Ralf Lützner

Die Irrfahrt des Charles Philip Plumpton


Скачать книгу

Offenbar wurden sie geschickt, um zusätzliche Pulverladungen aus den Magazinen zu holen.

       Emma und Charlie warteten einen Augenblick, bevor sie sich aus ihrem Versteck wagten. Das Unterdeck war verlassen. Es wurde von Laternen beleuchtet. (Da man sich hier unterhalb der Wasserlinie befand, gab es keinen direkten Lichteinfall von draußen.) Sie nutzten die alten Decken, um sich so gut es ging abzutrocknen. Emma zog ihre Stiefel aus und kippte das darin enthaltene Wasser in das abgelegte Tauwerk. Das Messer steckte sie in ihren Hosenbund.

       Sie sahen sich um. Sie entdeckten die Bordapotheke sowie die Kabine des Schiffsarztes. Deren Tür stand offen. Eine kleine Reisetasche war lieblos auf die Koje geworfen worden, darüber ein Hut und ein einfacher Gehrock. Auf einem Tisch neben der Kabine lag eine Handvoll chirurgischer Instrumente bereit.

       Die ‚Trafalgar’ feuerte eine weitere Breitseite.

       Die nächste Kabine gehörte dem Zeug- und Proviantmeister. Sie erweckte nicht den Eindruck, als sei sie im Augenblick bewohnt. An einem Nagel auf der Innenseite der Tür hing ein eiserner Schlüssel.

       Ein unheimliches Geräusch erfüllte plötzlich das Orlopdeck. Es war das ächzende Knarren von Holz. Entfernt, aber dennoch deutlich. Die ‚Eleanore’ sank! Das Stöhnen der Balken und Planken setzte sich durch das Wasser bis auf die ‚Trafalgar’ fort. Ein letztes Wehklagen, bevor die Tiefe das kleine Schiff endgültig verschlang.

       Vom Oberdeck hörte man dumpfes Musketenfeuer. Einige Männer der ‚Eleanore’ mussten es geschafft haben, bis jetzt durchzuhalten.

       „Besorgen wir uns was Trockenes zum anziehen...“

       Emma griff nach dem Schlüssel und öffnete damit das Magazin des Proviantmeisters. Sie war bereits aus ihrem nassen Hemd geschlüpft und knöpfte gerade ihre Hose auf.

       Anscheinend besaß sie keinerlei Hemmungen, sich vor den Augen eines Mannes auszuziehen.

       Etwas verschämt wandte Charlie sich ab.

       „Was ist, Plum?“ bemerkte sie amüsiert. „Schüchtern?“

       Kurz darauf hatte sie sich aus den spärlichen Beständen neu eingekleidet.

       „Nun mach schon!“ drängte sie Charlie, während sie sich ihr frisches Hemd zurecht zupfte. „Ich verspreche, ich werde dir nichts weggucken!“

       Die ‚Trafalgar’ ließ unterdessen Boote zu Wasser. Marineinfanteristen durchsuchten damit das Trümmerfeld, das die gesunkene ‚Eleanore’ hinterlassen hatte. Mit ihren Bajonetten stachen sie nach jedem Körper, der zwischen den Schiffsresten auf dem Meer trieb.

       Charles und Emma stiegen in den großen Laderaum hinab. Sie befanden sich nun direkt über dem Kiel des Schlachtschiffes. Ein paar Ölfunzeln spendeten stellenweise schwaches, flackerndes Licht. Es gab hier genügend Stauraum, um eine mehrere hundert Mann starke Besatzung für Monate mit Proviant und Trinkwasser zu versorgen. Nun aber war das Lager fast leer. Nur wenige Fässer und Kisten waren zu sehen.

       „Damit kommen sie nicht weit“, stellte Emma zufrieden fest. „Die können gar nicht anders, als den nächsten Hafen anzusteuern!“

       Behutsam tasteten sie sich durch den weitgehend düsteren Raum, stets darauf bedacht, nicht über herumliegende Eimer, Schüppen und Schöpfkellen zu stolpern. Am Heck fanden sie hinter einigen Stützverstrebungen ein besonders dunkles Eckchen. Dort warf Emma das Bündel, zu dem sie ihre Stiefel und feuchten Kleider mit der Decke verknotet hatte, zu Boden.

       „Was jetzt?“ fragte Charlie.

       „Wir warten.“

       Sie bedienten sich ein wenig an den Vorräten: ein paar Schlücke Wasser, etwas Schiffszwieback und Pökelfleisch.

       Sie sprachen kein Wort.

