Susanne Sievert

Bloody Julie 2.0


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Voller Tatendrang klatscht er in die Hände. Ich schwanke zwischen Aufregung und Angst. Beides gefällt mir nicht.

      „Keine Ahnung, wann wir uns wiedersehen, deshalb werde ich nicht an guten Ratschlägen sparen, Püppi.“

      Ich nicke stumm und denke: Wir werden uns wiedersehen, da kannst du drauf wetten.

      Bobby war der Einzige, der mich jemals zurechtgewiesen hatte, auf seine eigene, liebevolle Art versteht sich. Das hat mich vor manchem Fehler bewahrt. Leider nicht vor allen. Aber hey, Fehltritte gehören zum Leben dazu, oder?

      „Ach, Püppi, du hast so viel ertragen müssen. Das reicht glatt für fünf Leben, aber all das Geschehene steckt in deinem dürren Körper. Kein liebevolles Heim, Eltern, die dich wie Ware behandeln, jahrelang auf dich allein gestellt und trotzdem hast du dich um deinen Bruder gekümmert.“ Seine Hand liegt auf meinem Fuß. In meinem Hals bildet sich ein Kloß, und wenn er so weiterredet, werde ich ihn zurechtweisen müssen.

      „Was erzählst du da, Bobby? Wir hatten dich. Wir hatten einen Rückzugsort. Du hast uns befreit.“

      „Mag sein. Vielleicht hast du recht.“

      Kurz ist er still und ich genieße zum ersten Mal unser Beisammensein. Ist es nicht das Schweigen, das einen Augenblick perfekt macht?

      „Vermutlich muss ich es dir nicht sagen. Will ich aber. Aus einem starken Kind wurde schließlich eine starke Frau. Halte durch, Püppi. Die Zeiten werden nicht besser, die Zombies nicht freundlicher und die Menschen …? Halte durch, wenn es richtig wehtut, und gib nicht auf. Versprich mir das.“

      In seinen Augen liegt ein Flehen, das ich in all den Jahren nie bemerkt habe. Er meint es ernst und ich würde ihm das Versprechen gerne geben, weiß aber nicht, ob ich so stark bin, wie er behauptet.

      „Na klar, Bobby. Ich meine, ich versuche es natürlich. Also, alles wie immer, richtig?“, frage ich und bin doch verwirrt. Den nächsten Satz überlege ich mir genau, denn ich möchte meinen Freund nicht verletzen. „Mal unter uns, Bobby, das ist ein ganz schön dürftiger Rat, meinst du nicht?“

      „Das ist der beste Rat, den ich dir geben kann.“ Er streicht sich über seinen Bart. „Und wer hat behauptet, dass ich fertig bin? Hör gut zu: Es wird der Moment kommen, da musst du loslassen. Das wird für dich eine Herausforderung, Kleines, aber lass einfach los.“

      Keine Ahnung, was die Hinweise meines Freundes sollen. So einen Ratschlag würde ich jedem Menschen auf der Straße geben. Sorry, aber von einem Toten erwarte ich etwas Bahnbrechenderes. Etwas Imposantes. So etwas wie das Öffnen der himmlischen Tore, Engelsgesang, Fanfare und den ganzen anderen Mist. Die totale Erleuchtung!

      Halte durch. Lass los. Ist das sein Ernst?

      „Entschuldige, Bob, aber ich muss es einfach loswerden. Was soll das?“, frage ich. „Wenn du mir jetzt noch sagst Folge deinem Herzen, dann sterbe ich freiwillig. Das hier ist doch kein Disney-Film. Ich brauche mehr, verstehst du? Wo ist Jules? Wie geht es den anderen? Wo bin ich überhaupt und was ist mein Ziel? Können wir die Zombies überleben? Was genau macht Menschen zu Zombies? Siehst du? Das sind wichtige Fragen und darauf brauche ich echte Antworten.“

      Bob senkt leicht den Kopf, als wäre er von mir enttäuscht. Okay, ich sehe ein, der Vergleich mit dem Disney-Film war frech. Aus seiner Brusttasche zieht er gemächlich eine Packung Zigaretten und würde er mir eine anbieten, würde ich nicht Nein sagen. Macht er aber nicht. Tja, Julie, selbst schuld. Mit einer Ruhe, die nur Bobby ausstrahlen kann, zündet er sich die Kippe an und bläst den Rauch nach oben.

