Daniela Hochstein

Daimonion


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verlassen!“ Ambriel machte eine Pause und warf einen Seitenblick auf Cheriour. Gerade wollte der Richter ihn auffordern, fortzufahren, da sprach er schon weiter.

      „Ich weiß, wie mit Seinesgleichen nach ihrem Tod verfahren wird. Selbst die Gründe kann ich nachvollziehen. Aber dennoch denke ich, dass mein Schützling es ebenso verdient hat, dem Hohen Gericht vorgestellt zu werden, wie jede menschliche Seele auch. Es muss doch ein Urteil zu finden sein, das ihm gerecht wird. Zumindest sollte sein Fall Anlass geben, danach zu suchen...“ Ambriel verbeugte sich, ohne dabei die Schulter des Vampirs loszulassen, und schloss mit den Worten: „Dies ist mein Anliegen, Euer Ehren. Und nun ist es an dem Gericht, darüber zu entscheiden.“

      Der Richter betrachtete Ambriel schweigend. Dann ließ er seinen Blick zu dem Vampir gleiten, der ihn aus seinen schwarzen Augen erwartungsvoll und nicht ganz ohne Sorge ansah.

      „Also gut, Ambriel, der Vampir soll seine Chance bekommen. Du wirst ihn verteidigen. Ob es jedoch ein neuartiges Urteil für ihn geben wird, kann erst im Anschluss abgewogen werden... Wer führt die Anklage?“

      Cheriour hob ohne zu zögern seine Hand und der Richter ließ ihn mit einem zustimmenden Nicken hervortreten.

      „Bitte, Cheriour! Du darfst beginnen.“

      Cheriour ging ein paar Schritte, bis er unmittelbar vor dem Vampir wieder stehen blieb. Abschätzend betrachtete er ihn von oben bis unten, als wolle er einen Makel an ihm suchen. Fast schon herausfordernd hielt der Vampir diesem Blick stand, Ambriels Zuversicht spendende Hand dabei auf der Schulter.

      „Nun, Vampir, beginnen wir mit der einfachsten Frage: Wie viele Menschenleben hast du getötet?“

      Verunsichert sah der Vampir zu Ambriel herüber, der ihm jedoch mit einem wissenden Nicken bedeutete, ruhig der Wahrheit gemäß zu antworten. Dadurch bestärkt wandte sich der Vampir wieder an Cheriour. Trotzig hob er sein Kinn und sagte schließlich mit fester, überraschend wohlklingender Stimme: „Es werden wohl tausende gewesen sein. Genau kann ich es leider nicht sagen, denn ich habe sie nicht gezählt...“

      Laute der Empörung erhoben sich raunend aus der Schar der Engel und Cheriour drehte sich mit einem siegessicheren Lächeln wieder zu dem Richter um.

      „Ich denke, ich benötige wohl kaum weitere Fragen, Euer Ehren. So hat der Vampir eben gestanden, allein tausendfach gegen das dritte Gebot verstoßen zu haben.“

      Doch noch bevor der Richter das Wort ergreifen konnte, fiel Ambriel ein: „Nein, so kann er nicht befragt werden! Euer Ehren, gestattet, dass ich spreche!“

      Erschrockenes Schweigen unter den Versammelten folgte Ambriels Einwand. Selbst der kleinste Laut erstarb.

      „Ich bitte Euch!“, setzte Ambriel flehend nach.

      Die Augen des Richters bohrten sich in die des Schutzengels, der dem Blick schließlich betreten auswich.

      „Also gut, Ambriel, doch treibe es nicht zu weit. Merke dir für das nächste Mal: Du hast erst zu sprechen, wenn das Wort an dich gerichtet wird!“

      Ambriel senkte demütig sein Haupt.

      „Ich danke Euch vielmals! Doch ich möchte an dieser Stelle anmerken, dass die Natur des Vampirs nun einmal die ist, sich von Menschenblut zu ernähren. Er hat keine andere Wahl! Kein Mensch würde dem Wolf eine Sünde vorwerfen, wenn er das Lamm reißt.“

      Der Richter nickte zustimmend.

      „Dem Einspruch wird stattgegeben“, sagte er und wandte sich damit wieder an Cheriour: „Cheriour, bestehen noch weitere Fragen?“

      Mit einem nicht zu leugnenden despektierlichen Gesichtsausdruck wandte Cheriour sich abermals an den Vampir.

