Hans Landthaler

Mel


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kenne Mel seit der Sekunde, als er in seiner Mutter aufgenommen wurde. Noch im Kriege, am Heiligen Dreikönigstag, deswegen Mel, von Melchior. Er war so winzig, dass er bei der Geburt zwischen den mächtigen Schenkeln fast nicht zu finden war. Sein erstes Atmen, das Öffnen der Augen, den ersten Laut aus seiner Kehle, ich empfing seinen ersten Gedanken. Obwohl mir seine Gedanken alle Zeit zugänglich waren, sind, werde ich aus Mel nicht schlau. Er ist unberechenbar, nichts ist vorhersehbar bei ihm, plötzlich, spontan, überraschend, fast unmenschlich. Er wundert sich nie über sich selbst, er akzeptiert seine Fehler, er ist sich seiner bewusst. Weiß, dass kein Mensch vor und nach ihm, identisch mit seiner Person, körperlich noch geistig. Aus diesem Bewusstsein stammt sein starkes Selbstwertgefühl. Mel denkt und das erheitert und erschreckt ihn zugleich, dass, wenn er gestorben ist, etwas unwiederbringlich vorbei ist. Dennoch hat er keinen Ehrgeiz, etwas von sich zu hinterlassen, was an ihn erinnern würde. Er ist ausgezeichnet zufrieden, dass er sein Leben bekommen hat, lebte und lebt es mit all seiner Energie, bewusst seiner Einmaligkeit. Nun überfällt ihn gleich sein Schläfchen.

      Er ruht im Sitzen, die Augen so weit geschlossen, dass er durch die flatternden Wimpern gerade noch Licht sieht, wiegt sich leicht hin, her, atmet tief, langsam durch die Nase. Er hat sich dieses Sitzschlummern angewöhnt, denn legte er sich nieder, verfiele er in Kürze in Alpträumigkeit, erwachte dumpf, zerschlagen. So im Sitzen erholt er sich und nach einer halben Stunde löst er sich aus der konzentrierten Ruhe.

      Mel fiel es ausnehmend schwer, in der Anfangszeit seines Alleinlebens ruhig und ausdauernd zu schlafen. Es plagten ihn existentielle Ängste, Schauderträume, das Bett erschien ihm so groß wie der See, und er lag unbehaglich in kaltem Schweiß. Mit Anna – als diese noch nicht gemein – verbrachte er die Nächte, in sich ruhend, im selbstverständlichen Schlaf. Ihre Anwesenheit beruhigte, doch sobald sie sich an ihn schmiegte, erwachte er, erwachte bei der leisesten Berührung, rückte von ihr ab, lauschte dann so lange ihrem gehauchten Atem, bis er in den gleichen Rhythmus und wieder in Schlaf verfiel. Auf Sex mit der gemeinen Anna hätte er verzichten können, aber nicht auf die gemeinsame Nachtruhe. Das, was ihn im Besonderen mit ihr verband, die Sicherheit spendende Zweisamkeit der Nacht.

      Mel erwachte stets vor der gemeinen Anna, dösend überdachte er seine Träume, bewegte sich nicht, sonst glaubte sie, er wolle sich aus dem Bett stehlen, verklammert sich sogleich an ihm, um ihre Morgenlust zu stillen. Dies geschah schnell, emotionslos. „Sie masturbiert mit meinem Penis“, dachte er bei sich. Blieb er aber liegen bis sie erwachte, war sie schmusig wie ein Kätzchen und er genoss seinen Orgasmus in ihrer Scheide. So schwierig wie es am Tage mit ihr war, so leicht und zufrieden verbrachte er die Nächte mit der gemeinen Anna.

      Allmählich lernt er, sich aus den Träumen zurückzuziehen, auszusteigen, sie zu beenden. Heute lächelt er im Schlaf, wenn die gemeine Anna auftaucht und beim ersten Wort, stößt er sie aus seinem Kopf. Stattdessen lässt er die Bäuerin sich darin ausbreiten, träumt sie schön - war sie ihm doch zu korpulent - gestattete ihr Anzüglichkeiten und liebt sich selbst, mit ihrem Bild.

      Als Mel im Schlafe, sah ich sie, bei einem Besuch im Bad und sie war wirklich zu dick für ihn, misst Mel Frauen doch noch immer an der kindlichen Körperlichkeit der gemeinen Anna. Als er die gemeine Anna das erste Mal zu sehen bekam, beeindruckte ihn besonders ihre schulmädchenhafte Magerkeit. Sie maß keine eins sechzig und ihre zierliche Zerbrechlichkeit erinnerte ihn ein wenig an diese Frau mit Glasknochenkrankheit, die er bei Freunden kennen gelernt hatte. Ein Menschenpüppchen.

      Eben bei diesen Freunden wurde ihm die gemeine Anna vorgestellt. Er hatte sich später einmal ausgedacht, ob sie nicht so gemein wäre, hätte sie ebenfalls diese Glasknochenkrankheit, und er könnte sie in dem kleinen Räderstühlchen herumschieben und Anna wäre dankbar für seine Liebe. Oft hatte Mel dies gedacht, wenn die gemeine Anna wieder einmal einen ihrer furiosen Anfälle gehabt hatte. Wäre ihre Person so durchsichtig wie ihre Haut gewesen, Mel hätte alle Finger von ihr gelassen.

