G. T. Selzer

Sonata Mortale


Скачать книгу

Gemütlichkeit zu verleihen, es jedoch im Laufe der Zeit aufgegeben, diese Atmosphäre aufrechterhalten zu wollen. Davon zeugten die gerahmten Drucke von lebensfrohen, bunten Expressionisten an der Wand, die inzwischen verblasst, blaustichig und schief in ihren mit Staub bedeckten Rahmen hingen. Die Raufasertapeten hätten einen neuen Anstrich nötig gehabt. An jeder der gespülten Keramiktassen auf dem Abtropfboard war ein Stück herausgebrochen. Eine bunte Wachstischdecke, die dem Esstisch ehemals ein wohnliches Flair verliehen haben mochte, sah jetzt nur noch schäbig und schmierig aus.

      Die Kantine hatte zwei Türen. Eine, in deren Rahmen Langer jetzt stand und den Technikern zusah, führte in das Innere des Verwaltungsgebäudes zu den Büros und weiter über einen Flur zu den Werkstätten. Eine zweite, ihr gegenüber, ging in den großen Hof hinaus, auf dem vier, fünf Lkws standen, alle bedruckt mit dem gleichen leuchtend gelb-grünen Logo von MalikTRANS. Die Außentür war unversehrt.

      „Keine Einbruchspuren, auch keine Kampfspuren“, sagte Schulz, einer der Techniker, in diesem Augenblick. „Haben Sie aber sicher schon bemerkt.“

      Langer nickte wieder. Der tote Max Hesselbeck lag zwischen der Küchenzeile und dem Esstisch; die Blutlache war bereits unter die Einbaumöbel der Küchenzeile gesickert. Bei aller Vernachlässigung herrschte eine geradezu vorbildliche Ordnung. Die Stühle standen in Reih' und Glied an ihrem Platz, die Sessel im exakten Winkel zueinander, die Decke lag akkurat ausgerichtet auf dem Tisch, nichts auf dem Boden – außer der Leiche. Ein ordentlicher Täter oder ein sehr überraschtes Opfer. Langer warf noch einmal einen Blick darauf und wandte sich dem Büro zu, in das Korp schon vorausgegangen war.

      Es war offensichtlich eine Art Vorzimmer zum Chefbüro mit zwei Schreibtischen, Stühlen und einem kleinen Beistelltisch, in dem drei Menschen mit teils verängstigten, verwirrten und ungeduldigen Blicken Langer entgegen sahen. Eine schwangere, blonde Frau saß an einem der beiden Schreibtische, ein Mann im korrektem Anzug stand daneben; ein älterer, offensichtlich hochgewachsener Mann mit grauem, dichtem Haar saß halb auf der anderen Schreibtischplatte und ließ sein rechtes Bein nach unten baumeln. Korp stand derweil unbeteiligt an einem der Fenster, die zum Hof hinausgingen. Als Langer eintrat, erhob sich der grauhaarige Mann und kam energisch auf ihn zu.

      „Sind Sie der Chef hier?“, fragte er laut. „Ich bin Werner Malik, mir gehört der Laden. Meine Tochter Lydia Malik, mein Prokurist Alexander Müller.“

      Damit zeigte er auf die verhuschte Frau mit langen, offenen Haaren, die Langer unsicher die Hand gab, und den Mann im Anzug mit exakt gezogenem Seitenscheitel und Brille, dem man den Buchhalter meilenweit ansah.

      „Gehen wir in mein Büro“, fuhr Malik im Befehlston fort. „Da haben wir mehr Platz. Ich nehme doch an, Sie haben die üblichen Fragen und so weiter? Hauptkommissar Langer, nicht wahr?“ Er sah von seinen einhundertdreiundneunzig Zentimetern abschätzend auf den kleinen, korpulenten Hauptkommissar herab, als wolle er ergründen, was von ihm zu halten war. „Den Ausweis können Sie stecken lassen, ich habe schon den von Ihrem Assistenten gesehen.“

      Langer unterdrückte den Wunsch, einen Blick zum Fenster zu werfen, um Korps Reaktion auf die Degradierung zu beobachten, und sagte stattdessen bloß: „Das wird nicht nötig sein, wir können hier bleiben. Oberkommissar Korp braucht zunächst einmal nur einige allgemeine Informationen. Eingehende Befragungen sind sicher nötig, aber nicht jetzt.“

      Er sah, wie Malik schluckte und sein Gesicht sich mit Ärger überzog. Langer kannte diese Typen; sie gaben sich ungern mit Untergebenen ab.

      „Also, was wollen Sie wissen?“, bellte Malik in Korps Richtung. Der gab seine lässige Haltung am Fenster auf, bewegte seine schlaksige Gestalt zu dem zweiten Schreibtisch und setzte sich auf den Stuhl, bevor Maliks Pobacke die Tischplatte wieder in Beschlag nehmen konnte. Umständlich holte er ein Notizbuch aus seinem Designeranzug, suchte in der Jacken-, dann in der Westentasche nach einem Stift und legte beides säuberlich vor sich hin.

