Christian U. Märschel

Kiez, Koks & Kaiserschnitt


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zu gab er Anweisungen an die Männer, die dort mit einer schweren Sperrholzplatte sichtlich Mühe hatten.

      "Guten Tag...!" sagte ich unsicher.

      "Zu wem wollen Sie!?" Unfreundlich! Der gelangweilte Mann drehte sich zu mir um. Er war gut angezogen, trug eine kleine runde Nickelbrille und hatte kurz geschnittene blonde Haare, den typischen Kiez-Haarschnitt.

      Wenn man auf ein Gesicht von vorne draufsieht, dann ist der Kopf von unten her oval bis hin zur Frisur. Wenn diese Frisur dann eckig nach oben abschließt, nicht länger als drei Millimeter ist und bürstig vom Kopf absteht, dann ist das die Kiez-Frisur.

      Ich stellte mich vor, „…der Job als Kellner, was im Fenster steht, ist der noch frei?“ Der Typ stand auf und schaute mich prüfend an.

      "Schon mal gemacht?"

      „Tja also...“, ich erzählte von meiner Arbeit in der damals größten Diskothek Deutschlands, damals in Kempen am Niederrhein, meiner alten Heimat, der mir gut gefiel und bei dem ich mit vollem Einsatz bei der Sache war. Ich war überzeugt davon, das man diese Bewerbung einfach nicht ausschlagen konnte.

      Der Typ, der sich nicht einmal vorgestellt hatte, hörte nur kurz und eigentlich mehr desinteressiert zu.

      "Ja, ja, geben Sie mal ihre Telefonnummer, ich ruf dann an, wenn’s soweit ist!" Er tippte die Nummer, die ich angab, in sein Handy.

      "Wohnste hier in der Nähe?" Mit einem Mal war er beim "Du". Die Angabe, gleich hier auf dem Kiez zu wohnen, im Niebhr-Hochhaus, wo all die Huren und Luden zuch wohnten, schien meine Bewerbung irgendwie aufzuwerten. Jedenfalls hatte ich damals den Eindruck.

      Es dauerte dann aber immer noch ein paar Tage, bis es endlich losging.

      Gekellnert habe ich eigentlich nie!

      Am ersten Tag meiner Arbeit flog gleich der eben erst eingestellte Discjockey wieder raus. Das geht ja schnell hier.

      "Ok, Du machst jetzt den DJ, der andere war ein Arschloch!" teilte mir der Typ vom Einstellungsgespräch mit, als ich den Laden betrat, um meine Arbeit zu beginnen.

      Er erklärte mir mit Liebe zum Detail die Musikanlage. Für mich alles böhmische Dörfer. Ich hatte soviel Interesse an Musik wie die Kuh am Sonntagsgebet.

      Leider hatte der Typ vergessen, mir zu sagen, wie herum man eine CD in den auf Knopfdruck automatisch herausfahrenden Schacht legt. Die glänzenden Seite nach oben dachte ich, damit sie, wie die Schallplatte, auch von oben abgetastet werden konnte. Ich hatte noch nie eine CD in der Hand gehabt. Die waren damals glaube ich auch noch nicht so lange auf dem Markt. Die Anzeige "Error" im Kontrollfeld des CD-Spielers signalisiert mir, das irgendwas nicht stimmte. Wenigstens ein bisschen Englisch konnte ich.

      Ich lernte haufenweise Leute kennen. Zumeist alles schöne, junge Mädchen, die hier tanzten, am Anfang nur ein paar, später wurden es immer mehr. Dass es eigentlich keine Tänzerinnen waren, sondern die "Frauen" der insgesamt vier Besitzer, denen der Laden gehörte, bekam ich bald heraus. Es waren Huren aus der Herbertstrasse und die vier “Jungs” waren ihre Zuhälter, Luden. Ich werde hier keine Namen nennen, nein, sicher nicht. Ich werde ihnen auch keinen anderen, erfundenen Namen geben. Vielleicht heißt einer aus der Branche genauso wie mein erfundener Name. Von Hamburg nach Amsterdam sind’s vierhundertfuffig Kilometer. Für nen Luden-Ferrari vier Stunden Autofahrt. Dann bin ich tot.

      Ich bin doch nicht lebensmüde.

      Ich arbeitete drei Monate lang in dem Table-Dance.

      Es gefiel mir gut. Ich verdiente nicht schlecht und schloss jede Menge Bekanntschaften. Ich fragte unauffällig fiel, nicht aufdringlich aber wissbegierig, immer mit der Option an den oder die Befragte ‚..vielleicht kann ich Dir helfen..!’ und so vertraute sich bald das ein oder andere der leichten Mädchen mir an. Es hätten bestimmt auch gute Bekanntschaften oder gar Freundschaften hieraus entstehen können, aber da waren die “Jungs” davor.

