Ralf Lützner

Die Irrfahrt des Charles Philip Plumpton


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Luft hinein zu lassen. Auf leisen Sohlen bewegten sich Charles und Emma auf eine davon zu. Beinahe wäre Charlie auf einem Pfuhl von Erbrochenem ausgerutscht.

       Vorsichtig schlängelten sie sich zwischen dem Geschütz und einer Hängematte hindurch, um die darin schlafende Person nicht aufzuwecken.

       Draußen hörte man das Rauschen des Meeres, Wellen, die sich am Bug des Schiffes brachen.

       Emma half Charlie dabei, mit den Füßen voran in die Öffnung zu steigen. Als dieser sicheren Halt an der äußeren Bordwand gefunden hatte, reichte sie ihm ihre Kleiderbündel.

       Sie wollte ihm gerade nachfolgen, da bemerkte sie plötzlich eine Hand auf ihrer Schulter.

       „Komm, Schätzchen, hab dich nicht so!“ lallte ihr eine Stimme ins Ohr.

       Erschrocken drehte Emma den Kopf. Sie blickte in die Augen eines betrunkenen Seemanns. Seine Lider waren halb geöffnet. Sie spürte seinen säuerlichen Atem auf ihrem Gesicht. Seine Hand strich durch ihr Haar.

       „Komm schon“, sabberte er benebelt. „Du willst es doch auch...“

       Ihr Messer zuckte an seine Kehle. Bei der ersten falschen Bewegung würde sie zustechen.

       Dann jedoch wälzte sich der Mann grunzend in seiner Hängematte herum und schnarchte friedlich weiter.

       Emma musste einen Augenblick nach Luft schnappen.

       „Glück gehabt, du Schwein!“ murmelte sie schließlich, steckte das Messer weg und folgte Charlie durch die Luke nach draußen.

       Erschöpft erreichten sie den Strand. Sie ließen sich in den Sand fallen und streckten ihre müden Glieder von sich, um erst einmal zu verschnaufen.

       Es war eine warme karibische Nacht. Sanft wiegten sich die Blätter der Palmen im Wind.

       „Wir sollten hier rasten“, sagte Emma, während sie sich mühsam auf die Beine kämpfte.

       Sie blickte in den düsteren tropischen Urwald, der sich jenseits des Strandes landeinwärts erstreckte.

       „Es macht keinen Sinn, im Dunkeln weiterzugehen...“

       Dann sah sie hinaus aufs Meer. Die See glitzerte im Mondlicht. Weit draußen konnte man gerade noch die Positionslichter am Heck der ‚Trafalgar’ erkennen.

       Emma löste ihr durchnässtes Bündel und kontrollierte den Inhalt einer kleinen Büchse, die sie aus dem Fundus des Proviantmeisters mitgehen lassen hatte.

       „Wenn sie außer Sicht sind, können wir ein Feuer machen...“

      4. Heimkehr

      Die ersten Strahlen der Morgensonne weckten sie auf. Seicht wogte die Brandung auf den Strand. Sie befanden sich in einer engen Bucht. An deren nördlichen Ende ragte eine felsige Landzunge ins Meer. Davor, im flachen kristallklaren Wasser, erkannte man Korallenbänke. In südlicher Richtung endete der Sandstrand etwa hundert Meter weiter in einer kleinen Spitze. Der Urwald in ihrem Rücken rahmte alles ein.

       Unter einigen Palmen hatten Charles und Emma ihr Lager aufgeschlagen. Das Feuer war inzwischen ausgebrannt. Stumm knabberten sie an etwas Schiffszwieback, den sie halbwegs trocken von Bord der ‚Trafalgar’ retten konnten. Er schmeckte salzig. Sie tranken Wasser aus einer Feldflasche, die sie ebenfalls dort ergattert hatten.

       „Als erstes sollten wir rausfinden, wo genau wir hier eigentlich sind“, sinnierte Emma.

       Ihre überschüssige Kleidung lag auf der Oberfläche eines schweren Findlings ausgebreitet, der sich irgendwie hierher verirrt hatte. Mittlerweile war sie getrocknet. Sie schlugen ihre Decken aus und verschnürten alles wieder zu Bündeln. Emma schlüpfte in ihre Stiefel.

       Sie gingen zur Südspitze des Strandes. Dort angekommen, sahen sie, dass dieser Teil einer noch größeren Bucht war. In einiger Entfernung konnten sie an Land Gebäude ausmachen. Aus einem Schornstein stieg Rauch.

