G. T. Selzer

Sonata Mortale


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dachte sie. Schade, dass wir uns nicht früher kennen lernen konnten. Sie lächelte vor sich hin und nahm sich vor, den Kontakt zu pflegen, wie sie es beim Abschied versprochen hatte, auch wenn Leopold nicht dabei war.

      „Das ist schön, so gute Laune an einem verregneten Montagmorgen!“ Löwenthal hatte die Verbindungstür zwischen den beiden Behandlungsräumen aufgezogen, so gut dies mit den beiden Kaffeebechern in der Hand ging, die er jetzt vorsichtig auf ihrem Schreibtisch abstellte. Es war zum Ritual geworden, dass sie sich montags vor Arbeitsbeginn ein paar Minuten zusammensetzten, um das Nötigste zu besprechen. Wobei, schätzte Sonja, Löwenthal sicher bereits seit einer Stunde hier war. Seit dem Tode seiner Frau kam er früher und ging später.

      „Ja, wir waren im Rheingau, hatten Glück mit dem Wetter und haben jemanden Nettes kennengelernt. Die ehemalige Klavierlehrerin von Leopold. Sie ist kürzlich erst von Berlin hierher gezogen. War schön“, sagte sie.

      „Wie geht es ihm denn? Sie waren sicher im Konzert am Freitag?“

      „Danke, es geht ihm gut. Er will mal wieder vorbei kommen. Und natürlich waren wir im Konzert!“ Sie lachte und nahm ihren Becher in beide Hände. Sie lacht gerne, dachte der alte Mann, das tut gut. Er hatte noch keine Stunde bedauert, sie eingestellt zu haben.

      Sie gingen die wichtigsten Fälle durch; dem Alter der Klientel entsprechend waren es meist Befunde, die von Orthopäden, Urologen, in schlimmeren Fällen auch von Onkologen zurückkamen. Löwenthal kannte jeden Patienten persönlich und war gerne auf dem Laufenden. Anfangs hatte Sonja dies befremdet und war ihr als Bevormundung vorgekommen, doch er sprach seine wichtigen Fälle genauso mit ihr durch.

      Zehn Minuten später gingen sie zusammen zur Theke nach draußen, um die ersten Patientenakten in Empfang zu nehmen.

      Der Vormittag verging rasch, und als Sonja in eine verspätete, kurze Mittagspause aufbrach, klingelte ihr Handy.

      „Ich bin's, Hanna“, meldete sich die Anruferin. „Ich störe dich nur kurz. Mir war danach, dir zu sagen, wie sehr ich mich über euren Besuch gestern gefreut habe.“

      „Das ist aber nett von dir. Und du störst gerade gar nicht.“

      „Lass uns das öfter machen, auch wenn Leopold nicht da ist. Ruf einfach an und komm vorbei.“

      „Gedankenübertragung!“, lachte Sonja. „Ganz ähnlich habe ich heute auch schon gedacht. Aber das nächste Mal bei uns in Frankfurt.“

      „Na, wunderbar! Dann arbeite mal schön weiter und mach die Leute gesund! Bis dann.“

      Wie meistens bei Hanna endete das Gespräch abrupt, es war alles gesagt. Lächelnd steckte Sonja ihr Handy ein und verließ die Praxis, um sich einen Salat beim Italiener um die Ecke zu genehmigen. Unterwegs holte sie noch einmal das Telefon hervor, um kurz Leopold anzurufen, verwarf den Gedanken aber gleich wieder. Ihr war eingefallen, dass er heute und morgen Gespräche mit dem Vorstand der Musikakademie hatte.

      Kapitel II

       Kapitel 2

      Sein Leben lang hatten ihn Menschen begleitet, die ihm den Tod wünschten. Lehrer, Mitschüler, Heimbewohner, seine Mädchen – womöglich sogar seine Eltern, wenn sie ihn denn je kennengelernt hätten.

      Denn Max Hesselbeck war ein Dreckskerl.

      Einer von denen, die als Jungen einer Fliege jedes Bein einzeln ausrissen; einer, der als Vierzehnjähriger – und daran konnte auch das katholische Erziehungsheim nichts ändern, eher im Gegenteil – bereits wusste, wo man eine Pistole organisieren konnte; einer, der mit Ende Zwanzig schon eine beachtliche Karriere im Rotlichtmilieu hinter sich hatte.

      Und dann hatte er von einem Tag auf den anderen diese berufliche Laufbahn aufgegeben und war ehrbar geworden. Der erste Schritt dazu war eine sauber, wenn auch - was den Lebenslauf betraf - mit viel Phantasie verfasste Bewerbung als Lkw-Fahrer bei der Spedition MalikTRANS im Frankfurter Industriegebiet bei Nieder-Eschbach. Er hatte die Stelle bekommen, da er bereit war, zu den unbequemsten Zeiten und die unbeliebtesten Routen zu fahren.

