K. Uiberall-James

ZUGVOGEL


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den Knoten ihres Tuches. Ibrahim wirft ärgerlich die andere Hälfte der Sandale hinterher und entzieht sich jeder weiteren Diskussion, indem er in seiner Hütte verschwindet.

      Die vierzehnjährige Aissatou kichert hinter vorgehaltener Hand. Ein Blick von Ibrahims Mutter genügt, und Aissatou schnappt sich die nassen Katzenbündel, rubbelt sie mit einem Zipfel ihres Pagne trocken und setzt sie in sicherer Entfernung bei ihrer aus dem Versteck wieder aufgetauchten Mutter ab.

      Ibrahims zweijährige Nichte Fatou und sein knapp dreijähriger Neffe Marufo sitzen auf dem Sandboden und schauen dem Treiben mit großen Augen zu. Die Mutter der beiden, seine Schwester Dzuera, ist mit ihrem Baby beschäftigt. Die Kleinen lassen spielend Sand und Blätter aus ihren über dem Kopf erhobenen Händchen rieseln. Dabei bekommt Fatou Sand in die Augen. Schreiend reibt sie sich die kleinen Fäuste ins Gesicht. Aissatou lässt wieder ihre Töpfe in Stich und eilt tröstend an Fatous Seite. Sie nimmt sie auf den Arm und wischt ihr mit der flachen Hand den Sand aus dem Gesichtchen, drückt ihr die Augenlider zu und pustet liebevoll noch verbliebene Sandkörner um die Augen herum fort.

      „Müsst ihr denn immer gleich so ein Geschrei machen?“, zetert Ibrahims gebrechlicher Vater von der ebenso hinfälligen Holzbank im Schatten der Hauswand. Kopfschüttelnd, die Hände auf seinen Stock gestützt, murmelt er: „Dieser Junge, wo der hinkommt, gibt es Unruhe“; und etwas lauter in Richtung Ibrahims Hütte: „Wo bleibt der Respekt gegenüber deinem alten Vater? Habe ich nicht das Recht auf einen ruhigen Abend im Kreise meiner Familie?“ Keine Antwort.

      Stattdessen trägt die Abendbrise nun die friedlichen Geräusche der Nachbarn in die eintretende Stille seines Hofes. Nebenan wird Hirse gestampft, Kinder planschen mit dem Waschwasser, die Blechtore knarzen von den heimkehrenden Männern und Gesprächsfetzen wehen herüber.

      ‚So sollte es auch hier sein’, denkt Ibrahims Vater neidisch und steht mühsam auf. Eigentlich ist dies die angenehmste Stunde seines sonst eher eintönigen Tages; alle sind zu Hause und sein Sohn muss Rechenschaft über die ihm aufgetragenen Arbeiten ablegen. Das gibt ihm das Gefühl, noch der Herr im Hof zu sein. Außerdem schätzt er es, wenn die leichte, fast ätherische Abendluft sanft über sein zerfurchtes Gesicht streicht und ihm das Atmen erleichtert; er genießt die verführerischen Kochdünste, die seine Sinne wieder beleben, wenn er den Frauen beim Kochen zuschaut; aber vor allem liebt er es, von der kleinen Anhöhe den Blick über den Hof in die Savanne bis zum Horizont schweifen zu lassen und dabei seinen Gedanken nachzuhängen. Das alles hat ihm Ibrahim durch sein unbedachtes Handeln verdorben.

      Der alte Ärger über seinen Sohn kommt wieder hoch: „Wir reden noch“, ruft er in Richtung Ibrahims Hütte und stakst steifbeinig zu seiner eigenen Hütte; dabei wendet er noch einmal den Kopf zu den Frauen und knurrt über die Schulter: „Ruft mich, wenn das Essen fertig ist.“

      Schon ist die Nacht den verblassenden Rottönen des Tages hart auf den Fersen, während das Treiben im Hof wieder seinen normalen Gang geht. Dzuera ist dabei, das Tragetuch mit Baby Jean Léopold neu zu ordnen, um sicherzugehen, dass ihr das Kind, wenn sie sich beim Kochen bückt, nicht verrutscht. Während dieser Prozedur schwankt Baby Jean

      Léopolds Kopf halsbrecherisch hin und her; aber Baby ‚Jelo’, so nennen es alle der Einfachheit halber, hält es nicht einmal für nötig, die Augen zu öffnen, denn es hat seit seiner Geburt die Erfahrung gemacht, dass es auf dem Rücken der Mutter sicher ist und viel interessanter als allein auf dem großen Bett in der Hütte, wo die älteren Kinder auf es aufpassen sollen, es kitzeln und an den Zehen ziehen, liebevoll, aber nicht gerade zimperlich.

