Aline S. Sieber

Wolfsfieber


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sich. Das Mädchen trat hervor. Einem Impuls folgend trat er aus dem Dickicht und ging auf sie zu. Sie wich zuerst zurück, stieß dann aber mit dem Rücken gegen die Wand. Ihre linke Hand umklammerte etwas. Er stupste die Hand mit der Schnauze an, um zu zeigen, dass er ihren Inhalt sehen wollte. Sie öffnete zögernd die Hand. Es war eine Kette. Ein Anhänger aus Holz geschnitzt, der einen Wolf darstellen sollte. Der Anhänger, den er ihr zu ihrem letzten Geburtstag geschenkt hatte.

       Er blickte sie an. Anna. Seine Schwester. Dann sah er an sich hinunter. Fell. Nur silbergraues Fell. Wie war es möglich, dass er überhaupt in diesem Körper steckte? Was, wenn es ihm nie wieder gelingen würde, sich zurück zu verwandeln? Hatte sie ihn erkannt?

       Um sicherzugehen, nahm er ihr den Anhänger mit den Zähnen behutsam aus der Hand, legte ihn auf den Boden und hob ihn mit der Pfote wieder auf, um ihn ihr hinzuhalten.

       Ihre Augen wurden groß. Dann nahm sie die Kette wieder in die Hände und hauchte: „Chris?!“

       Sie hatte ihn verstanden. Er jubelte innerlich.

      Es war ihr beinahe unmöglich, den Wolf, der sie aus seinen grünen Augen hoffnungsvoll ansah, mit ihrem Bruder in Verbindung zu bringen, aber ein kleiner Teil ihres Gehirns sagte ihr dennoch, dass es ihr Bruder war, der vor ihr stand. Aber das konnte doch nicht wahr sein! Wieso sollte Christian plötzlich im Körper diese imposanten, bedrohlichen Raubtieres stecken?

      Der Wilderer war für einen Moment sprachlos. Anscheinend hatte der Wolf dieselbe Stelle zweimal hintereinander aufgesucht. Aber noch wunderlicher war, dass diese Stelle nicht unbewohnt war: Dort stand ein Haus! Er schlich so leise wie möglich noch etwas näher heran. Ein Zweig knackte. Der Wolf drehte ruckartig den Kopf und preschte davon.

      Der Mann verdaute das Bild, das er eben gesehen hatte. Vor dem Haus stand ein Mädchen. Sie hielt eine Kette in der Hand, ihre Augen folgten dem Wolf. Dem Wolf, der vor ihr gesessen und seine Schnauze an ihrer Hand gerieben hatte.

       Ein fürchterlicher Schmerz durchzuckte ihn. Es ging von seinem Hinterlauf aus. Er wandte den Kopf, um diesen zu begutachten. Rotes Blut tropfte in den weißen Schnee.

       Er war in eine Falle getappt. Wenn er den Hinterlauf jetzt bewegte, riss er das Fleisch nur noch mehr auf.

       Er musste es trotzdem versuchen. Der Mann, den er vorhin gerochen hatte, war keiner aus dem Dorf, folglich wusste er nicht, was ihn erwartete, wenn er ihm in die Hände fiel. Aber etwas Zeit müsste ihm noch bleiben, da ein Mensch unmöglich im Winterwald genau so gut rennen konnte, wie ein Raubtier. Vorausgesetzt, er konnte sich befreien.

       Etwas stach ihn unangenehm auf der linken Seite. Er vermutete einen Ast, doch als er den Kopf drehte, bemerkte er den kleinen roten Pfeil, der in seiner Seite steckte.

       Kurz darauf begann sich alles zu drehen, bis es schließlich schwarz wurde.

      Die beiden Männer betrachteten das reglose Raubtier, dessen Fell ihnen auf den Schwarzmarkt sehr viel Geld einbringen würde. Aus Erfahrung wussten sie, dass das Fell sich am besten erhielt, wenn sie es dem Tier lebend abzogen. Das war der einzige Grund dafür, dass der Wolf noch am Leben war. Aufgrund des Betäubungsmittels würde er jetzt noch eine Weile schlafen.

      Weiter unten am Berghang lag eine Scheune, die seit vielen Jahren nicht mehr benutzt wurde. Dort würden sie ihn töten, nachdem sie mit ihm fertig waren.

      Anna schnallte gerade ihre Skier an, als ihr Vater aus dem Haus trat. Die Spuren ihres Bruders hatte sie zuvor beseitigt.

