Daniela Hochstein

Daimonion


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      „Das bedeutet“, fuhr Cheriour fort, „dass diese Kreatur nicht nur eine menschliche Seele beherbergt, sondern auch einen blutgierigen Dämon, der unlösbar mit dieser Seele verbunden ist... Man nennt solche Wesen Vampire!“

      Der Richter nickte und seine schimmernde Erscheinung materialisierte sich für einen Augenblick, so dass er beinahe menschlich wirkte.

      „Ich habe so ein Wesen noch nie zu Gesicht bekommen. Gibt es ihrer noch weitere?“

      „Ja, es gibt noch mehr von ihnen, wobei sie erst seit wenigen Jahren auf Erden existieren. Sie gehen alle aus dem gleichen Dämon hervor. Er breitet sich aus wie eine Seuche, die Menschen in Blut trinkende Untote verwandelt.“

      „Untote...“ Der Begriff schwebte durch den Saal wie eine düstere Wolke. „Sie sind demnach nicht sterblich?“

      „Sie sind fähig, ewig zu leben, ja. Aber auch sie können getötet werden.“

      Neugierig geworden, musterte der Richter den verbrannten Vampir nun etwas eingehender.

      „Wie kommt es aber, dass mir bisher noch keiner von ihnen vorgestellt wurde?“

      Cheriour senkte demütig seinen Blick.

      „Verzeiht, Euer Ehren! Gemäß Ioelets Urteil heißt es, dass dieser Dämon nicht mehr von der betroffenen menschlichen Seele gelöst werden kann. Das Erste Gericht, dem ich vorsitze, hat daraufhin befunden, dass diese infizierten Seelen auf keinen Fall in den himmlischen Seelengarten Einzug halten dürfen. Andernfalls droht die Gefahr einer Verseuchung oder gar Zerstörung seiner Reinheit und seines Friedens! Wir haben diese Kreaturen bisher direkt an die Unterwelt übergeben, ohne dass sie dem Hohen Gericht vorgestellt wurden.“

      Wieder beäugte der Richter den verkohlten Vampir, und diesmal schien die Luft in dem Saal von einem leisen Vorwurf zu knistern.

      „Und warum erscheint nun doch ein Vampir vor diesem Gericht?“

      Cheriour sah mit einer bedeutungsvollen Miene zu Ambriel und der Richter folgte diesem Blick.

      „Nun, Ambriel? Kannst du mir dazu Auskunft geben?“

      Ambriel erhob sich und reckte seine Schultern, sodass sich seine großen, weiß gefiederten Flügel aufspreizten. Dann faltete er sie wieder zusammen und warf einen liebevollen Blick auf die Gestalt zu seinen Füßen.

      „Mein Schützling...“, wollte er sagen, wurde aber von einem anschwellenden Raunen aus der Menge der Zuschauer unterbrochen.

      „Mein Schützling...“, fuhr er fort, nachdem es dank eines rügenden Blicks des Richters wieder still geworden war, „ist dem Ersten Gericht gar nicht vorgestellt worden, weil sein Körper noch nicht gänzlich gestorben ist.“

      Wieder wurden die Stimmen der anwesenden Engel lauter. Aufgebracht riefen sie durcheinander, bis diesmal Cheriour sie durch eine beschwichtigende Geste zur Ruhe brachte. Dann wandte er sich selbst an den Richter.

      „Verzeiht, Euer Ehren, dass ich unterbreche, aber ich habe den Eindruck, Ambriel hat einen ganz besonderen Grund, diesen Vampir vor Euch zu verteidigen. Immerhin ist er der einzige Schutzengel, der seinen Schützling nicht verlassen hat, als dieser sich mit dem Dämon verband.“

      Der Richter ließ seinen Blick nachdenklich zwischen Ambriel und Cheriour hin- und herschweifen. Zuletzt verharrte er auf Ambriel.

      „Also gut, Ambriel, dann erkläre uns dein Handeln!“

      Ambriel warf Cheriour einen dankbaren Blick zu, obwohl er wusste, dass hinter Cheriours Einsatz nicht die Absicht steckte, ihm zu helfen. Vielmehr schien er zu ahnen, welchen Anteil Ambriel an der Geburt des ersten Vampirs gehabt hatte. Aber der Schutzengel war nicht bereit, sich und seinen Schützling kampflos der Unterwelt zu übergeben. Manchmal mussten Gebote eben auch gebrochen werden. Einfach um des Guten willen.

      Mit sorgenvoll zusammengezogenen Brauen sah er zu dem Richter hinauf.

      „Bitte habt noch einen Moment Geduld! Ich möchte, dass mein Schützling an der Verhandlung teilhaben kann.“

      Nach einem knappen, zustimmenden Nicken des Richters, kniete sich Ambriel neben der bewusstlosen Gestalt nieder und legte seine durchscheinend weiße Hand sanft auf ihre Schulter. Gebannt waren die Augen der übrigen Engel auf den Vampir gerichtet und es war so still, dass nur das Rasseln seiner schwachen, von langen Pausen unterbrochenen Atemzüge zu hören war.