       „Hey, das ist die Rumbrennerei!“ platzte es aus Charlie heraus. „Dann muss das hier Westerhall Bay sein! Von der Brennerei führt ein Weg direkt nach Coopersville ... da wohne ich ... es sind nur ein paar Meilen! Wenn wir uns hier durch den Wald schlagen, müssten wir auf die alte Küstenstraße stoßen ... von da ab ist es ein Kinderspiel! Meine Leute haben ein Gasthaus ... ‚The Journeymen’s Table’ ... du kannst dort erst mal bleiben, wenn du willst...“

       „Danke ... aber ich treffe einen Freund in St. George’s“, entgegnete Emma, kurz angebunden.

       „Oh...“ Charlie war ein wenig vor den Kopf gestoßen. Natürlich hätte ihm klar sein müssen, dass es einen Grund dafür gab, warum seine Begleiterin ursprünglich auf die Insel kommen wollte.

       Aber was war das für ein ... ‚Freund’?

       „Wie auch immer“, wischte Charlie diesen Gedanken erst einmal beiseite. „Wir sollten trotzdem zuerst zu mir gehen ... uns frisch machen ... was Vernünftiges essen. Ich möchte dich meiner Familie vorstellen...“

       „Besser nicht.“

       Charlie konnte seine Enttäuschung kaum verbergen. Er hatte nicht damit gerechnet, so schnell Abschied nehmen zu müssen.

       „Wenn das so ist ... zur Straße geht es dort entlang“, erwiderte er schließlich matt und deutete auf den Waldrand.

       „Warte“, sagte Emma.

       Sie zog ihre Hose runter, hockte sich hin und pinkelte in den Sand.

       Noch nie hatte Charlie eine Frau urinieren sehen. Er musste feststellen, dass es ihn irgendwie erregte. Ihre absolute Gleichmütigkeit, das Fehlen jedweder Hemmungen verstörte ihn im selben Maße, wie es ihn fesselte.

       „Was?“ Fragend sah sie zu ihm auf. „Glaubst du etwa, ich lasse mir im Wald von irgendwelchem Viehzeug in den Hintern beißen?“

       Es dauerte eine Weile, bis sie endlich die Straße erreichten. Immer wieder zwang sie der dichte Dschungel zu Umwegen, wenn es an bestimmten Stellen kein Durchkommen durch das Dickicht gab. Verschwitzt und mit Schrammen übersäht traten sie schließlich ins Freie. Ein Hauch von Zimt und Muskat lag in der Luft. Nicht umsonst nannte man Grenada die ‚Gewürzinsel’. Der beständig wehende Passatwind trieb den Duft von den Plantagen im Norden über das Land. Er machte auch die Hitze und hohe Luftfeuchtigkeit erträglich.

       Die Küstenstraße war nicht viel mehr als eine breite, festgetretene Schneise im Urwald. Spuren von Hufen und Karren waren in die trockene Erde eingebrannt. Jetzt im Oktober, inmitten der Regenzeit, kam es immer wieder vor, dass heftige Regengüsse die Straße in ein kaum passierbares Meer aus Schlamm verwandelten. Zum Glück dauerten die Schauer nie besonders lange an, und die Tropensonne sorgte dafür, dass die Wege rasch wieder begehbar wurden.

       Charles und Emma wandten sich gen Süden.

       „Es ist vielleicht besser, wenn du niemandem erzählst, dass wir uns begegnet sind“, begann sie auf einmal.

       Seit ihrem Aufbruch vom Strand hatten sie so gut wie nicht gesprochen.

       „...am besten wird sein, du erzählst überhaupt nichts von dem Angriff gestern!“

       „Aber man wird mich doch fragen“, entgegnete Charlie. „Man wird sich wundern, dass außer mir niemand heimgekehrt ist.“

       „Sag einfach, das Schiff sei gesunken ... etwas in der Art ... das Schiff ist gesunken, und du bist als einziger davongekommen. Lass dir was einfallen! Das Wichtigste ist, erzähl niemandem von mir!“

       Charlie nickte betreten.

       „Das heißt dann wohl, dass wir uns nicht wiedersehen?“

       Er ließ den Kopf hängen.

       „Hey, guck nicht so“, sagte Emma sanft. „Vertrau mir ... es ist besser so! Es ist gut möglich, dass die Attacke mir gegolten hat...“

       Charlie seufzte