Aline S. Sieber

Wolfsfieber


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er dieses Wissen nahm, wusste er nicht. Es schmeckte nicht einmal schlecht.

       Die Hand veränderte ihre Position, damit das Blut nicht wieder durch den Schnitt entwich, der sich quer über seine Kehle zog. Die Männer sahen zu, wie sich der Schnitt langsam schloss.

       Immer mehr gaben sie ihm zu trinken, bis sie sicher sein konnten, dass er mehr als nur überleben und nicht mehr aufgrund eines einzigen Schrittes zusammenbrechen würde. Aber sie waren auch nicht so dumm, ihm mehr zu geben als sie selbst bereits getrunken hatten. Schließlich hatten sie den Jungen nicht gekannt, als er noch am Leben gewesen war. Nach seinem Untod würde er womöglich ein völlig Anderer sein.

      Veränderungen

       Silbergraues Fell, das sich nur schwach vom Hintergrund abhob. Die Schwärze der Höhle um ihn herum. Das Toben des Schneesturms außerhalb. Alles fühlte sich an wie ein Traum. Aber es konnte keiner sein. Er konnte die Muskeln unter dem Fell spüren. Und fühlen, wie er ein- und ausatmete. Er fuhr sich mit der Zunge über seine Reißzähne, bleckte sie. Er hatte Hunger. Und er hatte nicht vor, sich die Beute entgehen zu lassen, Schneesturm hin oder her.

       Mit diesen letzten Gedanken sprengte er hinaus.

      Er war weg! Im ganzen Haus hatten sie Christian nicht finden können. Und es war ebenso unmöglich das Haus zu verlassen, denn der Schneesturm hatte zwar nachgelassen, tobte aber immer noch. Und die Telefonleitung war tot. Sie waren vollkommen hilflos. Selbst wenn sie jemanden erreichen konnten, würde niemand es wagen, bei diesem Sturm auszurücken. Sie mussten warten – und hoffen, dass er irgendwann zurückkam.

       Sein Maul war blutig. Die Jagd war erfolgreich gewesen und er hatte einen Hasen gefangen. Einen Teil des Fleisches hatte er als Vorrat vor der Höhle vergraben. Man konnte ja nie wissen, ob die Jagd in den darauf folgenden Tagen genauso erfolgreich verlaufen würde. Es war nicht gerade leicht, beim Schneetreiben draußen etwas zu erbeuten.

      Anna schnallte sich gerade die Skier an, als ihr Vater aus dem Haus kam.

       Hoffentlich nervt er jetzt nicht!

      Sie verspürte nicht die geringste Lust, sich mit irgendwelchen Fragen abzugeben. Anscheinend war ihr das anzusehen, denn ihr Vater hielt sie nicht auf, sondern ermahnte sie nur, vor Einbruch der Dunkelheit wieder zurück zu sein. Ganz genau wusste sie selbst nicht, was sie eigentlich tun wollte, aber sie wollte die Umgebung auf jeden Fall nach Spuren ihres Bruders absuchen, denn inzwischen war sie sich sicher, dass er irgendwo hier draußen war. Wenn sie ihn fand, würde sie ihm ordentlich die Meinung sagen. Was bildete er sich ein, so einfach mitten in der Nacht während eines Schneesturms zu verschwinden?!

      Die Landschaft sah aus wie immer: unnahbar und über alle Maßen schön und gleichzeitig auch etwas unwirklich. Der Schnee reflektierte das Licht der Sonne und blendete jeden, der keine Skibrille trug.

      Die Loipe war kaum noch zu sehen, man konnte ihre Umrisse nur schemenhaft erahnen. Aber solange sie nicht wusste in welche Richtung Chris gegangen war, würde sie den Spuren derselben folgen.

       Aus dem Dickicht heraus beobachtete er das Mädchen. Irgendwie kam sie ihm seltsam vertraut vor, doch bis jetzt hatte er so viel Abstand gehalten, dass er ihr Gesicht noch nicht hatte betrachten können.

       Was sie jedoch tat, gefiel ihm immer weniger. Je weiter sie in sein Revier vordrang, desto größer wurde sein Unmut. Egal, wer das nun war, er konnte nicht dulden, dass sie ihm womöglich die Beute verjagte.

      Anna schrak zusammen, als sie im naheliegenden Gebüsch ein Rascheln hörte. Besonders beweglich war sie mit Skiern jedoch nicht, sodass sie sich nicht drehen konnte, um nachzusehen. Das Geräusch wurde lauter und sie hörte, wie jemand – oder etwas – durch die Sträucher schlich.

      Sie war stehen geblieben, in der Hoffnung, dass er vielleicht das Interesse an ihr verlieren könnte. Eine Weile lang stand sie einfach da und hörte auf das Rascheln. Ihr stockte der Atem, als ein silbergrauer Wolf aus dem Gebüsch trat.