      Zu regnen hat es begonnen, Mel sein Nickerchen beendet, sucht die Seelinie nach den jungen Schwänen ab, doch selbst mit dem Fernglas sind die noch grauen Vögel in dem bleiernen See nicht auszumachen. Sein Mund ausgetrocknet vom roten Wein, er spürt sein Gaumenzäpfchen hart wie ein Kern im Rachen, dennoch kann er sich nicht aufraffen Wasser zu holen. Den Kopf in die Hand gestützt, sodass sein Kinn Falten schlägt, die Lippen wulstig werden, seufzt vor sich hin. Auf seinem Bett würde er gerne liegen, denkt er, zugedeckt mit der leichten, weichen Decke, dem Getrommel des Regens zuhören, der auf das blecherne Vordach über dem Eingang schlägt. Aber Mel weiß, wenn er jetzt aufsteht, verliert er diese meditative Lethargie, die so wohltuend ist. Musik wäre gut, doch um an das Radio zu gelangen, müsste er sich auch bewegen. Also inszeniert er ein Lippenblasorchester, mit großer Instrumentierung. In seiner seichten Ermattung gibt er erstaunliche Bläsereien von sich.

      Kapitel 2 Miriam

      Ein reales Instrument kann Mel nicht spielen. Improvisiert er auf seiner Mundharmonika, dann hat er getrunken. Mel betrinkt sich nie so sehr, dass er in diese weinerliche Melancholie gerät. Er vertrinkt sich ab und zu, ist dann bedudelt, beschwipst, mag sich dann besonders, schreibt ein Gedicht oder spielt eben Blues, ziemlich atonal, dennoch mag er es. Gitarre erlernen, um in der Band seiner Mitschüler zu spielen, wollte Mel in seiner Jugend. Sein Kopf wollte, doch seine Hände nicht, also ließ er es. Er verschaffte der Band Auftritte, wurde zum Manager ernannt. Aber als Manager bekam er keine von diesen Groupies und erst recht nicht, weil er keine langen Haare hatte. Das hatte ihm seine Mutter untersagt und ihr konnte er nicht widersprechen, liebte er sie von ganzem Herzen. Sie, spielte Klavier, nannte Mel ihr Männlein und er schlief bis in die Pubertät bei ihr im Ehebett.

      Die Mutter sagte, er hätte keinen Vater und Mel akzeptierte dies, denn er wollte ohnehin keinen.

      Andere Jungs beneideten ihn, denn ihm befahl kein Vater. Seine Mutter bat ihn. Mel bitte keine langen Haare… Mel, bitte esse noch ein bisschen … Mel, bitte halte dich gerade, Mel, wie oft muss ich dich noch bitten. Ihm gefiel seine Mutter sehr gut. Sie war groß, schlank, trug den roten Pferdeschwanz bis ins hohe Alter. Eine feine gerade Nase, einen gutmütigen vollen Mund, dunkelbraune sanfte Augen, hohe Brüste, langgliedrige schmale Hände und überall Sommersprossen. Wenn sie am Wochenende solange im Bett blieben, dann bereitete es Mel großes Vergnügen diese Pünktchen zu zählen. Sie lag auf dem Bauch, er neben ihr und fing auf ihren Schultern an, zählte sich hinab über den Po zu ihren Waden, dort hörten die Sprossen abrupt auf. Seiner Mutter bereitete diese diffizile Punktmassage ebenso freudiges Vergnügen. Beim nächsten Mal überprüfte Mel, ob ein neuer Spross dazu gekommen. Sie lagen eng zusammen, erzählt er sich und die Mutter biss Mel, wenn er ein Fürzchen auf ihren Bauch prallen ließ. Ihre gespielte, schamhafte Empörung amüsierte Mel und sie glucksten, lachten zusammen und jeder liebte den anderen am meisten im Leben. Nach einem ebensolchen, liebevollen Gerangel lagen sie friedlich neben einander unter dem Leintuch, mit dem sie sich des Sommers bedeckten und plötzlich spannte sich über Mels Schoß ein kleines Zelt auf. Während die Mutter lächelnd seine erste Erektion enthüllte, war es ihm zuerst ein wenig peinlich, aber als er sah wie stolz die Mutter sein Männlein betrachtete, war er es auch. Die Lehrerin in ihr nützte diese Gelegenheit, um ihn aufzuklären. Dieser Tag wurde nun jedes Jahr als Männleintag gefeiert, bis Mel das Haus verließ.

      Nur das Ehebett erinnerte an den Vater, nachdem er niemals fragte. Als Mel geboren, jagte die Mutter den Mann aus dem Haus. Er hatte mit ihr das Haus gebaut, er hatte mit ihr Mel gezeugt und das war alles, was sie wollte. Sie hatte diesen Handwerker nie geliebt, der Satie nicht von Brahms unterscheiden konnte.

      Mel musste das gemeinsame Bett verlassen, nachdem sie ihn beim Onanieren ertappt hatte. Die eine Hälfte des Bettes wurde ins Arbeitszimmer gestellt, das nun gleichzeitig sein Zimmer war. Die Trennung fiel Mel relativ leicht, zum einen weil er leidenschaftlich masturbierte, zum anderen konnte er weiterhin die Morgen der Wochenenden im Bett seiner Mutter zubringen, um plaudernd den Schlaf ausklingen zu lassen.

      Mel war so glücklich, die ersten beiden Schuljahre von seiner Mutter unterrichtet zu werden. Es war zeitweise sein größter Wunsch, ebenfalls zu lehren. Aber auch nicht mit größter Anstrengung schaffte er das Abitur, was seine Mutter sehr enttäuschte, und als er seine Lehre als Tischler begann,