G. T. Selzer

Sonata Mortale


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      „Na ja, ein schöner Anblick ist es nun mal nicht“, meldete sich ihr Vater wieder zu Wort. Sein Blick ruhte gedankenvoll auf ihr, alles Herrische war von ihm abgefallen. Korp vermochte den Blick nicht recht zu deuten. Stolz? Besorgnis? Galt das ihr oder seinem Enkelkind?

      „Was war dann? Sie sind zusammen aus der Kantine wieder ins Büro gegangen?“

      „Ja. Ich rief meinen Vater an und Alexander die Polizei.“

      „Sie sind nicht wieder zurück in den Aufenthaltsraum?“

      Lydia schüttelte den Kopf. „Nein. Wir waren auch praktisch gar nicht drinnen. Das konnte man ja von der Tür aus alles sehen.“

      „Wo waren Sie gestern ab etwa sieben Uhr?“

      Vater und Tochter sahen sich an. „Alexander und ich waren im Kino, vorher etwas essen. Wir kamen so gegen zehn nach Hause. Wir gehen früh zu Bett, weil wir ja früh raus müssen.“

      „Sie wohnen zusammen?“

      „Mehr oder weniger, obwohl ich noch meine eigene Wohnung habe.“

      „Und Sie?“, wandte sich Korp an Malik.

      „Ich habe leider keine Zeugen dafür, dass ich zu Hause war. Ich wohne allein.“

      „Wir werden von Ihnen allen Fingerabdrücke nehmen müssen. Die Kollegen melden sich bei Ihnen.“ Korp stand auf und steckte Block und Stift wieder ein. Er hatte keines davon benutzt. „Geben Sie uns bitte möglichst rasch eine Liste mit allen Angestellten, Fahrern und Aushilfen.“

      Lydia nickte. „Das ist kein Problem. Können Sie gleich haben.“ Sie begann bereits, im Computer herumzuwühlen. Kurz darauf nahm der Drucker neben ihr leise seine Arbeit auf und spuckte zwei Blätter aus. „Im Büro arbeiten noch drei weitere Kollegen. Frau Schuster, die um zwei Uhr nachmittags kommt und mich ablöst, wenn ich nach Hause gehe; sie arbeitet bis um acht Uhr abends. Dann noch eine Auszubildende von neun bis sechs. Ebenso wie Herr Schröter, der bald in Rente geht.“

      „Wann ist hier Büroschluss?“

      „Nach acht ist hier keiner mehr.“

      Korp nahm die Liste an sich und warf einen Blick darauf. „Gibt es sonst noch Personen, die regelmäßig hier sind? Kunden? Putzleute?“

      „Die Putzkolonne geht abends gegen sieben hier durch. Kunden werden drüben in Vaters Büro empfangen“, antwortete Lydia. „Sonst wüsste ich nicht ...“

      Nein, dachte Korp. Von außen kam der nicht. Es sei denn, jemand hätte ihm einen Schlüssel gegeben oder ihn eingelassen.

      „Nein, natürlich habe ich nichts angefasst, als ich in die Kantine kam“. Alexander Müller hatte Langer die restlichen beiden Büros gezeigt, inklusive dem Allerheiligsten des Chefs, die große Werkstatt nebst unordentlichem Büro, das in einer Ecke untergebracht war, und trat jetzt mit dem Kommissar auf den Hof hinaus. Fahles, noch zögerliches Sonnenlicht machte sich allmählich breit, sparte noch etliche Ecken aus und würde auch im Laufe des Tages nicht zu seiner vollen Kraft finden. Dafür war die Wolkendecke zu dick.

      Und wenn schon, dachte Langer. Finger- und sonstige Spuren von allen Mitarbeitern gibt es ohnehin zuhauf überall im Betrieb.

      „Ich bin ja eigentlich gar nicht hineingegangen, denn als ich Max da liegen sah ...“, hob Alexander Müller wieder an.

      „Haben Sie nicht nachgesehen, ob er vielleicht noch lebte?“

      „Nein, das Blut war teilweise schon an den Rändern verkruste – oh, mein Gott, ich habe so etwas noch nie gesehen.“ Er schüttelte sich.

      Was zwar nicht mit absoluter Sicherheit heißen muss, dass er schon tot war, dachte Langer, doch hatte Dr. Eilers den Tod auf den Abend vorher eingegrenzt.