      Nun übertreib mal nicht, Korp, dachte Langer, der teils ungehalten, teils belustigt die Vorstellung beobachtete. Einerseits gönnte er Korp die kleine Rache an dem Großmaul, andererseits war er selber nicht gerade mit einer Engelsgeduld gesegnet. Er stand auf. „Ich würde mich gerne mit den Örtlichkeiten etwas vertrauter machen. Herr Müller, wären Sie so nett, mich ein bisschen herumzuführen?“

      Der Prokurist nickte und setzte sich in Bewegung, doch sie wurden von seinem Chef aufgehalten.

      „Wann können die Laster wieder fahren? Sie halten sie da draußen fest; das geht mir ins Geld! Jede Stunde, die die da stehen, kostet mich ...“

      „Tut mir leid, aber wir müssen die Lkws untersuchen, bevor sie losfahren.“ Würde mich aber wundern, wenn wir etwas fänden, setzte er in Gedanken hinzu. Damit trat er mit Müller durch eine weitere Tür auf den Flur hinaus.

      „Sie kennen den Toten?“, fragte Korp, als sich die Tür geschlossen hatte.

      Wie auswendig gelernt, kam es von Malik: „Max Hesselbeck, 36 Jahre, seit Anfang August hier bei uns als Lkw-Fahrer tätig.“

      Korp nickte. Der Tote hatte Führerschein, Personalausweis und Handy in der Hosentasche gehabt. „Wissen Sie etwas über seine Familie? Wen können wir benachrichtigen?“

      Malik zuckt die Schultern. „Keine Ahnung. Er hat nie darüber gesprochen. Vielleicht mit den Fahrern, aber ich glaube nicht. Wir gehen hier eigentlich eher familiär miteinander um, aber er hielt sich sehr bedeckt.“

      „Sind Sie jeden Morgen schon so früh hier? Es ist kurz nach sieben.“

      „Eine Spedition ist keine Behörde, wir sind keine Beamten“, antwortete Malik süffisant. „Hier wird früh angefangen und spät aufgehört. Morgens müssen die Papier zeitig fertig sein, gegebenenfalls umdisponiert, die Fahrer neu eingeteilt werden. Ab halb sechs ist hier jemand im Büro, meist zwei Leute.“

      „Sie auch?“

      Für den Bruchteil einer Sekunde zögerte Malik zu lange. „Ich? Ja, manchmal, nicht immer. Wir wechseln uns ab.“

      „Was redest du denn da. Du bist doch meist nicht vor neun im Büro“, ertönte plötzlich eine ruhige, etwas heisere Stimme vom anderen Schreibtisch. Korp drehte sich verblüfft um. Lydia Malik hatte die ganze Zeit kein Wort gesprochen, er hatte sie fast vergessen. Sieh an, dachte er. Dem Herrn Papa so offen Paroli zu bieten – man würde es ihr gar nicht zutrauen.

      Laut fragte er: „Und Sie sind öfter früh da?“

      Sie nickte. „Eigentlich jeden Tag.“

      „Trotz Ihres Zustands?“

      Ein Lächeln, das sie völlig veränderte, zog über ihr Gesicht. Aus dem verschüchterten, unscheinbaren Wesen war unversehens eine hübsche Frau geworden. „Ich bin schwanger, nicht krank“, sagte sie belustigt.

      „Wie war das heute morgen? Erzählen Sie doch bitte, was genau sich abgespielt hat.“

      Malik ergriff wieder das Wort. „Ich kann gar nicht viel sagen. Herr Müller rief mich vor einer Stunde an und erzählte mir, dass er die Leiche von Herrn Hesselbeck gefunden habe. Ihre Kollegen waren schon da, als ich hier eintraf. Seitdem sitzen wir hier und warten.“

      „Und machen die üblichen Arbeiten“, ergänzte seine Tochter.

      Korp wandte sich ihr zu. „Bitte schildern Sie genau, was Sie heute gemacht haben.“

      „Wir kamen um ...“

      „Wer?“

      „Alexander – Herr Müller - und ich. Wir kamen kurz vor sechs ins Büro, durch den Haupteingang, das heißt, wir haben die Kantine nicht betreten. Zwei Fahrer kamen kurz danach, haben ihre Papiere abgeholt und sind weggefahren. Keiner war um diese Zeit schon in der Kantine gewesen. Das kann ich deshalb mit Bestimmtheit sagen“, kam sie Korps Frage zuvor, der gerade Luft holen wollte, „weil beide Türen der Kantine abgeschlossen waren. Diese hier zum Büro und die nach draußen. Doppelte Vorsichtsmaßnahme. Kurz vor halb sieben, als es etwas ruhiger wurde, ging Alexander rüber, um die Türen aufzuschließen und sich einen Kaffee zu machen. Da fand er ihn.“