      „Morgen, Papa!“

      „ Guten Morgen, Anna! Wo willst du denn hin?“

      „Ich gehe nur mal schnell einkaufen.“

      „Was fehlt uns denn?“

      „Wurst, Toilettenpapier, und unser Brotkorb ist auch fast leer.“

      „Hast du genug Geld mit?“

      „ Ja.“

      „Okay, dann bis später!“

      Sie fuhr den Berg hinunter, einen Weg den sie schon so oft zurückgelegt hatte, dass sie ihn auswendig kannte.

      Als sie zur alten Scheune kam, hielt sie an. Wieso war dort Licht? Das Gebäude war schon so einbruchgefährdet, dass es gefährlich war, es zu betreten. Sie schnallte die Skier ab und schlich sich so gut es ging näher heran. Dann lugte sie vorsichtig um die Ecke.

      Das Bild, das sich ihr bot, war erschreckend:

      Zwei grimmig aussehende Männer knieten um ein am Boden liegendes Fellbündel herum. Nein, das war kein Fellbündel, sondern ein Tier. Ein großes Tier mit silbergrauem Fell. Christian! Er war doch nicht etwa…? Nein, sie weigerte sich, das zu glauben!

      Sie räusperte sich, und die Männer drehten sich um.

      „Das Haus ist einsturzgefährdet. Haben Sie das Schild an der Tür nicht gelesen?“

      Sie tat so, als bemerke sie den Wolf nicht.

      Klaus stieß seinen Kollegen mit dem Ellenbogen an. Dann raunte er ihm zu:

      „Das ist das Mädchen, das oben in der Hütte wohnt. Das Mädchen, von dem ich dir erzählt habe.“

      Zu dem Mädchen gewandt sagte er:

      „Lassen wir das. Wir können auch gleich aufs Ganze gehen. Wir haben den Wolf und sind in der Überzahl. Was willst du?“

      „Ich will, dass Sie meinen …. den Wolf freilassen!“

      Beide Männer glaubten, sich verhört zu haben. Dann brach der Größere in schallendes Gelächter aus.

      „Kleine, entweder bist du ein Naturfreak oder vollkommen durchgeknallt.“

      Anna hatte große Mühe, ruhig zu bleiben.

      „Lassen Sie den Wolf frei!“

       Nur mühsam gelang es ihm, die Augen zu öffnen. Das Betäubungsmittel war immer noch in seinem Blut, und es war stark. Sein verletztes Bein pochte unangenehm, aber er wusste, dass er das ganze Ausmaß der Schmerzen erst dann zu spüren bekommen würde, wenn er vollkommen wach war. Sein Mund war so trocken, als wäre er gerade durch eine Wüste gelaufen.

       Außer den beiden Männern war noch eine andere Person anwesend. Der Geruch war ihm vertraut wie kaum ein zweiter. Es war Anna.

       Die Männer waren gefährlich. Was also wollte sie hier?

       Die Erkenntnis traf ihn wie ein Faustschlag. Sie war seinetwegen hier! Verdammt. Er musste unbedingt verhindern, dass die beiden Wilderer ihr etwas taten.

      Aus den Augenwinkeln bemerkte sie, dass Chris sich bewegte. Erleichterung durchströmte sie. Er lebte also noch!

      „Du solltest besser von hier verschwinden, Mädchen. Weißt du, wir haben beide Waffen, und wenn dir der Wolf so wichtig ist, dann können wir ihn auch genau so gut gleich erschießen. Wenn du dann zur Polizei gehst, kannst du ihn sowieso nicht mehr retten. Es kommt doch öfter vor, dass Raubtiere Menschen anfallen, nicht?“

      „Angenommen, er hätte Sie angefallen, wieso haben Sie dann nicht gleich die Polizei verständigt? Und wieso würden Sie dann Waffen mit sich herum tragen?“

      „Hau einfach ab!“

      „Klaus? Ähm ich glaube, das solltest du dir mal anschauen!“ Der zweite Mann trat unruhig von einem Fuß auf den anderen.

      „Was? Wo ist der Wolf?“ Ruckartig wandte der Größere sich um. Dann kam er mit schnellen Schritten auf Anna zu, packte sie am Arm und zischte ihr hasserfüllt ins Gesicht:

      „Wo ist der Wolf?“

      „Vielleicht dort, wo er ursprünglich sein sollte?“ Aus einer der dunkelsten Ecken der Scheune, hinter einem der alten Kistenstapel trat ein Junge