G. T. Selzer

Sonata Mortale


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vor, es wäre umgekehrt!“, flüsterte Leopold zurück.

      Wie immer, wenn Jenny vor ihrem Vater spielte, drehte sie sich danach augenblicklich und mit ängstlichen Augen zu ihm um und sah ihn erwartungsvoll an.

      „Kind, denke daran, was deine Mutter eben gesagt hat: Du musst in erster Linie für dich selber spielen, schiele nicht immer aufs Publikum – und schon gar nicht auf die Kritiker!“, sagte Leopold.

      „Okay. Ab heute höre ich nicht mehr auf dich“, lachte sie.

      Leopold drohte ihr scherzhaft mit dem Zeigefinger. Dann sagte er ernst: „Das war sehr gut, Jenny, den nächtlichen Umständen entsprechend. Besser, als das, was du mir am Sonntag nach Mailand geschickt hast über … über Dings ...“

      „Skype, Papa.“

      „Wie geht es denn unserem Dr. Löwenthal?“, fragte Leopold, als sie die letzte Runde mit Clara durch die stillen Straße gingen, die aufs Feld hinausführte. In dessen Praxis, in der Sonja als Ärztin angestellt war, hatten sie sich vor sechzehn Jahren kennen gelernt. „Der muss doch inzwischen schon über siebzig sein. Ich hätte eigentlich gedacht, er würde dir die Praxis anbieten, wenn er in Ruhestand geht. Hättest du nicht Lust dazu?“

      „Ja, jetzt ginge es, Jenny ist aus dem Gröbsten raus. Aber weißt du,“ sie lächelte verschmitzt. „So ein Angestelltendasein hat schon etwas für sich. Damals, als Jenny noch klein war, ging es ja nicht anders. Geregelte Arbeitszeiten, Stress in Grenzen, Feierabend um sechs, nur ab und zu Bereitschaftsdienst. Man kann sich daran gewöhnen!“

      „Es wäre schon gegangen“, murmelte er leise.

      „Du kennst meine Einstellung dazu“, sagte sie bestimmt.

      „Hast du auch an Jenny dabei gedacht?“

      „Du meinst, das große Haus, die tollen Leute, Presse, Dienstboten, Tourneen, die Tochter eines berühmtes Vaters ...“

      „... ist sie jetzt auch!“

      „Du weißt, was ich meine. Ich wollte nicht, dass sie in diesem Rummel aufwächst!“

      „Und was ich meine, ist Familie, Zusammenleben, Nachhausekommen ...“ Er seufzte. „Sie ist allmählich alt genug. Lass sie selber entscheiden!“

      „Ich habe ihr nie verboten, zu dir ins Dichterviertel zu gehen. Ich habe dich lediglich gebeten, sie mir nicht in deine Welt zu entführen.“

      Nach ein paar Schritten sagte er unvermittelt: „Ich muss dir etwas sagen. Aber“, er drehte sie zu sich herum und sagte ernst: „Du darfst es niemandem erzählen, hörst du? Noch nicht! Nicht einmal Jenny! Das musst du mir versprechen!“

      „Ja, natürlich, wenn du meinst“, sagte sie verwundert.

      Hanna Jablonska rannte, so schnell es eben bei ihr ging, von der Küche in den Flur und erreichte das Telefon, als es gerade sein Klingeln eingestellt hatte. Schwer atmend, als ob sie einen Marathon gelaufen wäre, blieb sie stehen. Mist. Sie musste sich endlich eines dieser Mobilteile kaufen; ihr alter Apparat stammte buchstäblich aus dem letzten Jahrtausend. Doch jedes Mal, wenn sie versuchte, einen Neukauf in Angriff zu nehmen, gab sie schon nach wenigen Minuten auf: Ob im Geschäft oder beim Studieren von Prospekten – ihr brummte der Schädel, wenn sie die Beschreibungen las oder ihr ein flotter Typ im Telefonladen all die Funktionen eines neuen Wunderteils erklärte, von denen sie auch nicht annähernd verstand, was sie bedeuteten. Geschweige denn sich vorstellen konnte, sie jemals zu benutzen. Und so war sie bei ihrem alten Tastentelefon geblieben. Leopold würde ihr einmal mehr helfen müssen, beschloss sie, jetzt, wo sie in der Nähe wohnte und er wieder da war.

      Sie wartete noch einige Sekunden vor dem schönen Biedermeiersekretär, der in der geräumigen Diele stand und auf dem das Telefon seinen Platz hatte. Doch es regte sich nicht mehr. Langsam ging sie in die gemütliche Wohnküche zurück. Ja, sie würde Leopold fragen. Er hatte ihr auch das Handy besorgt – das immerhin besaß sie. Sie benutzte es so gut wie nie, doch sie hatte es immer angeschaltet, greifbar und die Batterie aufgeladen, Dinge, die er ihr eingeschärft hatte. Ein ganz einfaches, ein Seniorenhandy, wie er scherzhaft gesagt hatte – oder war es am Ende gar kein Scherz? Man könne damit telefonieren, meinte er, und mehr nicht. Wobei sie nicht so recht verstanden hatte, was dieses „und mehr nicht“ zu bedeuten hatte.

