Susanne Sievert

Bloody Julie 2.0


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bin nicht dein Feind“, erklärt er. „Ich möchte dir helfen und herausfinden, was passiert ist.“

      „Ah, natürlich“, antworte ich mit gespielter Ruhe. „Dann wollen wir beide wohl dasselbe.“

      „So ist es.“ Als wären meine Worte der Startschuss, zieht er aus einer anderen Schublade eine braune Akte. Die Beschriftung kann ich nicht lesen. Er leckt Daumen und Zeigefinger an und blättert zu einem Bericht, dessen Seiten noch leer sind. Mit gefalteten Händen beugt er sich über die Akte, um sein Verhör zu starten.

      „Kürzen wir es ab“, schlage ich nervös vor. „Welche Lücken kann ich in deinem netten kleinen Büchlein füllen?“

      „Nun ja“, sagt Elvis und zückt einen Kugelschreiber aus seiner Kitteltasche. „Von … wie heißt sie noch gleich? Ah, ja, Judith. Genau, wie konnte ich ihren Namen nur vergessen? An das Schlangentattoo habe ich mich sofort erinnert, wirklich beeindruckend. Wie auch immer“, er lächelt entschuldigend und redet weiter: „Von ihr habe ich von dem Vorfall im Motel erfahren. Ihre Version gleicht der von eurem Freund Hank. Ich gehe davon aus, dass man sich so eine Geschichte nicht ausdenken kann. Übel, wirklich übel. Von ihr weiß ich auch, woher ihre Verletzungen stammen und dass der Verursacher tot ist. Für den Fall, dass es dich interessiert: Die beiden sind stabil.“

      Ich bin interessiert und schäme mich gleichzeitig, weil Jules meine Gedanken beherrscht und ich meinen Freunden bisher kaum Beachtung geschenkt habe. Dabei sind sie ebenso wichtig.

      „Und Olivia?“

      „Ist sie das kleine Mädchen?“, fragt Elvis. Ich nicke, obwohl von klein nicht die Rede sein kann. Sie ist elf Jahre alt und hat mehr Mut bewiesen als manch Erwachsener. „Sie befindet sich derzeit auf unserer Kinderstation und lässt niemanden an sich heran. Der Vorfall hat sie traumatisiert, aber soweit ich es als Arzt beurteilen kann, geht es ihr gut.“

      Traumatisiert, wiederhole ich in Gedanken. Ja, sicher. Olivia ist ein schlaues Mädchen. Sie wartet ab und plant, bis sich ein günstiger Moment ergibt. So stelle ich es mir zumindest vor. Sie hat gelernt, nicht jedem zu vertrauen, auch Ärzten nicht.

      Halte dich gefälligst selbst daran, ermahne ich mich.

      Elvis redet weiter, aber es fällt mir immer schwerer, ihm zu folgen. Seine Stimme rückt in den Hintergrund, bis sich nur noch sein Mund bewegt. In meinen Ohren rauscht es, in meinem Kopf grollt es und als ein kühler Windhauch mich berührt, wende ich mich zur Tür, in der Erwartung, dort jemanden stehen zu sehen. Aber da ist nichts, obwohl ich eine Anwesenheit wahrnehme.

      Ein Geräusch! Kratzen, Schlurfen, Atmen? Mein Kopf schmerzt und ich fürchte, dass mir meine Sinne einen Streich spielen. Ich kneife die Augen zusammen, schaue zurück zum Schreibtisch und langsam, wie durch dichten Nebel, erreichen mich wieder Elvis’ Worte.

      „… Trupp hat euch gefunden, gerade noch rechtzeitig.“

      Er sieht mich an und bemerkt, dass ich ihm nicht zugehört habe. Nervös stehe ich auf, denn ich werde das Gefühl nicht los, dass etwas geschehen ist. Eine dunkle Vorahnung.

      „Alles in Ordnung?“, fragt Elvis und lugt über seine Brille hinweg. Ich achte nicht auf ihn, gehe zum Fenster und blicke auf den Vorhof hinunter.

      Es sind keine Zombies in Sicht, dafür Stühle und Tische, Sträucher und ein Weg, der zu einem Wald führt. Von hier aus blicke ich direkt auf den anderen Flügel des Krankenhauses. Hinter den Fenstern gibt es kein Leben, zumindest keins, das ich von Elvis’ Büro aus erkennen kann. Es ist eine nette Anlage.

      „Wie viele Menschen leben hier?“, frage ich und hoffe, dass es nicht allzu viele Überlebende gibt. Menschen bedeuten Risiko. Wäre es unhöflich, nach der Sterberate zu fragen?