      Zwei Monate später lag er erstochen in der schmuddeligen Kantine eben jener Spedition in einer riesigen Blutlache mit Messerstichen in der Brust, im Rücken und in der Lendengegend.

      „Ich tippe auf Fremdeinwirkung“, sagte Dr. Eilers ernst und erhob sich ächzend.

      Hauptkommissar Paul Langer schnaubte. „Witziger Tag heute, wie?“ Anwandlungen von Heiterkeit traten bei ihm äußerst selten auf, mit Sicherheit nicht an einem düsteren Oktobermorgen vor Sonnenaufgang. Was der Rechtsmediziner natürlich wusste.

      „Drei Messerstiche, der eine von vorne dürfte der tödliche gewesen sein. Kann ich Ihnen später genauer sagen. Tot seit ungefähr fünf bis sieben Stunden, erste Schätzung. Ich bin dann hier fertig.“ Dr. Eilers packte seine Sachen zusammen, zog sich die dünnen Handschuhe aus und klappte seine Tasche zu.

      „Man will ja nur helfen“, sagte er, Langer bereits den Rücken zugewandt, auf dem Weg zur Tür, und zwinkerte Oberkommissar Korp zu, der am Türrahmen lehnte. Der grinste zurück; Langer beugte sich schnell über die Leiche.

      „Er wird von hinten angegriffen, dreht sich herum und fängt den tödlichen Hieb“, interpretierte Korp das Szenario, während er näher trat.

      „Könnte sein. Oder er stand dem Täter gegenüber, der sticht zu und ...“

      „... und der Mann fällt auf den Bauch? Wie das denn, wenn er ihm gegenüber steht? Oder tut er dem Täter einfach den Gefallen, damit dieser bequem noch mal von hinten zustechen kann?“

      „Sie könnten mich wenigstens ausreden lassen, wenn Sie schon hinter meinem Rücken mit dem Rechtsmediziner Witze über mich reißen!“

      Korp schluckte. Der Alte war nicht zu unterschätzen.

      „Also,“ Langer erhob sich langsam und leise ächzend, schnellte dann urplötzlich in Korps Richtung mit einer Geschwindigkeit, die ihm keiner zugetraut hätte, riss die Hand hoch und ließ sie auf den Kollegen niederfahren, wobei er kurz in der Höhe des Herzens Halt machte. Korp, völlig verdattert, hielt instinktiv die Hände vor die Brust, drehte sich halb weg und spürte einen leichten Stoß in der Lendengegend.

      „Sehen Sie, und wenn Sie jetzt fallen, liegen Sie schon fast auf dem Bauch. Jedenfalls bequem genug, dass ich Ihnen jetzt noch das Messer in den Rücken rammen könnte.“

      Immer noch völlig perplex, sah Korp erschrocken aus seiner gebückter Stellung zu seinem Chef hoch. Langer stand über ihm, eine gänzlich neue Perspektive für beide – war er doch fast einen Kopf kleiner als sein Mitarbeiter – und grinste befriedigt auf ihn herab, einen imaginären Messergriff in der erhobenen Faust haltend.

      Langsam richtete sich Korp wieder auf. Keine Frage, der Alte war noch immer für eine Überraschung gut.

      „Ja, ich sehe es ein, so könnte es auch gewesen sein. Aber mich derart zu erschrecken, Chef! Das können Sie doch nicht machen!“

      „Sie haben doch gesehen, dass ich kann. Schreckhaft, wie Sie sind. Hoffe, Ihr Anzug hat nicht gelitten“, setzte Langer boshaft noch eins obendrauf.

      Erschrocken blickte Korp an seinem Dreiteiler hinab, sah dann in Langers grinsendes Gesicht und fühlte sich zum zweiten Male gefoppt.

      „Eilers wird uns schon noch sagen, wer von uns Recht hat“, brummte er.

      „So, Kinder, können wir jetzt mal wieder ernsthaft werden? Die Erwachsenen haben hier noch zu arbeiten!“, tönte eine Stimme von der Tür in den Hof, in der eine weiß gekleidete Kolonne von Männern und Frauen erschienen war. Die Stimme gehörte Cem Özil, dem Leiter der Kriminaltechnik, der trotz seines osmanischen Namens mindestens so Frankfurterisch war wie ein frisch gepresster Apfelwein. „Ich meine, wenn Sie hier fertig sind, Herr Hauptkommissar“, setzte er betont höflich hinzu.

      Langer nickte nur, trat zurück und überflog die Szene. Die Kantine, genutzt als Pausen- und Aufenthaltsraum der Spedition, war ausgestattet