G. T. Selzer

Sonata Mortale


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Herz begann, ihr Probleme zu machen - und darauf beschränkt, einigen Auserwählten Unterricht zu geben. Leopold von Bethmann hatte schon früh dazu gehört; und anders als zu anderen Schülern, die kamen und gingen, hatte ihre Bekanntschaft die Zeiten überdauert und war zur Freundschaft geworden. Hanna kannte seine Familie aus zahlreichen Erzählungen, hatte Sonja und Jenny aber nie kennengelernt. Jetzt, da sie in der Nähe wohnte, würde sich das ändern, und sie freute sich darauf.

      Jeder, der Hannas Wohnzimmer betrat, wurde magisch angezogen von der Reihe französischer Fenster, die der Tür gegenüber lagen und einen prächtigen Blick auf den Rhein frei gaben. Der Garten vor den Fenstern fiel zur Uferpromenade ab. Dahinter floss ruhig der große Strom. Eine Sitzecke war so platziert, dass sie den Blick auf dieses Panorama freigab; die rechte Wand wurde von Bücherregalen eingenommen, die bis zur Decke reichten.

      Als Sonja, Leopold und Jenny, die Hündin Clara im Schlepptau, nun diesen Raum betraten – sie hatten in Wiesbaden in einem Lokal am Rhein zu Mittag gegessen und waren nun zur verabredeten Zeit in Eltville eingetroffen – blieben sie einen Moment überwältigt stehen. Es war ein herrlicher Herbstsonntag. Hell und luftig durchflutete die Oktobersonne das Zimmer, unten zog der Fluss als silbernes Band vorbei, und von der Königsklinger Aue, einer Insel mitten im Rhein, glitzerte das Laub der Bäume in allen denkbaren Gold- und Rottönen herüber. Leopold kannte die Wohnung, war aber nur ein Mal hier gewesen, bevor er zu seiner Tournee aufgebrochen war.

      „Einen Glücksgriff hast du da getan, Hanna“, sagte er. „Man kann dir wirklich nur gratulieren!“

      Recht ungeschickt versuchte Hanna, ihren Stolz zu verbergen, und sagte forsch: „Kaffee ist schon fertig. Setzt euch. Ich habe hier vor den Fenstern gedeckt.“

      Sonja trat zum Bücherregal. Zu ihrer Überraschung stellte sie fest, dass es hauptsächlich mit Kriminalromanen jeglicher Provenienz und Epoche gefüllt war. Beginnend mit Poe, Wilkie Collins und Arthur Conan Doyle waren sie alle vertreten: die klassischen Engländerinnen, die harten Schweden, die rationalen Franzosen, die eigenwilligen Italiener, die vielseitigen Amerikaner, die Nachzügler aus Deutschland. Daneben standen etliche wissenschaftliche Abhandlungen über den Kriminalroman – Sonja hatte gar nicht gewusst, dass es so etwas überhaupt gab.

      Sie hörte Hanna in der Küche hantieren und besann sich auf ihre gute Erziehung. „Kann ich Ihnen etwas helfen?“, fragte sie, als sie ihr folgte.

      „Ich heiße Hanna, und wir duzen uns“, erwiderte Hanna bestimmt. „Ja, hier, nimm doch bitte das Kuchentablett.“

      Sonja lächelte. Man sollte sich nicht von ihr täuschen lassen, dachte sie. Die kurze, aber scharfe Musterung, die Hanna ihr an der Tür hatte angedeihen lassen, war nicht unbemerkt geblieben und hatte Sonja gezeigt, dass sich hinter dem harmlosen, ja unbeholfenen Äußeren ein äußerst wacher Verstand verbarg. Doch offensichtlich war diese erste Begutachtung zu ihren Gunsten ausgefallen, was Sonja auch Leopolds unmerklichem Nicken entnahm, das sie auffing, als sie nach der Begrüßung zusammen ins Haus gingen. War er erleichtert gewesen? Erst jetzt wurde ihr bewusst, dass zumindest sie diesem ersten Treffen einigermaßen nervös entgegen gesehen hatte – fast so, als würde sie seiner Mutter vorgestellt werden.

      „Du musst die Tasten erst entsperren“, sagte Leopold, als sie zusammen am Tisch saßen und der erste Kuchenhunger gestillt war. Er nahm Hannas Mobiltelefon in die Hand. „Schau mal her: Es ist eine Tastensperre eingebaut. Die verhindert, dass ungewollt eine Nummer angewählt wird, zum Beispiel, wenn du das Handy in der Handtasche hast und irgendetwas darauf drückt. Die Sperre wird nach 30 Sekunden aktiv. Erst wenn du dann eine Kombination von zwei bestimmten Tasten drückst – siehst du, hier und hier – kannst du wieder telefonieren.“

      Hanna schaute konzentriert zu, nickte und schwor, es jetzt endgültig verstanden zu haben und nicht wieder zu vergessen.

      Es wurde ein in jeder Beziehung harmonischer Nachmittag. Jenny musste natürlich vorspielen, was sie trotz ihres offenkundigen Lampenfiebers bravourös meisterte, Hanna und Leopold spielten vierhändig, und Clara zeigte sich von ihrer allerbesten Seite.

