G. T. Selzer

Sonata Mortale


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Alltags kommen! Leise fuhr sie fort:

      „Ehrlich, es sieht nicht gut aus, Jochen. Ich habe heute wieder zwei Absagen im Briefkasten gehabt. Weißt du, wie viel Bewerbungen ich geschrieben habe in den letzten zwei Monaten? Und diese Wohnung hier, die können wir uns eigentlich gar nicht leisten.“

      „Die Miete, die er uns dafür abnimmt, ist ein Witz! Hast du eine Ahnung, was man normalerweise in dieser Gegend bezahlen muss?“

      „Ich habe nicht gesagt, dass sie zu teuer ist. Es ist nur immer noch zu viel für uns, solange ich keine Arbeit habe. Überlege mal, wie viele Stunden du in der Woche für ihn tätig bist. Stunden, für die du nie einen Cent siehst. Stunden, die dir an der Hochschule fehlen. Du hast selber gesagt, dass sie dir gerne mehr Wochenstunden geben wollen.“

      „Er ist mein Vater!“

      „Deshalb kann er dich doch für deine Arbeit bezahlen“, sagte sie sanft. „Am Geld kann's ja wohl nicht liegen. Und er ist auch nicht knauserig. Er macht sich einfach keine Gedanken darüber. Deshalb solltest du mit ihm reden.“

      „Ach, was tue ich schon Großartiges. Gerade, dass ich ihm das Nötigste vom Leibe halte“, sagte Jochen mehr zu sich selbst. „Und bedenke doch nur einmal, welche musikalische Erziehung Leon bekommt!“

      „Lieber Himmel, Jochen! Leon ist fünf! Muss man in diesem Alter unbedingt von einem Starpianisten unterrichtet werden? Außerdem ist es sein Enkel, das ist also nicht nur ein Gefallen, den er uns tut; seine Eitelkeit kommt das auch zugute, meinst du nicht? Und schließlich“, sie machte eine Pause, „ein bisschen klimpern kannst du doch auch, oder?“

      Jochens Kopf schoss in die Höhe, er sah in ihr spitzbübisches Gesicht und lachte laut auf. Er erhob sich und fuhr seiner Frau zärtlich durch das Haar.

      „Lassen wir das jetzt. Geh ins Bett, du siehst müde aus. Ich werde noch ein bisschen klimpern“, sagte er. „Ich gehe nach unten, damit Leon nicht aufwacht.“ An der Tür drehte er sich noch einmal um.

      „Siehst du, noch ein Vorteil, den wir hier haben. Wo findest du schon ein Haus mit zwei Klavieren, wo ich mitten in der Nacht spielen kann?“

      Brigitte schüttelte seufzend den Kopf. Als ob sie die Vorteile, hier zu wohnen, jemals in Frage gestellt hätte!

      Wenig später erklang leise aus dem unteren Teil des Hauses, wo in Leopold von Bethmanns Salon der große Flügel stand, das Thema der Goldberg-Variationen herauf. Brigitte Eckhoff machte die Tür zum Treppenhaus auf, lauschte kurz zum Kinderzimmer hinund hörte ihrem Mann zu.

      Das Taxi hielt in Unterliederbach in einer Siedlung aus den späten 1950er Jahren mit freistehenden, zweistöckigen, nahezu quadratischen Häusern, alle mit einem großzügigem Garten, Terrasse und schmückenden Erkerfenstern im unteren Stock. Es war ein angestammtes Viertel für Akademikerfamilien und höhere Beamte; in der Zeit seiner Erbauung galt es geradezu als vornehm, und mochte dieses Attribut auch heute nicht mehr zutreffen, so ließ es sich dort doch immer noch sehr gut leben.

      Sonja Müller bezahlte. Langsam ging sie mit Jenny den kurzen Weg durch den kleinen Vorgarten auf die Haustür zu. Jenny wiederholte zum ungefähr zwanzigsten Mal. „Traumhaft, Mama! Es war einfach so wunderschön! Die Leute klatschen wahrscheinlich immer noch.“ Sie seufzte. „Glaubst du, er ...“

      „Pst! - Pst!“

      Das Mädchen und die Frau blieben für einen Moment erschrocken stehen, dann lachten sie.

      „Ja, ich glaube, er kommt heute noch!“ sagte Sonja glücklich und blickte an der Hauswand entlang, von der sich jetzt ein Schatten löste und die Arme aufhielt.