      Es gab bekanntlich keine Wölfe in ihrer Gegend. Aber trotzdem stand jetzt einer vor ihr, wenn sie nicht den Verstand verloren hatte. Wie war das möglich?

      Meistens jagten Wölfe in Rudeln, dieser hier schien jedoch allein zu sein. Entweder hatte er also sein Rudel verloren, oder war ein Einzelgänger.

      Er kam immer näher, den Blick unverändert auf sie gerichtet. Das Einzige, das sie veranlasste sich nicht sofort umzudrehen und so schnell wie möglich von hier wegzukommen, waren seine Augen. Bisher hatte sie noch nie von einem Wolf mit grünen Augen gehört oder gelesen. In ihrer Bekanntschaft gab es nur drei Menschen mit grünen Augen: Chris, einer der Lehrer aus der Schule und ihre beste Freundin. Sie verwarf den Gedanken wieder. Wie seltsam, einen Wolf mit einem Menschen zu vergleichen! Sie schüttelte den Kopf.

      Der Wolf bleckte die Zähne und knurrte sie an, was sie wiederum zum Anlass nahm, um sich umzudrehen und so schnell wie möglich auf dem Weg zurückzukehren, auf dem sie gekommen war.

       Er sah dem Mädchen noch eine Weile nach, bevor er wieder im Gebüsch verschwand und zu seiner Höhle zurückkehrte. Dort angekommen, grub er den Rest der gestrigen Jagd aus und machte sich daran, ihn zu verspeisen.

      Die Spuren waren frisch. Der Wilderer war erstaunt, ausgerechnet hier, am anderen Ende der Welt, Wolfsspuren zu finden. Wölfe waren selten geworden und ihr Fell ließ sich für umso mehr verkaufen. Wenn sie doch irgendwann einmal ausstarben, dann konnte man vorher wenigstens ordentlich Nutzen daraus ziehen.

      Er würde es seinem Freund berichten. Morgen schon konnten sie auf Wolfsjagd gehen. Aber nicht, ohne vorher genügend Fallen und Fangeisen aufgestellt zu haben. So war es lediglich eine Frage der Zeit, bis der Wolf ihnen in die Falle ging. Betäubungsfeile sowie Fangeisen lagen ja bereit. Höchstwahrscheinlich war der Wolf nur ein Einzelgänger, aber man konnte ja nie vorsichtig genug sein. Einzig und allein die Öffentlichkeit durfte nichts davon mitbekommen, denn sonst würden schon bald Reporter den Wald unsicher machen, um möglichst gute Fotos zu erhaschen.

       Die Gegend hier roch erstaunlich gut. Er fand auch den Geruch des Mädchens wieder. Ähnliche Gerüche waren überall zu entdecken. Er musste in die Nähe ihrer Behausung gekommen sein. Im frisch gefallenen Schnee fanden sich noch keine Fußspuren, also mussten die Menschen noch im Haus sein. Er hielt Sicherheitsabstand zu dem Gebäude, und versuchte, sich möglichst nicht bemerkbar zu machen. Dieselbe Vertrautheit, die er bereits am Tag zuvor während der Begegnung mit dem Mädchen verspürt hatte, stieg in ihm auf. Es schien so, als ob er dieses Gebäude mit den seltsamen Gegenständen und den Menschen bereits kennen würde, als habe er jeden Winkel dieses Platzes zur Genüge erforscht.

       Um das Haus herum wimmelte es nur so von den Bauen der verschiedensten Tiere, die von der Wärme und den Essensresten angezogen worden.

       Es war Zeit, jagen zu gehen.

      Die Spuren des vergangenen Tages waren durch den Wind der Nacht bereits zugeweht. Die Wilderer waren jedoch so erfahren in ihrem Gewerbe, dass sie die Stelle bereits gekennzeichnet hatten. Zu ihrem Pech fanden sie im näheren Umkreis keine weiteren Hinweise auf den Verbleib des Raubtieres.

      Sie teilten sich auf, um eine weitere Fläche absuchen zu können. In der Nähe eines Wohnhauses nahe dem Skihang wurden sie erneut fündig. Die Fußspuren führten zu einer Höhle, die jedoch für einen Menschen zu eng war.

      Anna seufzte, während sie an ihrem Schreibtisch über ihren Hausaufgaben saß. Wenigstens die waren noch dieselben.

      Inzwischen waren schon zwei Tage vergangen, ohne eine Spur ihres Bruders zu entdecken. Erst heute Morgen waren ihre Eltern in die Stadt hinunter gefahren, um festzustellen, ob dort eine Spur von ihm zu finden war. Vergeblich. Es schien fast, als habe es nie einen Jungen mit Namen Christian Hill gegeben, als habe ihn der Erdboden verschluckt.

       Das Haus schien ihn förmlich anzuziehen. Diese Nacht hatte es nicht geschneit, weswegen die Spuren des gestrigen Tages noch gut zu erkennen waren.