, sobald sie Charlie erblickte.

       „Rachel, mein Schatz ... holst du bitte Tante Katrinas Schuhe herein“, wies sie ihre Tochter an und deutete auf die Holzclogs, die vor der Tür lagen. „Jungs ... habt ihr den Ziegenstall ausgemistet, wie ich euch gebeten habe?“

       „Wollten wir gerade, Mama“, antwortete John Jr.

       „Rachel hat...“, begann Oskar.

       „Keine Ausflüchte!“ erwiderte Anna streng. „Ihr könnt mit eurer Schwester spielen, wenn ihr eure Arbeit erledigt habt...“

       „Ja, Mama.“

       „Entschuldige, Charlie“, seufzte Anna ein weiteres Mal. „Ich habe das Abendessen auf dem Herd...“

       Sie lehnte den Besen gegen die Theke und ließ ihn allein.

       „Onkel Charlie?“ Mit einem Holzschuh in jeder Hand stand die kleine Rachel vor ihm und sah zu ihm auf. „Bist du traurig, dass Großvater Nicholas fortgegangen ist?“

       Erst wusste Charlie nicht, wie er reagieren sollte.

       „Das wird schon wieder, Prinzessin“, entgegnete er schließlich und strich ihr durchs Haar.

       „Ich bin auch traurig“, sagte die Kleine und drückte ihn an sich.

       Dann ließ sie die Clogs fallen und lief hinaus zu ihren Brüdern.

       Katrina kehrte mit einer Schüssel Haferbrei und einem halben Laib Brot zurück. Beides stellte sie vor Charlie auf den Tisch und legte Löffel und Brotmesser hinzu.

       „Iß erst mal...“

       Vom Tresen holte sie einen Krug Ziegenmilch und einen Becher.

       „Danke, Katrina.“

       Sie setzte sich zu ihm und sah ihn erwartungsvoll an.

       „Herr im Himmel!“ erklang eine kräftige Männerstimme. „Sieh nur, wer da ist!“

       John Miller, der Hausherr, betrat die Gaststube. Er schleppte einen schweren Korb voller Kartoffeln, den er lautstark schnaufend zu Boden sinken ließ. Ein Anflug von Überraschung lag in seinem Blick.

       „Hallo, John.“

       Die Männer schüttelten die Hände.

       „Ich sehe mal, was das Wasser macht“, sagte Katrina und eilte zur Küche.

       „Und ... wie war die Reise?“ erkundigte sich John Miller.

       Er wirkte ein wenig angespannt.

       „Durchwachsen“, gab Charlie zur Antwort.

       „Raue Überfahrt, was?“

       Charlie rührte in seinem Porridge. Er fragte sich, wie lange er diesem Thema noch ausweichen konnte.

       „Oh ... Mr. Barthelmé lässt ausrichten, er kommt auf dem Rückweg vorbei und bringt deine Sachen“, fiel ihm gerade noch ein.

       „Ah ... gut“, entgegnete der Hausherr.

       „John, bist du das?“ rief Anna von nebenan. „Hast du die Kartoffeln?“

       „Ja, Liebes!“

       „Dann bring sie mir bitte! Ich brauche noch welche!“

       „Tja ... schätze, die Pflicht ruft!“ lachte John, ein wenig aufgesetzt. „Traurige Sache übrigens mit deinem Vater.“

       Er klopfte Charlie auf die Schulter.

       „John!“

       „Ich komme, Liebes!“

       Er packte sich den Korb und brachte ihn seiner Frau.

       Katrina streckte den Kopf aus der Küche.

       „Das Wasser ist fertig...“

       „Willst du mir nicht sagen, was passiert ist?“

       Am Waschzuber im Hinterhof konnte Charlie sich frisch machen. Nun saß er auf einem Stuhl vor der Werkstatt seines Vaters, wo Katrina ihn rasierte. Er hatte keinen übermäßig starken Bartwuchs, dennoch hatte die Zeit auf See einen borstigen Filz in seinem Gesicht sprießen lassen.

       „Ich merke doch, dass etwas nicht stimmt“, bohrte sie weiter und strich das Messer an einem Tuch ab. „Wir hatten doch sonst nie Geheimnisse voreinander...“

       „Das ist was anderes“, entgegnete Charlie.

       Er kämpfte mit sich, ob er sie ins Vertrauen ziehen sollte.

       „Was es auch ist, du kannst es mir sagen! Selbst wenn du, Gott behüte...“

       Sie bekreuzigte sich.

       „...jemanden umgebracht hast! Ich stehe zu dir! Ich bin für dich da!“

       „Ich habe niemanden umgebracht!“

       „Gott sei Dank!“ atmete sie auf.

       Sie rührte noch etwas Rasierschaum an.

       „Katrina ... das Schiff ist gesunken“, gestand Charlie schließlich.

       „Gesunken?“

       „...nicht einfach gesunken! Es ist versenkt worden!“

       Vor Schreck ließ Katrina den Rasierpinsel fallen.

       „Piraten?“

       „Nein ... britische Kriegsmarine.“

       „Aber warum?“

       Katrina schüttelte sich.

       Sie hob den Pinsel auf und spülte ihn aus.

       „Ich weiß nicht“, erwiderte Charlie. „Aber sie haben keine Zeugen zurückgelassen. Wenn sie herausbekommen, dass ich ebenfalls an Bord war und überlebt habe ... Katrina, du darfst niemandem davon erzählen, hörst du!“

       „Natürlich nicht!“

       Sie zögerte einen Moment. Schließlich legte sie von hinten die Arme um seinen Hals und schmiegte ihre Wange an seinen Kopf.

       „Es wird alles gut“, seufzte sie. „Du bist jetzt zu Hause!“

       Dann griff sie zur Klinge und beendete die Rasur.

       „Da ... hübsch wie ein junger Adonis“, stellte sie zufrieden fest.

       Sie reichte Charlie einen kleinen Spiegel, damit er sich betrachten konnte.