      „Papa!“ Jenny sprang vor und lief auf Leopold von Bethmann zu. „Ich hab's gewusst! Ich hab's gewusst, dass du noch kommst!“

      „Wie könnte ich nicht! Hallo meine Kleine – nein, entschuldige!“ Er hielt sie auf Armeslänge von sich weg und betrachtete sie im fahlen Licht der Straßenlaterne, das in den Vorgarten schien. „Lieber Himmel – du bist ja erwachsen geworden! Ich war doch nur ein paar Monate weg!“ Erschrocken ging sein Kopf zwischen Jenny und ihrer Mutter hin und her. „Kann man das glauben!?“ Er drückte sie an sich. „So eine große Tochter!“

      „Sie ist fast fünfzehn, mein Lieber. Und du hast sie fast jeden Tag übers Internet gesehen.“

      Sonja ging ihm entgegen, er umarmte sie fest und gemeinsam näherten sie sich der Haustür, hinter der jetzt ein lautes Winseln und Kratzen zu hören war. Kaum hatte Sonja aufgeschlossen, schoss ein schokoladenbrauner Labrador auf sie zu, ignorierte konsequent seine beiden Frauchen und sprang an Leopold hoch.

      „Hallo Clara, wie geht’s denn meiner Besten, ja - ja, ist ja gut! Ich bin wieder da!“

      „Skypen heißt das übrigens, Mama!“ tönte es vom Wohnzimmer, wo in Windeseile Handtäschchen, Abendbolero und Ballerinas zwischen Tür und Couch verteilt worden waren, während sich deren Besitzerin bereits wohlig auf einem Sessel räkelte.

      Sonja hängte ihren Mantel auf. „Dich habe ich auch jeden Abend auf dem Bildschirm gesehen, aber was ist das schon?“, murmelte Leopold hinter ihr, während er sie an sich zog.

      Sie drehte sich um und schlang die Arme um seinen Hals. „Ich habe dich doch besucht in London, Paris und Berlin.“

      „Ach die paar Tage!“

      „Bin ich froh, dass du wieder da bist!“

      „Und ich erst!“

      „Warum bist du denn nicht hineingegangen? Uns da draußen einfach aufzulauern!“

      Er küsste sie. „Ich wollte euch nicht erschrecken.“

      „Ach so, wolltest du nicht?“ Sie lachte und löste sich von ihm. „Es war wohl eher dein Sinn fürs Dramatische, gib's zu.“

      Clara tollte neben ihnen her, als sie ins Wohnzimmer gingen, warf sich auf den Rücken, sprang wieder auf die Beine, klopfte mit dem Schwanz Löcher ins Parkett und stieß dabei mitleiderregende Laute aus, die sie abwechselnd als Wimmern, Schluchzen und sehnsuchtsvolles Fiepen inszenierte.

      Leopold ließ sich auf die Couch fallen und stieß einen tiefen Seufzer aus. Die Hündin sprang neben ihn und wurde durch Kraulen belohnt.

      „Ihr wart im Konzert?“ Er zeigte auf die Accessoires der Abendgarderobe seiner Tochter und zwinkerte ihr zu. „Was gab's denn?“

      „Och, nichts Besonderes“, zwinkerte Jenny zurück. „Nur der beste Pianist der Welt.“

      „Übertreib nur weiter!“ Er lächelte sie liebevoll an. „Ich habe nur für euch gespielt!“

      „Du, mein Lieber“, sagte Sonja, die jetzt mit einer Flasche Rotwein und einem Korkenzieher durch die Tür trat, „du spielst immer nur für dich selber! Jenny, hol mal bitte die Gläser!“

      „Mist, wenn man so schnell zu durchschauen ist!“ antwortete Leopold zerknirscht und machte sich an der Flasche zu schaffen.

      „Ach Papa, ich find' dich echt witzig“, kicherte seine Tochter und stellte die Weingläser auf den Tisch. „Ich weiß gar nicht, was die Leute immer haben!“

      „Drei Gläser? Die Kleine auch schon?“ Fragend schaute Leopold zu Sonja hinüber.

      „Papa! Einen Schluck – zur Feier des Tages. Und heute ist Freitag.“

      Sonja nickte leicht mit dem Kopf.

      „Dafür will ich jetzt noch mal das Adagio hören!“

      „Es ist halb zwölf!“

      „Macht nichts, das Haus ist schalldicht.“

      Während Jenny leise die ersten Takte des zweiten Satzes von Beethovens Pathetique anschlug und sich Mühe gab, durchgehend – auch gegen den Willen des Komponisten - einigermaßen piano zu bleiben, saßen ihre Eltern samt Hund auf der Couch und hörten, der eine mehr, die andere weniger kritisch zu.

      „Von