      „Ach, Püppi.“ Seine Stimme klingt einen Ton tiefer. Ich habe auf die harte Tour gelernt, dass ich ihn spätestens jetzt ernst nehmen sollte. „Ich habe keine Antworten auf deine Fragen. Tut mir leid, dass ich dich enttäuschen muss. Weiß der Teufel, warum die Welt vor die Hunde geht. Das ist das Ende und die Menschen fressen sich gegenseitig auf. Wer hätte gedacht, dass Zombies uns mal die Ärsche aufreißen, was? Und siehe da: Die Erde dreht sich weiter, die Zeit läuft und läuft, und wenn du meine Ratschläge befolgst, findest du womöglich die Antworten auf deine Fragen. Willst du das denn?“

      „Keine Ahnung, Bob“, gebe ich zurück.

      Natürlich will ich wissen, warum Menschen zu Zombies werden. Aber ohne Jules? Allein auf mich gestellt? Schlagartig fühle ich mich klein und hilflos, wie damals im Schrank unter der Treppe. Das Gefühl klebt an mir wie Pech und stinkt zum Erbrechen. Am liebsten würde ich mich unter der Decke verkriechen und so tun, als wäre ich nicht da – zumindest für einen winzigen Augenblick.

      „Mach, was ich dir gesagt habe.“ Das ist keine Bitte, so viel steht fest, auch wenn er die Anweisung mit einem Lächeln unterstreicht. „Und dann, Julie, greifst du dir deinen Bruder und setzt alles daran, dass du von hier verschwindest, kapiert?“

      „Jules ist hier?“

      Bobby brummt zustimmend. Fast beiläufig lässt er die Bombe doch platzen! Da sind sie endlich, die Fanfarenklänge und Engelsgesänge, die ich mir erhofft habe.

      Mein Kopf ruckt hoch, ich will sofort aufstehen und losrennen und vergesse dabei, dass ich mit einem Einschussloch ans Bett gefesselt bin. Ich wurde erschossen, das steckt man nicht so leicht weg. Mir wird schwindelig und übel, Sterne tanzen vor meinen Augen und es wird für ein paar Sekunden dunkel.

       Jules, Jules, Jules. Mein Bruder. Ich bin auf dem Weg. Schon fast da. Warte kurz … Egal, wo du bist, warte auf mich.

      Durch die Dunkelheit sickert Bobbys Stimme zu mir. Tief, beruhigend, allumfassend. Er singt. Halt, Augenblick, er singt? Das hätte er zu Lebzeiten nie getan. „Weiberkram“, schimpfte er immer. Kein Trällern, Summen oder Pfeifen, niemals.

      Es gab einen Abend in der Bar und Bobby war so beschwingt, dass er sogar ein paar Cent in die Jukebox warf. Für ihn war es eine Verschwendung, was natürlich nicht für seine Gäste galt. An die Box gelehnt sagte er damals: „Männer, die singen, pah! Es gibt nur einen einzigen Mann, der es voll draufhat. Es gibt niemanden, der dem King das Wasser reichen kann.“

      Er singt, mein Gott, und nicht irgendeinen Song. Als die ersten Töne erklingen, kann ich mich nicht dagegen wehren. Ich bekomme eine Gänsehaut.

       „Wise men say, only fools rush in. But I can’t help, falling in love with you.“

      Herrlich, so fesselnd und wahrlich nicht von dieser Welt.

      Ich höre ihm zu, seiner Stimme aus Gold, und verliere mich in Tränen und Wehmut.

       „Take my hand, take my whole life, too.“

      Warum, Bobby? Warum dieses Lied? Hat es eine Bedeutung?

      Ach, was mache ich mir vor? Alles hat einen tieferen Sinn. Ich bin mal wieder nur zu selbstgerecht, zu engstirnig, um es an mich heranzulassen.

      Das letzte „Falling in love“ höre ich nicht mehr, schade. Was für eine Show, mein Freund. Was für eine Show! In Gedanken applaudiere ich und wünsche mir, dass Bob meine unausgesprochenen Worte hört.

      Der letzte Vorhang fällt und mit ihm wird es dunkel.

      Die alte Dame

      Als ich diesmal aufwache, erkenne ich, wo ich bin – keine Verwirrung, nur ein leichtes Unbehagen.

      Mein Gesicht ist zum geöffneten Fenster gewandt. Es wird langsam dunkel. Zwielicht nennt man das, der Übergang zwischen Tag und Nacht. Die kühle Luft erfrischt und ich fühle mich seltsam entspannt. Schmerzen habe ich immer noch, aber ich kann trotzdem eine gewisse Gelassenheit nicht leugnen. Es ist, als hätte Bobby etwas zurückgelassen. Ein letztes Geschenk an mich.

      Ich drehe den Kopf zur Wasserflasche und entdecke einen Blumenstrauß. Wildblumen. Jemand muss in meinem Zimmer gewesen sein, während ich schlief. Die Blütenblätter haben verschiedene Farben: Blau, Lila, Gelb und Rot.

      Wie hübsch. Ich mag Rot, denke ich.