       Jana - Die große Liebe

      Wir waren immer schon etwas vor Arbeitsbeginn im Laden, wir - das Personal.

      Und eines Tages, kurz vor sieben abends, wir saßen auf der Stufe vorm Laden in der warmen Sommerluft, geschah es.

      Die Stufen herauf kamen ein paar Beine, die oben in einem grauen Minirock endeten. Sie waren so schnell drin, dass ich den Rest nicht mehr genau sehen konnte. Ich drehte mich noch um und sah nur, dass sie sehr groß war. Sehr groß, sehr jung, sehr hübsch. Sie hatte einen Lockenkopf, dunkelblond, und Pausbacken, Hamsterbacken, wie sie später immer sagte.

      Ich merkte komischerweise in diesem ersten Moment, das sie die war, nach der ich immer gesucht hatte.

      Und irgendwie ist sie es heute noch.

      "Das ist Jana, eine neue Tänzerin, die tanzt ab heute hier, frag sie, was sie für Musik hört, ob sie eigene CD’s hat und so weiter, weißt Bescheid!" Das war die kurze und knappe Introduktion eines der “Jungs”. Work as usual.

      Jana war sehr schüchtern.

      Wenn sie sprach - wenn sie denn mal sprach! - dann nur ganz kurz und hastig, nur das Wesentlichste. Sie schaute dabei immer irgendwo hin, nur nicht ihren Gesprächspartner an.

      Sie war knapp einsachtzig groß, Figur und Gesicht wie eine Barbiepuppe. Vor ein paar Monaten achtzehn geworden. Sie war ein bisschen linkisch, tollpatschig, und wenn sie was verkehrt machte, lachte sie sofort einen verlegenen Pruster und sah sich schnell um, wer alles das bemerkt haben könnte, was ihr gerade passiert war.

      Ich hatte mich ganz, ganz schnell in sie verknallt.

      Langsam, ganz vorsichtig, schlossen wir einen labilen Kontakt. Irgendwann fuhr ich sie mal morgens nach der Arbeit nach Hause. Sie sagte keinen Ton, die ganze Strecke. Also sabbelte ich. Irgendwas. Es dauerte Wochen, bis sie auftaute.

      Es war nicht ganz leicht, mit ihr zu reden. Wenn sie sprach, dann erschien es mir anfangs völlig unverständlich, zusammenhanglos, unsortiert, was sie sagte. Ich habe viel über sie nachgedacht, viel gefragt. Ich kam dahinter, das sie immer erst das sagte, worüber sie sprechen wollte, sozusagen erst das Hauptwort, ein Stichwort, dann ungeordnete Satzfragmente. Ich lernte, auf Stichworte zu reagieren und dann darauf hin gezielt Vermutungen anzustellen, nachzufragen.

      "Meinst Du dies und dies?"

      Ein gedehntes: "Joohh... - neeeee!"

      Falsch.

      Neuer Versuch.

      Ich habe alles, was sie gesagt hat, jedes Wort, oben im Kopf abgespeichert und später, wenn ich allein war, darüber nachgedacht. Ich habe mir eine eigene Geschichte von ihr zusammengebastelt, anders ging es nicht, und diese Geschichte bei allen neuen Hauptwötern, die ihrem pausbackigen Schmollmund entwichen, neu korrigiert. So konnte ich sie langsam verstehen, begreifen.

      Meine Fragen, und man musste sie alles fragen am Anfang, nahmen Gestalt an und immer öfter hörte ich ein "Joooh - Ja" auf meine Fragen. Die Richtung stimmte. Es war wirklich schwere Arbeit, nur Interesse für ihre Person zählte. Sie dankte es mir mit immer mehr Worten, Offenbarungen, vertrauten Gedanken, die sie nur mir sagte. Denn nur ich verstand sie. Ich war der einzige.

      Ich kam dahinter, dass sie zwar eine liebe Mutter hatte, die mir gleich das "Du" anbot, als ich sie kennen lernte, aber leider war sie nicht in der Lage, eine große, schüchterne, trotzköpfige und tollpatschige Barbiepuppe auf den richtigen Lebensweg zu lenken.

      Jana und ich freundeten uns an, sie hatte mein Herz erobert, und ich ein bisschen ihres. Von körperlichen Kontakten wollte sie nichts wissen, das merkte ich sofort. Aber da bin ich nicht so forsch, ich konnte warten.

      Ich liebte Jana.

      Sie fragte inzwischen viel, alles, was sie nicht verstand, sie wusste, sie konnte sich mir anvertrauen, ich machte sie nie lächerlich, nahm mir viel Zeit ihr alles zu erklären, was sie wissen wollte. Ich wusste auch nicht alles. Aber mir ist es eigen, komplexe Zusammenhänge schnell zu durchschauen und zumeist treffende Schlüsse