      „Also gut, verallgemeinern wir die Sachlage also! Demnach formulieren wir das Gebot so, dass es fordert, nicht innerhalb der eigenen Art zu töten. Die Menschenleben scheiden damit aus. Wie aber steht es mit anderen Vampiren? Hast du Wesen deiner eigenen Art getötet oder ihren Tod verschuldet, Vampir?“

      Der Vampir starrte Cheriour lange an. Dann senkte er betrübt den Kopf.

      „Ja.“, antwortete er kleinlaut.

      „Wie viele?“

      Der Vampir zögerte. Doch schließlich flüsterte er: „Dutzende...“

      „Danke, das reicht mir jetzt, Euer Ehren. Keine weiteren Fragen.“

      Damit drehte sich Cheriour um und ging mit selbstzufriedener Miene zurück an seinen Platz.

      Ambriel suchte derweil ungeduldig den Blick des Richters, der jedoch gerade über den derzeitigen Tatbestand nachzudenken schien. Seine Gestalt wurde dabei so durchscheinend, dass sie sich beinahe verlor. Dann aber, endlich, erwachte er aus seinen Gedanken, nahm wieder feste Konturen an und sah zu Ambriel herüber.

      „Was hat die Verteidigung dazu zu sagen?“

      „Euer Ehren, ich weiß, die Lage erscheint klar und eindeutig. Doch das ist sie ganz und gar nicht! Gott hat die zehn Gebote den Menschen gegeben. Doch für einen Vampir, der sich in einem Zustand zwischen Mensch und Dämon befindet, kann dieses Richtwerk nicht angewendet werden. Wie aber soll ich das alles erklären? Es ist viel zu komplex und daher bitte ich darum, seine Geschichte erst genauer zu betrachten, bevor ein Urteil über die Güte seiner Seele gesprochen wird.“

      „Hm...“ Wieder ließ der Richter sich Zeit mit einer Antwort. Sein Blick kroch langsam an dem Vampir rauf und runter und verharrte zuletzt bei dessen Augen, die derweil hoffnungsvoll an den Seinen hafteten.

      „Also gut, Vampir. Wir werden uns darauf einlassen. Zeige uns deine Seele! Möge Ambriel Recht behalten und sie uns eine neue Perspektive eröffnen.“

      Der Vampir streckte seinen Rücken und nickte sichtlich erleichtert.

      „Ich danke Euch, Euer Ehren! Doch dürfte ich vorab eine Bitte äußern?“

      „Um was geht es dabei?“

      Der Vampir verneigte sich höflich vor dem Richter.

      „Ihr nennt mich stets Vampir. Das bin ich zwar, doch fühle ich mich vielmehr meinem Namen verbunden, der mich stets daran erinnert, als Mensch geboren worden zu sein. Daher bitte ich Euch, nennt mich bei diesem Namen: Armon.“

      Der Richter schwieg eine Weile und nickte dann.

      „Gut, Armon, so soll es sein.“

      Armon verneigte sich noch einmal als Zeichen seines Dankes. Dann drehte er sich zu den anderen Engeln herum und betrachtete sie. Er spürte, wie sich ihrer aller Blicke auf ihn richteten. Tief drangen sie in ihn ein, warm wie Lichtstrahlen. Ohne es willentlich steuern zu können, geriet er plötzlich in einen Strudel aus Worten und Bildern, gespeist aus seiner Vergangenheit, und die Zeit verlor ihre Bedeutung. Er begann zu erzählen und vermochte dabei nicht einmal zu sagen, ob seine ersten Worte auch schon seine letzten waren.

      Die Verwandlung – Kapitel 1

      „Der Tag, an dem es geschah, begann mit einem wunderschönen Herbstmorgen im Jahre 1722.

      Ich schaute aus dem Fenster des elterlichen Anwesens, auf dem ich als dritter Sohn einer landadeligen Familie aufgewachsen war. Meine Gemächer lagen im zweiten und damit obersten Stockwerk des östlichen Flügels unseres bereits vor Generationen errichteten Schlösschens, welches auf einer kleinen, grün bewachsenen Anhöhe thronte. Von hier aus hatte ich einen phantastischen Ausblick auf die Ländereien, Felder, Wiesen und Wälder, die uns damals gehörten.

      An diesem Morgen, ich sehe es noch genau vor mir, tauchte die aufgehende Sonne die Landschaft in außergewöhnlich leuchtend rotgoldene Farben, sodass ich noch eine Weile am Fenster verharrte, um diesen atemberaubenden Anblick so intensiv wie möglich auszukosten... Als hätte ich bereits den finsteren Schatten wie ein Unwetter heraufziehen gespürt, obgleich der Himmel sich von einem Horizont bis zum anderen in strahlendem, wolkenlosen Blau präsentierte.

      Es