       Zwischenzeitlich wurde es lebhafter an Bord. Nach Beendigung des Angriffs wurde oben Klarschiff gemacht. Die Fahrwache wechselte. Schließlich setzte die ‚Trafalgar’ wieder Segel.

       Sie durchlebten einige bange, angespannte Minuten, als eine Handvoll Seeleute ein Fass Rum aus dem Laderaum nach oben schaffte. Anscheinend gab es Sonderrationen für die geglückte Versenkung der ‚Eleanore’.

       Die blinden Passagiere blieben unentdeckt.

       „Ich gehe mich mal umsehen“, brach Emma nach einer gefühlten Ewigkeit das Schweigen. „Du bleibst hier...“

       „Was hast du vor?“

       „Ich will wissen, was hier vor sich geht ... wohin sie segeln.“

       „Was soll ich...?“

       „Bleib wachsam!“

       Damit erhob sie sich und schlich davon.

       Charlie dämmerte vor sich hin. Im Laderaum war es heiß und stickig. Kaum Frischluft drang bis hier unten in den Bauch des Schiffes vor. Er versuchte, die Ereignisse des Tages zu verarbeiten. Seine Gedanken kreisten aber immer bloß um seine ebenso mysteriöse wie faszinierende Begleiterin. Sie hatte ihn gerettet! Von den 23 Crewmitgliedern der ‚Eleanore’ hatte sie ihn auserwählt! Sie war sein Schutzengel. Sein wunderbarer Schutzengel!

       „Nennst du das ‚wachsam bleiben’?“ schreckte ihre Stimme ihn auf.

       Er musste eingedöst sein und hatte vollends das Zeitgefühl verloren.

       „Was ist passiert?“ fragte er benommen.

       „Sie segeln zurück nach St. George’s“, gab Emma zur Antwort. „Gegen sechs Glasen, glauben sie, dort zu sein. Nur halbe Besatzung...“

       „Eine Ahnung, warum sie uns angegriffen haben?“

       „Nein ... aber es ist wohl ein Grund zum Feiern...“

       Zwei Decks über ihnen hörten sie die Mannschaft grölen und lachen.

       „...die werden stockbesoffen sein, wenn wir ankommen!“

       Wieder hieß es warten. Aufmerksam horchten sie der Schiffsglocke. Alle halbe Stunde wurde diese oben an Deck geschlagen, um den Fortschritt der aktuellen Wache zu signalisieren.

       Zwei Schläge.

       Drei Schläge.

       Die über ihnen feiernde und zechende Mannschaft kam endlich zur Ruhe.

       Vier Schläge.

       Sie lauschten dem leisen Knarren der Planken, während das Schiff ruhig wogend durch die Wellen glitt.

       Als die Glocke fünfmal schlug, raffte Emma sich auf.

       „Es ist soweit.“

       Wortlos griffen sie die Bündel mit ihren Kleidern und stiegen aus dem Laderaum. Auf dem Orlopdeck war es inzwischen finster. Allein in der Kabine des Schiffsarztes, deren Tür nur angelehnt war, brannte noch Licht. Drinnen hörte man das Rascheln von Papier. Entweder studierte der Doktor etwas, oder er sortierte Unterlagen. Lautlos schlichen Charles und Emma vorbei.

       Über die Treppe gingen sie weiter nach oben. Nur noch wenige Lampen erhellten das Batteriedeck, das nun zum Mannschaftsquartier umfunktioniert worden war. Es roch nach Rum und Pfeifentabak. Hinzu kamen die vielfältigen Ausdünstungen der Seeleute, die nun in ihren Hängematten, über den Kanonen baumelnd, ihren Rausch ausschliefen.

       Emma gab Charlie ein Zeichen, zurückzubleiben. Leise öffnete sie daraufhin die Tür zu einer kleinen Kammer am Bug des Schiffes. Sauber aufgerollt befanden sich darin die Ankertrossen der ‚Trafalgar’. Die Klüsenöffnungen an beiden Seiten erlaubten einen Blick nach draußen. Es war eine klare Nacht. An Steuerbord ließ sich im Licht des Mondes Land ausmachen: die Küstenlinie von Grenada. Das Schiff umfuhr demnach den Osten der Insel, um dann von Süden her in den Hafen von St. George’s einzulaufen.

       Emma hatte genug gesehen.

       Das rhythmisch monotone Schnarchen der Männer hatte etwas Beruhigendes an sich. In ihrem alkoholisierten Zustand stellten sie kein größeres Hindernis mehr dar. Die Unterkünfte