      „Wir behandeln rund vierzig Patienten, überwiegend ältere Leute, die nicht in der Lage waren, das Bett zu verlassen. Es gibt nicht viele, die neu zu uns gestoßen sind.“

      „Wie lange lag ich im Koma?“, frage ich weiter, denn bei der Zahl Vierzig wird mir schwindelig.

      Die Umgebung ist mir seltsam vertraut. Mich überkommt dasselbe Gefühl wie zuvor im Flur. Ich war schon einmal hier. Und das würde bedeuten …? Verdammt, die Erinnerung rutscht mir immer wieder durch die Finger.

      „Sechs Wochen“, antwortet Elvis knapp und aus seiner Stimme höre ich Unmut, denn er will die Fragen stellen und sie nicht beantworten.

      „Wow“, ist alles, was ich darauf antworte.

      Sechs Wochen außer Gefecht und in den Händen von Fremden. Sechs Wochen hilflos ausgeliefert. Sechs Wochen ohne meinen Bruder. Kein Wunder, dass Jules eine spezielle Überwachung benötigt. Er macht sich sicher wahnsinnige Sorgen.

      „Ich brauche eine Karte“, sage ich. „Ich will wissen, wo genau ich bin.“

      Lächelnd erhebt sich Elvis von seinem Stuhl und tritt zu mir ans Fenster. Die Sonne ist hinter ein paar Wolken verschwunden.

      „Gern, aber nach meinen Informationen bist du hier aufgewachsen. Wozu also eine Karte?“

      Er legt eine Hand auf meine Schulter. Der Boden bebt unter meinen Füßen und ich stütze mich am Fensterbrett ab, um nicht zum zweiten Mal ins Koma zu fallen.

      „Cherryhill“, flüstere ich und unterdrücke ein irres Kichern. Warum habe ich es nicht gleich begriffen?

      Ich fühle mich wie ein Hamster in einem durchsichtigen Laufball. Egal wie schnell ich mich bewege, egal welche Richtung ich einschlage, ich renne immer gegen eine Wand. Und als wäre das nicht genug, bin ich immer von meiner eigenen Scheiße umgeben.

      „Cherryhill“, bestätigt Elvis mit einem kurzen Nicken. „Cherryhill Medical Center. So heißt das Krankenhaus.“

      Ich bin starr und selbst als er sanft an meinem Arm zieht und „Komm, setz dich“ sagt, rühre ich mich nicht von der Stelle.

      Dann höre ich es wieder und alle Nackenhaare richten sich auf. Ein Schlurfen, Keuchen, Kratzen. Ganz deutlich und nah. Diese Geräusche bilde ich mir definitiv nicht ein, dafür habe ich sie zu oft gehört.

      „Julie …“, sagt Elvis und bevor ich etwas erwidern kann, klopft es an der Tür.

      Nein, das ist kein Klopfen. Kein Geräusch, das ein Mensch mit seiner Hand verursacht. Es ist ein Pochen, als würde jemand oder etwas gegen die Tür rennen.

      Ich erkenne den Unterschied.

      Elvis nicht.

      „Das ist sicher mein Kollege“, sagt er und geht mit großen Schritten durch das Zimmer. „Warte einen Moment.“

      „Nein“, antworte ich und endlich finden Kopf und Körper wieder zusammen. Ich drehe mich um, um ihn aufzuhalten.

      Doch es ist zu spät. Elvis öffnet die Tür und obwohl er mit dem Rücken zu mir steht, sehe ich sein Stirnrunzeln.

      Es ist nicht sein Kollege, der ihn erwartet.

      Überraschungsbesuch

      Elvis öffnet die Tür. Doch bevor der Besuch ihm in die Schulter beißt, stürme ich zu dem Arzt und ramme ihn mit Anlauf von der Tür weg. Sein Mund steht offen und ein erschrockenes „Oh“ liegt auf seinem Gesicht, aber ich habe keine Zeit, mich um meinen behandelnden Arzt zu kümmern. Mit der anderen Hand ziehe ich den Stinker ins Zimmer und trete mit dem Fuß die Tür zu.

      „O Gott!“, schreit Elvis und seine tiefe Stimme klingt schrill – geradezu komisch. „Julie … O Gott! Was machst du da?!“

      „Aus dem Weg“, brülle ich, stelle mich hinter den Zombie und versetze ihm einen festen Tritt in den Rücken. Es ist einer von der alten toten Sorte, die sich nicht mehr so flink bewegen, aber trotzdem noch gefährlich sind. Was Elvis nicht weiß: Auf dem Flur warten weitere. Auf die Schnelle konnte ich drei oder vier zählen, aber das heißt nicht viel.

      Der Zombie gerät durch meinen Tritt ins