      „Wie lange arbeiten Sie schon hier?“

      „Oh“, Alexander Müller winkte ab. „Schon ewig, seit zweiundzwanzig Jahren, um genau zu sein. Ich habe hier Speditionskaufmann gelernt, da war der Senior noch da, danach Lehrgänge in Buchhaltung gemacht, und vor kurzem hat mich Herr Malik zum Prokuristen ernannt.“

      Langer rechnete nach. Der Mann mochte knapp vierzig sein; das heißt, er hatte wahrscheinlich nie eine andere Arbeitsstelle gesehen. Einer von den Treuen, dachte er. Einer, der sich nicht an Veränderung gewöhnen würde. Er dachte an sich selber. Ja, er konnte verstehen, dass es solche Leute gab.

      „Sie hätten es sicher schon früher verdient, die Prokura zu erhalten“, meinte er beiläufig.

      „Ach wissen Sie, ich bin nicht sehr ehrgeizig. Aber jetzt, wo das Baby bald da ist, ist das anders.“

      „Ach so, Sie und Frau Malik …?“

      Alexander Müller lächelte. „Ja, wir wollen heiraten. Erst wollte Werner ja, dass Lydia die Prokura bekommt. Aber sie legt keinen Wert darauf. Sie möchte bald zu Hause bleiben und für das Baby da sein.“

      Trautes Familienglück im gemütlichen Familienbetrieb, dachte Langer ironisch. Wenn da nicht die Leiche neben dem Esstisch läge.

      „Gut, dass wir Beamte mit geregelten Arbeitszeiten sind“, meinte Korp in spöttischer Anspielung an Maliks Bemerkung und gähnte. Es war acht Uhr morgens, und er war seit fast drei Stunden auf den Beinen, ohne auch nur einen Kaffee getrunken zu haben. Sie fuhren Richtung Präsidium und hatten die ungünstigste Zeit des Tages erwischt, um stadteinwärts zu fahren; neben, vor und hinter ihnen staute sich die arbeitswillige Bevölkerung des nördlichen Rhein-Main-Gebietes auf dem Weg zu Werkshalle, Büro und Schule.

      „Wir könnten ja eigentlich im Einsatz sein und ...“, Korp sah seinen Chef fragend an.

      „Nein, lassen Sie mal die Sirene weg. Also: Als erstes Computer checken nach diesem Max Hesselbeck. Vorstrafen, Umfeld, Familie. Jemanden muss es doch geben. Ich habe im Hof mit einem der Fahrer gesprochen, die noch da waren, und mit den beiden Mechanikern. Keiner hat anscheinend Max Hesselbeck näher gekannt. - Obwohl es doch ein recht kleiner Familienbetrieb ist“, setzte er hinzu.

      „Er war ja auch erst ein paar Monate im Betrieb“, meinte Korp, indem er wieder drei Meter vorrückte. „Übrigens – wie wär's, wenn Sie Schmidtbauer schon mal anriefen wegen der Recherche im System. Das macht der doch so gern“, schlug er vorsichtig vor. „Dann sind die Ergebnisse vielleicht schon da, bis wir ankommen.“

      Langer warf Korp einen Blick zu und zückte sein Telefon. Nachdem er dem jungen Kriminalobermeister die Daten durchgegeben hatte, lehnte er sich zurück. Zwei Minuten später hörte Korp neben sich ein leises Schnarchen.

      „Der Mann heißt eigentlich Manfred Becker, und wir kennen ihn sehr gut“, begrüßte Jens Schmidtbauer einen ausgeruhten Hauptkommissar, bei dem der zwanzigminütige Tiefschlaf wahre Wunder vollbracht hatte. Korp machte den Durchmarsch zur Kaffeemaschine, brachte sie dazu, unter lautem Röhren aromatische, dunkelbraune Flüssigkeit zu produzieren, und hörte mit halbem Ohr zu.

      „Zwei Jugendstrafen wegen Einbruchdiebstahl, danach Verurteilungen wegen leichter Körperverletzung und weiteren Einbrüchen. In den letzten Jahren vermehrt Verdacht auf Menschenhandel und Zuhälterei im großen Stil, Anklage wurde aber keine erhoben, weil die Beweise nicht ausreichten. Genau das gleiche bei einem Totschlag in einer Bar im Bahnhofsviertel. Geklärt wurde das nie; Verdachtsmomente gab es genug, doch keine Beweise. Seit zwei Jahren kein Eintrag mehr.“

      „Ein ganz Netter also“, brummte Korp aus seiner Ecke, während er seinen Espresso schlürfte.

      „Familie, Verwandte?“

      Schmidtbauer zuckte die Schultern. „Eltern sind beide unbekannt, ist in Heimen aufgewachsen. Scheint keiner gewesen zu sein, der Kontakte pflegte.“

      „Was hat er gemacht, bevor er in die Spedition eintrat?“

      „Betreibt drei Bars im Bahnhofsviertel. Dorthin kehrte er nach jedem Gefängnisaufenthalt wieder zurück.“

      „Danke, Schmidtbauer,