      Montags früh war es am schlimmsten. Es war, als hätten sich die Patienten mühsam über das Wochenende geschleppt, sämtliche Beschwerden und Wehwehchen der letzten drei Tage gesammelt, um dann montags pünktlich um acht Uhr in der Praxis zu erscheinen und die Last ihrer Symptome vor verständnisvollen ärztlichen Ohren abzuladen. Es waren hauptsächlich Klienten jenseits der Fünfundsiebzig, die viel Zeit mitbrachten. Geduldig saßen sie im Wartezimmer, trafen den einen oder anderen Bekannten und nutzten die Gelegenheit, Erfahrungen mit Krankheitsbildern, Medikamenten oder auch Fachärzten auszutauschen, zu denen sie eventuell überwiesen werden könnten.

      „Nein, zu dem Dr. Kruse sollten Sie auf keinen Fall gehen! Die Freundin meiner Cousine war ja so unzufrieden mit ihrer Hüfte!“ - „Ach glaawese doch net alles, was die Leut so schwätze! Des stimmt doch gar net. Meine Schwester hat er ...“ - „Ich sach Ihne, die wolle all nur schnelles Geld, da sinnse all gleich. Das letzte Mal, wie ich hier war, warn's kaa drei Minute, wo ich widder draus war!“

      Nichtsdestotrotz schilderten sie dann in der Sprechstunde weitläufig und in aller Ausführlichkeit ihre Beschwerden, die in der Regel denen ihres letzten Besuchs auf Haar glichen. Und jeder erwartete individuelle Aufmerksamkeit, geduldiges Verständnis und das Gefühl, sein Problem sei einzigartig auf dem gesamten Erdkreis. Dabei war die Diagnose letztendlich in fast allen Fällen so einfach wie frustrierend, weil unabänderlich: Es war das Alter. Verschleiß, Abnutzung, Verfall. Von Knochen, Gelenken, Organen, Gewebe. Mit vierzig hat der Körper seine beste Zeit hinter sich, pflegte Löwenthal zu sagen, danach geht’s bergab. Man kann es etwas abbremsen durch gesunde Lebensweise, aufhalten kann man es nicht.

      Dr. Karl Löwenthal war genau der Typ Arzt, der seine Patienten – ohne dass er es wollte – in ihrem Verhalten bestärkte, ein geduldiger, erfahrener praktischer Arzt alter Schule aus einer Zeit, in der es noch nicht für jeden einzelnen Muskel im Körper einen hochqualifizierten Spezialisten gab, als Hausärzte auch in der Stadt noch ihren Namen verdienten, weil sie Hausbesuche machten, ein Arzt, der das Wort Ganzheitsmedizin praktizierte, bevor es in aller Munde war. Er war noch immer eine imposante Erscheinung für seine vierundsiebzig Jahre, mit vollem, weißem Haar, markanten Gesichtszügen und gütigen Augen, die in der Lage schienen, das Leid der ganzen Welt in sich aufzunehmen. Nicht ausgeschlossen, dass die Beschwerden einiger Damen bei dem Gedanken an ihn schlagartig zunahmen und weitere Besuche nötig machten. Nie hatte man von ihm ein abfällige Bemerkung über seine Patienten gehört, und seien es noch so belanglose Zipperlein, mit denen sie zu ihm kamen.

      Als Sonja am Montag nach diesem schönen Wochenende beschwingt die Praxis betrat, konnte ihr auch das bereits volle Wartezimmer nicht viel anhaben. Löwenthals Patienten hielten ihm die Treue und waren mit ihm alt geworden. Und davon, dass er so ungemein beliebt war, profitierte sie schließlich auch: Eine zusätzliche angestellte Ärztin musste eine Praxis erst einmal verkraften können. Andererseits hatte sie etwas frischen Wind in die Räume gebracht, als sie vor fünfzehn Jahren hierher kam, hatte behutsame Renovierungen in den Zimmern, aus denen der Mief der siebziger Jahre atmete, vorgeschlagen und durchgesetzt, neue Geräte angeschafft und jüngere Leute angezogen. Einige Male hatte sie erlebt, dass ältere Patienten sie ablehnten und lieber zu dem „richtigen Doktor“ gehen wollten, doch das waren Ausnahmen. Sie war nicht promoviert, und der Name Sonja Müller auf dem weißen Schild an der Tür nahm sich vergleichsweise bescheiden aus unter dem altertümlich-imposanten Dr. med. Karl Löwenthal, Praktischer Arzt und Geburtshelfer. Doch vor fünf Jahren war ein neues Schild in Auftrag gegeben und unter ihren Namen Fachärztin für Allgemeinmedizin gesetzt worden.

      „Guten Morgen, Frau Müller, gut, dass Sie da sind“, Waltraud Peters, die Sprechstundenhilfe, wedelte mit dem Telefonhörer in Richtung Eingangstür, die Sonja eben durchschritten hatte. „Der kleine Jens vom Freitag, Sie erinnern sich, hier seine Mutter.“ Damit drückte Frau Peters zwei Knöpfe und zeigte in Sonjas Behandlungsraum. „Ich hab's reingelegt.“

      Und schon wieder mitten drin, dachte Sonja, zog hastig den Mantel aus und griff zum Hörer, stellte einige Fragen und beruhigte die aufgeregte Frau am anderen Ende der Leitung.

      „Nein, nein, das ist