      Und genau dieses Handy begann jetzt zu klingeln. Es dröhnte laut die ersten Takte der fünften Beethovenschen Sinfonie durch den Raum, während seine Besitzerin sich hastig auf die Suche machte und versuchte, sich von dem lauten Bambambam-Baam nicht aus der Ruhe bringen zu lassen. Schließlich fand sie es in einer alten Jacke, die sie immer zur Gartenarbeit anhatte. Doch inzwischen war es auch verstummt.

      Man konnte sehen, wer angerufen hat und dann zurückrufen, hatte Leopold gesagt. Und wie ging das noch mal? Langsam sank sie auf einen der Stühle, die um den großen Esstisch gruppiert waren, und seufzte. Sie hätte keine Probleme damit, aus dem Stand die Hammerklaviersonate zu spielen und sie konnte das komplette Wohltemperierte Klavier, erster und zweiter Teil, noch auswendig. Doch sie war nicht in der Lage, die Nummer des Anrufers zu ermitteln, weil das Mobiltelefon auf ihre Eingaben schlichtweg nicht reagierte. Leopold hat es dir doch erklärt, sagte sie sich. Aber er war zu schnell gewesen, wie das technisch versierte Menschen oft sind, wenn sie Laien Selbstverständlichkeiten erklären.

      Nach einigen Versuchen gab sie es auf.

      Andererseits – man könnte ja zur Abwechslung einmal den Verstand benutzen, dachte sie, schon im Aufstehen, und ging in den Flur zum Telefon zurück, wo sie Leopolds Nummer wählte und kurz darauf mit einem Lachen, das sie nur zu gut kannte, begrüßt wurde. Na bitte, geht doch.

      „Hast du gelernt, wie man verpasste Anrufe zurückruft?“, fragte Leopold.

      „Nein, aber außer dir kennt kaum einer meine Handynummer. Deduktion der einfacheren Art. Wie geht’s dir? Schön, dass du dich meldest und deine alte Lehrerin nicht vergessen hast.“

      „Wie könnte ich das! Danke der Nachfrage, ich hoffe, dir geht es so gut wie uns.“

      „Ich war am Freitag im Konzert. Hast du ganz nett gemacht, mein Junge, bis auf den winzigen Patzer, du weißt schon. Hat aber keiner gemerkt.“

      „Patzer?“ Gespielte Empörung am anderen Ende der Leitung. „Na hör mal!“ Er lachte wieder. „Sag mal, hast du heute Nachmittag schon etwas vor? Ich würde gerne mal rauskommen und noch jemanden mitbringen.“

      „Sonja und Jenny? Na, endlich! Ich freue mich ja so, sie endlich kennenzulernen! Ich erwarte euch gegen vier.“ Damit legte sie auf; ein Freund von unnötigen Worten war Hanna Jablonska noch nie gewesen.

      Kopfschüttelnd steckte Leopold sein Handy in die Tasche. „Diese Frau! Wie oft habe ich ihr das erklärt! Sie kriegt es einfach nicht auf die Reihe.“

      „Du hast doch gesagt, sie ist erst Anfang Siebzig“, meinte Sonja, die aus dem Flur hereinschaute, wo sie ihren Mantel übergezogen hatte.

      „Aber nicht von dieser Welt. Weiß der Himmel, wo sie lebt. Wahrscheinlich im 18. Jahrhundert.“ Er stand auf. „Ist Jenny fertig? Dann fahren wir.“

      Hanna Jablonska lebte seit knapp sieben Monaten im Rheingau, genauer gesagt in Eltville, wo sie sich nach ihrem Umzug aus Berlin für ihren selbst verordneten Ruhestand ein Haus gekauft hatte. Bei der Suche waren zwei Kriterien wichtig gewesen: ein großer Salon, in den ihr Flügel nicht nur hineinpasste, sondern in dem er auch seinen Klang voll entfalten konnte, und Nachbarn, die weit genug weg wohnten, um sich an ihrem häufig auch nächtlichen Klavierspiel zu stören. Dass das Haus nun auch noch in so traumhafter Lage am Rhein lag, war ein zusätzlicher Glücksfall gewesen.

      Wer ihren Namen von Schallplatten- und CD-Einspielungen kannte, würde in der kleinen, dicken, äußerst unscheinbaren Frau sicher nicht die große Pianistin und Musikpädagogin vermuten, die sie war. Sie kleidete sich – auch zu offiziellen Anlässen - gerne leger, was einerseits daran lag, dass sie mehr Wert auf Bequemlichkeit als auf Eleganz legte, hauptsächlich aber, weil auch das schickste Kleid an ihr nicht sehr viel besser aussah