Werner Karl

Aevum


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lächelte dankbar, schüttelte aber erneut den Kopf. »Ich habe nicht vor, demnächst zu leiden.« Sie konnte nicht ahnen, dass sie weder beim Punkt Leid, noch beim Punkt Telepathie recht behalten würde. Sie tippte auf den Knopf Sprungbereit machen und der Countdown für den nächsten Eintritt in den Ultraraum startete. Automatisch schlossen sich alle Gurte der Andrucksessel, die Helme der leichten Bordanzüge und der Camouflage-Schirm erlosch. Kein einziges der Mazzarschiffe in einem halben Lichtjahr Entfernung reagierte darauf.

      Die GHOST schon. Nur Bruchteile von Sekunden nach Eintritt der MATA HARI in den Ultraraum ließ auch sie ihren Tarnschirm fallen und verließ ebenfalls den Einsteinraum.

      Februar 2317

      Es war tiefste Nacht im Dschungel von Samboll und viele seiner Bewohner schliefen. Die Zahl der nächtlichen Jäger jedoch lag im Vergleich zu den wenigen irdischen Schutzhabitaten, die auf Terra noch existierten, um den Faktor drei höher. Es wunderte Bérénice daher nicht, dass eine entsprechende Kakophonie bekannter und weitaus mehr unbekannter Laute an ihr Ohr drang und sie rätseln ließ, von welchen Tieren die Geräusche stammen mochten. Sie saß in einer Astgabel im unteren Drittel eines Baumes, was etwa einer Höhe von zehn bis zwölf Metern entsprach.

      Hoch genug für das Grobzeug am Boden, dachte sie, und niedrig genug für die Viecher in den Baumwipfeln. Danke, Doktor Muramasa … auch für diesen Tipp.

      Sie richtete ihre Wärmebildkamera auf den Fleck, der ihr kurz nach Einbrechen der Nacht aufgefallen war, und wartete eine Sekunde, bis sich ihre eigenen Linsen der neuen Darstellung angepasst hatten.

      »Ein Lagerfeuer«, hauchte sie sich selbst zu, da sie darauf bestanden hatte, allein in den Dschungel zu gehen. Naya, Freitag und die beiden Mazzar wären sofort mit ihr gegangen, hätte sie das zugelassen. Aber der Kampfroboter und die beiden Pazifisten hätten im Dickicht eher Planierwalzen geglichen, als einer schleichenden Truppe. Und Bérénice wollte Naya in der Sicherheit des kleinen Raumschiffes wissen. »Entweder ein Suchtrupp der Sambolli oder der Dummkopf, den sie jagen«, flüsterte sie weiter.

      Der so Betitelte hatte zudem noch ein großes Feuer entfacht. Wahrscheinlich in der Hoffnung, damit die meisten Jäger der Nacht von sich fernhalten zu können.

      Bérénice schwenkte das Gerät nach links und rechts und sah erschreckend viele Tiere um das Lager schleichen.

      Okay, vielleicht doch kein völliger Dummkopf, überlegte sie und kam zu dem Schluss, dass ein Sambolli-Suchtrupp andere Sicherungsmaßnahmen ergriffen hätte. Als Ameisenabkömmlingen lag ihnen ohnehin nichts an gebratenem Fleisch.

       Also ein Ausbrecher …

      So leise sie konnte, kletterte sie den Baum hinab und arbeitete sich binnen einer Viertelstunde an das Lager heran. Als sie in etwa zwanzig Metern Abstand dazu verharrte, war das Feuer für die Kamera zu hell und überstrahlte die anderen Gegenstände zu sehr. Sie wechselte in den Nachtsichtmodus, der das Feuer automatisch ausfilterte und auch sonst die Konturen schärfer wiedergab, als es ein unbewaffnetes Auge vermocht hätte. Aus dem blassgrünen Sichtfeld schälten sich nicht weniger als sechs Körper, die sich kreisförmig um das Feuer gruppiert hatten.

       Ein halbes Dutzend Dummköpfe.

      Einer der Geflohenen hatte sich einen mächtigen Baumstamm als Rückenschutz auserkoren und zwischen sich und dem Feuer irgendeine dünne Platte platziert. Bérénice zoomte heran und fast wäre ihr vor Überraschung das Gerät aus den Händen gefallen.

      Ein Sambolli-Schild!, durchzuckte es sie. Wo hat er denn den aufgetrieben? Eigene Erlebnisse mit den Lager-Wächtern blitzten in ihr auf und alle möglichen Erklärungen boten sich ihr an. Dann inspizierte sie die anderen Körper. Schon nach dem Zweiten stutzte sie.

       Kein Heben und Senken des Brustkorbes … das sind keine Schläfer. Das sind Attrappen! Die Kleiderfetzen geben sicher den Duft von Menschen ab. Darunter Haufen aus Blattwerk und Ästen. Nicht schlecht. Damit reduziert er die Gefahr, angegriffen zu werden, auf ein Sechstel.

