Gerhard Gemke

Narrseval in Bresel


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winzigen Tirolerhütchen bat die Besucher in das ehrwürdige Gemäuer und schob jeden einzeln in den engen Gang. Er nickte den drei Jungs zu, begrüßte Lisa mit einer formvollendeten Verbeugung und wollte gerade die Pforte schließen, als das unglücklichste Gesicht der Stadt den Turm betrat. Dreizehn Jahre alt, rückenlanger dunkler Zopf und ein Blick wie drei Seiten Strafarbeit. Sie nickte dem Mann unter dem Tirolerhütchen mit zusammengepressten Lippen zu. Clemens Zuffhausen hob die Augenbrauen und schloss die Turmtür.

       Lisa hatte das Mädchen mit dem traurigen Blick bereits entdeckt und erwartete sie an den Treppenstufen, die zum Turmfundament hinab führten.

       „Jo! Da bist du ja endlich! Ich hab dich überall gesucht.“

       Jo lächelte gequält. „Ich musste sie erst abhängen.“

       Lisa ahnte Böses. „Deine netten Cousins?“

       „Und Tante Adelgunde.“

       Also noch viel schlimmer. Jos liebe Verwandtschaft war ins Städtchen eingefallen – eine regelmäßig wiederkehrende Plage wie der Narrseval – und hatte sich auf Burg Knittelstein eingenistet, Jos Wohnsitz. Liebe Tochter, nur einmal mit ihnen über den Marktplatz , hatte ihr Herr Papa gesagt. Baron Eduard selbst musste dringend einige unaufschiebbare Geschäfte … leider, leider, du verstehst? Und ob Jo verstand!

       Mit hängendem Kopf folgte Jo ihrer Freundin die Treppe hinunter und in die hinterste Ecke des Kellergewölbes, wo bereits Jan, Freddie und der langhaarige Ulli warteten und sich gegenseitig beschuldigten, die Raumluft mit nicht wohlduftenden Partikeln angereichert zu haben. Worauf sich Oma Sievers zwischen sie drängelte, geräuschvoll schnüffelte, und auf der Stelle die alte Geschichte vom Kunibald-Furz zum Besten gab.

       Ja, da vorn im Sarg, da liegt er, der Ritter, und stinkt. „Und heulen tut er, jawohl.“

       „Ich hör nix“, sagte Freddie.

       „Nicht jetzt, sondern immer …“

       „… bei Vollmond“, ergänzte Freddie mit unbeweglichem Gesicht.

       „Mach dich nicht über mich lustig!“ Elfriede drohte Freddie mit einem der knochigen Zeigefinger.

       Freddie hob abwehrend die Hände. „Aber Oma Sievers, was denkst du von mir!“

       Elfriedes Gesicht sprach Bände.

       „Meine Damen und Herren, verehrte Gäste aus den umliegenden Gemeinden, liebe Breselnärrinnen und Narren!“

       Es wurde still unter der niedrigen Gewölbedecke. Sämtliche Gruftbesucher wandten ihre Aufmerksamkeit Clemens Zuffhausen zu, der vor einem mannshohen weißen Vorhang stand und sein Tirolerhütchen zurechtrückte. Dann fasste er mit spitzen Fingern einen Zipfel des Vorhangs. „Der Sarg von Ritter Kunibald!“

       Mit einem eleganten Schwung, den er in der vergangenen Woche gewissenhaft geübt hatte, zog er den Schleier beiseite.

       „Aaaah!“

       Ein steinerner Trog kam zum Vorschein, schlicht und grau, auf einem hüfthohen Sockel. Darunter ein Fußbodenmosaik aus fünf mal fünf Quadraten, mit elefantenbeindicken Säulen auf den vier Eckfeldern, die zuverlässig die Last des Urbanturms trugen. Hoffentlich. Rechts und links vom Sarg hatten sich je zwei Herren in mittelalterlicher Tracht aufgebaut und bemühten sich um würdige Gesichter.