      Zunächst schien sich durch Ambriels Berührung nichts zu verändern, aber schon kurze Zeit später begann sich - anfangs zwar kaum merklich, doch dann immer deutlicher - die verkohlte Haut des Vampirs aufzuhellen und zu straffen. Die verbrannten Augenlider verheilten und glitten wieder über die grauen, verdorrten Augäpfel, welche nun gleichfalls an Form und Farbe in ihren ursprünglichen Zustand zurückfanden. Ebenso füllten sich die zusammengeschrumpften Lippen und bedeckten wieder die zuvor freigelegten, raubtierartigen Eckzähne. Stück für Stück verwandelte sich auf diese Weise jene entsetzlich entstellte Gestalt, bis sie zu einem zunehmend menschlich anmutenden, sogar wohlgeratenen Körper geworden war.

      Noch waren die Augen des Vampirs wie zum Schlaf geschlossen und das faltenlose, feingeschnittene Gesicht entspannt. Seine dunklen, widerspenstigen Haare waren zerzaust und vereinzelte Strähnen hingen ihm wirr über die Stirn. Dann aber beugte sich Ambriel über sein Ohr, um ihn mit beruhigend zugeflüsterten Worten behutsam zu wecken, und schließlich begann der Vampir, sich langsam zu bewegen. Ein benommenes Stöhnen entrang sich seiner Kehle, während er erwachte, und dann, plötzlich, riss er erschrocken die Augen auf, wohl wissend, dass irgendetwas nicht stimmte. Als er daraufhin Ambriels Gesicht unmittelbar über sich erblickte, wollte er hastig aufspringen, um zu fliehen, doch Ambriels Hand hielt ihn sanft zurück.

      „Bleib ruhig! Es wird dir nichts geschehen“, sagte er mit leiser, sonorer Stimme, und der Vampir gab seinen Widerstand zögerlich auf.

      „Wo bin ich?“, fragte er ebenso leise, während er sich langsam aufsetzte und staunend umschaute. Noch nie zuvor hatte er etwas Vergleichbares gesehen.

      „Du bist vor Gericht. Aber sei ohne Sorge! Ich werde für dich sprechen.“

      Verwundert betrachtete der Vampir seine bleichen Hände, als seien sie ihm auf einmal eigentümlich fremd. Dann sah er wieder zu Ambriel auf und musterte ihn von oben bis unten.

      „Sag mir, wer bist du und vor welchem Gericht befinde ich mich? Es ist so hell hier und doch sind meine Augen nicht geblendet. Ebenso verbrennt meine Haut nicht... Gerade noch ging die Sonne auf und...“

      Der Vampir hielt inne und verzog schmerzlich das Gesicht, wobei er abermals ungläubig seine Hände betrachtete.

      „Ich bin dein Schutzengel. Und jetzt steh auf. Du stehst vor des Himmels Hohem Gericht, vor dem deine Seele gerichtet wird.“ Ambriel fasste dem Vampir unter den Arm, um ihm aufzuhelfen. Ängstlich blickte sein Schützling sich dabei um und wandte sich schließlich erneut an Ambriel.

      „Sag mir, Engel, was wird mit meiner Seele geschehen?“, flüsterte er besorgt, sodass nur Ambriel ihn verstehen konnte.

      „Schsch. Wir müssen die Verhandlung abwarten! Sieh, der Richter wird jetzt das Wort ergreifen.“ Ambriel zeigte mit seiner Hand auf das Pult, hinter dem der Engel aufmerksam die wundersame Heilung des Vampirs beobachtet hatte. Mit einem Nicken signalisierte ihm Ambriel, dass er nun bereit war und der Richter gab sein Einverständnis. Doch bevor Ambriel endlich zu sprechen begann, sah er noch einmal zu dem Vampir, der nun in seiner unversehrten Gestalt neben ihm stand. Noch immer ruhte seine Hand auf der Schulter seines Schützlings, und solange sie dort blieb, würde sie ihn vor Schmerz und Furcht bewahren.

      „Dies ist mein Schutzbefohlener seit dem Tag, an dem sein Herz im Leib seiner Mutter zu schlagen begonnen hat. Ich kenne seine Seele besser als irgendwer sonst! Ich habe gesehen, wie er geboren wurde, heranwuchs und zu einem Mann heranreifte. Stets war ich schützend an seiner Seite als er seine Welt entdeckte und für sich zu nutzen begann. Ich weiß, welche Einflüsse auf ihn wirkten und wie sie ihn prägten. Ich war auch in jener schicksalshaften Nacht an seiner Seite und musste mit ansehen, wie er