      »Clever, aber nicht clever genug«, kam es fast unhörbar über ihre Lippen. Bérénice schüttelte ihren Kopf. Ich bin ungerecht. Wahrscheinlich hätte ich ähnlich gehandelt, hätte mich Doktor Muramasa nicht intensiv instruiert. Der Kerl dort draußen hatte diese Hilfe nicht.

      Bérénice fasste einen Entschluss. »Hey, Trooper!«, rief sie und schob sich dabei halb hinter den Stamm, an dem sie stand. »So ganz allein im Dschungel?«

      Damit machte sie ihm klar, dass sie seine Kameraden als leblose Nachbildungen erkannt hatte und sein Bluff durchschaut worden war. Und vor allem, dass sie ziemlich sicher den einzig echten Körper identifiziert hatte. Anstatt zu antworten, schnellte der Flüchtling erstaunlich rasch in die Höhe, riss den Schild in seine Linke und hatte plötzlich einen primitiven Speer in der anderen Faust.

      »Hohoho, nicht so hastig, Trooper. Wir stehen auf der gleichen Seite«, rief Bérénice verhalten und wurde sich gleichzeitig bewusst, dass dies im Augenblick nur im übertragenen Sinne stimmte. Doch dann kam eine Antwort, mit der sie nicht gerechnet hatte.

      »Madame Savoy? Sind Sie das?«

      Es gab im ganzen Bataillon nur einen, der sie so genannt hatte.

      »Girard? Laurent Girard?«

      »Bonsoir, Madame.« Er senkte Schild und Waffe und stellte sich so, dass sie ihn im Schein des Feuers gut erkennen konnte. »Ich hatte schon befürchtet, Sie seien diesem mörderischen Dschungel zum Opfer gefallen.« Er machte eine elegante Verbeugung und lächelte auf die unnachahmliche Art und Weise, die ihm als Franco-Kanadier angeboren zu sein schien. Dabei blickte er in die Richtung, aus der ihre Stimme gekommen war. »Es ist mir eine außerordentliche Freude, Madame, Sie wohlbehalten wiederzutreffen.« Nach mehr als zwei Jahren seit ihrer Flucht war das die Untertreibung des Jahrzehnts.

      Sie trat ebenfalls aus ihrer Deckung hervor, blieb aber noch auf ihrer Seite des Lagers.

      Er strahlte sie förmlich an. »Sie sehen fantastisch aus, Madame.«

      »Und Sie sehen schrecklich aus, Monsieur«, erwiderte sie und ging ein paar Schritte auf ihn zu.

      »Nun, lieber ein wenig dünn, Madame, als tot.« Er ließ Schild und Speer zu Boden sinken und deutete auf die Attrappen. »Meine Kameraden hat dieser Dschungel erwischt …«

      »… was auch uns immer noch passieren kann, Monsieur. Wir sollten sofort von hier verschwinden.«

      Girard nickte und bückte sich wieder nach seiner Waffe. Die Bewegung rettete ihm das Leben. Denn nur zwei Finger breit über seinem Rücken zischte ein Sambolli-Speer aus dem Blattgewirr und blieb nur einen Schritt vor Bérénice im Boden stecken. Girard hatte es gar nicht mitbekommen und blickte daher umso erschrockener, als er sich aufrichtete und die Waffe sah.

      »Aus der Schusslinie, Trooper!«, rief Bérénice scharf. Mehr seine Reflexe, als der Sinn ihrer Worte, brachten ihn dazu, sich augenblicklich niederzuwerfen. Kaum hatte sein ausgezehrter Körper den Boden berührt, als er sich seitwärts wegrollte, seinen Speer parallel zum Leib an sich gepresst. Girard stand schon wieder, als Bérénice sich für einen Kampf bereit machte.

       Zäher Bursche … zwei Jahre länger als ich in Gefangenschaft und immer noch voller Kampfeswillen.

      Längst hatte sie ihr Katana in der Rechten und die summende Lasersichel in der Linken, als nicht weniger als fünf Sambolli-Krieger aus dem Dschungel traten. Sie trugen die bei den Sambolli sehr beliebten Chitinpanzer irgendwelcher Tiere des Planeten. Doktor Muramasa hatte einmal gegenüber Bérénice seine Vermutung geäußert, dass auch die Sambolli sich aus einer insektoiden Rasse entwickelt haben könnten und die über zig Generationen verlorenen Exo-Skelette immer noch hoch schätzten. Nur einer von ihnen behielt den Ausbrecher im Visier. Die anderen fixierten Bérénice, um abzuschätzen, wie gefährlich sie sein könnte. Bérénice rechnete für eine Sekunde damit, dass einer der Jäger sie erkennen könnte, verwarf den Gedanken aber, als ihr