       „Ooooh!“

       Diese vier offiziell beauftragten Sarglüfter befestigten nun an den Seiten des Sargdeckels stabile Taue, die zu einer Seilwinde an der Gewölbedecke führten und von dort zurück in die Fäuste der vier Herren. Während sich nun der Sargdeckel nach überliefertem Ritual Zentimeter für Zentimeter hob, wurde er von traditionsbewussten Breselner ausgiebig beschnüffelt, um das Aroma zu bestimmen, das der berühmte Kunibald-Furz in diesem Jahr verströmte. Manche Breselner allerdings beschnupperte mehr oder weniger unauffällig ihre Nachbarn.

       Endlich hatte der Sargdeckel die Gewölbedecke erreicht. Der vorderen Reihe gelang ein Blick in den Steintrog und die Information wurde bis nach hinten weitergereicht: Alle sieben Knochen lagen noch an ihrem Platz.

       „Sieben?“, knurrte ein Herr mit Gamsbart und enttarnte sich damit als Nicht-Breselner.

       Clemens Zuffhausen gab bereitwillig Auskunft. „Sieben Knochen sind alles, was von Kunibald nach der Schlacht am Kalbsberg im Jahre 1022 übrig blieb.“

       „Quatsch!“ Oma Sievers konnte es einfach nicht lassen. „Das sind die Reste von Ruprecht Stümpel, der zum Narrseval auswärtiges Bier ausgeschenkt hat.“

       „Auswärtiges Bier?“ Der Gamsbart wieder. Echt null Ahnung.

       „Kein Breselbräu.“

       „Ach so.“

       Nun zogen die Sarglüfter eine Bahre hinter einer Säule hervor (eine Leihgabe des Vincenzkrankenhauses) und legten feierlich die sieben Knochen darauf. Clemens Zuffhausen schaufelte mit hektischen Armbewegungen einen Weg durch die Besucher und die vier Herren schritten mit feierlichen Mienen zur Treppe. Die vorderen senkten die Bahre auf Kniehöhe, als sie die ersten Stufen erkletterten, die hinteren hoben sie an und balancierten die bleichen Reste von Wem-auch-immer an die frische Breselner Luft. Das jährlich von vielen Touristen bestaunte (und von den umliegenden Gemeinden belächelte) Breselner Sarglüften begann. E inmal um die Mauern der Altstadt.

       Nur Oma Sievers wieder: „Früher haben sie den kompletten Sarg getragen. Aber da waren die Kerle auch noch anders gebaut.“ Gerade laut genug, dass die Kerle jedes Wort verstanden und ihr ganz und gar keine liebevollen Blicke zuwarfen.

       Wenigstens der Rest der Pilger folgte der Bahre mit gebührender Ehrfurcht und würdigte die Oma keines Blickes, die nun zwischen den Säulen herumhüpfte wie ein Schulmädchen.

       „Kennst du das?“, rief sie in Jos Richtung, die mit Lisa noch am Fuß der Treppe stand, als wollte sie die unvermeidliche Wiederbegegnung mit der lieben Verwandtschaft so lange wie möglich hinauszögern. Bestimmt suchten die schon den kompletten Marktplatz nach ihr ab. Jo betrachtete Elfriedes knallende Hacken auf den quadratischen Fliesen.

       „Na?“

       „Gibt's auch in der Burg“, sagte Jo endlich.

       „Genau!“ Woher sie das auch immer wusste. „Das alte Spiel.“ Oma Sievers kletterte hinter den Mädchen die Treppe hinauf. „Hab ich selbst noch gespielt.“

       Aber noch vor 1900 , dachte Lisa grinsend und schob Jo die Treppe hinauf.

      Erbarme dich unser

       Lisa und Jo trafen Freddie und Jan an dem Erbarme-Dich-Unser -Stand .