      Inzwischen ist das Essen fertig. Aissatou hat den Boden mit einem alten Stück Stoff ausgelegt, die gefüllte große Kalebasse und einen kleinen Topf mit Soße bereitgestellt und zwei Stangen Baguette danebengelegt. Die Holzschemel werden im Kreis darum angeordnet und wer keinen hat, hockt sich auf den Boden, sitzt seitwärts auf dem Tuch. So auch Ibrahim.

      „Willst du noch weg?“, fragt ihn seine Mutter und mustert ihren Jüngsten von der Seite, der gebügelte Jeans und sein bestes T-Shirt trägt.

      „Hm“, antwortet ihr Sohn einsilbig, was so viel wie ‚ja’ heißen soll.

      Es gibt Reis mit Gemüse, Fisch und Huhn. Für diejenigen, die es scharf mögen, gibt es noch eine kleine Schüssel mit scharfer Soße. Fürsorglich lösen die männlichen Familienmitglieder, Ibrahims Schwager Massamba ist inzwischen auch zu ihnen gestoßen, Stückchen vom Fisch oder Fleisch und legen es den Frauen und Kindern dorthin, wo sie ihre Hand in die Schüssel tauchen. Es wird schweigend gegessen. Nur gelegentliches, zufriedenes Schmatzen, das Rascheln der Stoffe, wenn die Frauen sich bewegen und Fatous leises Quengeln ist zu hören. Ibrahim langt kräftig zu; er leistet die Schwerarbeit auf dem Feld und muss daher mehr essen. Als die Schüssel fast leer ist, löst sich die Runde nach und nach auf; die Frauen räumen auf. Sie werfen dem Hund die Reste hin, der sich mit einem Huhn darum streitet. Ibrahim verscheucht das Huhn, und, bevor wieder etwas passiert und er die Schuld daran trägt, oder sein Vater noch etwas sagen kann, verlässt er mit langen federnden Schritten erfrischt und gestärkt den Hof. Das alte Tor scheppert und rumpelt unter Protest gegen die grobe Behandlung.

      Die Nacht wirft nun gemächlich ihr schwarzes Tuch über den Himmel. Am Straßenrand erhellen die kleinen Petroleumlampen der Händler und die Kohlefeuer der Garküchen notdürftig die angebotene Ware und werfen lange, von unzähligen Schlaglöchern unterbrochene Schatten auf die holprige Sandpiste. Die Garküchen haben Hochbetrieb und vor den aus alten Brettern zusammengenagelten Verkaufsständen drängen sich große und kleine Kinder, um ein Bonbon oder zwei Zigaretten für den Vater zu erstehen. Es gibt dort Kekse, Kaugummi und Moskitospiralen zu kaufen; eben alles, was der Mensch so zum Feierabend braucht.

      Ibrahim weicht geschickt den im Schatten liegenden Löchern der Straße aus. Zielstrebig geht er auf die kleine Bar an der Ecke zu, eine Bretterbude, die an zwei Seiten die Luken geöffnet hat. Dort warten seine Freunde schon auf ihn. Sie hocken auf einer windschiefen Holzbank, jeder mit einem einheimischen Softdrink vor sich.

      Zur Begrüßung klatschen sie sich grinsend mit erhobener Hand in die Handflächen. Die coole Begrüßung täuscht aber nicht über die latent vorhandene schlechte Laune der schon Anwesenden hinweg.

      Ibrahim stützt seine Ellenbogen auf den hohen Holztresen, ordert eine Limonade und mustert seine Freunde über die Schulter von der Seite. „Was gibt’s Neues, alles okay?“ Er schiebt ein paar kleine Münzen über die Theke und setzt sich mit dem Getränk zu seinen Freunden.

      „Ja, ja, was soll schon sein?“, kommt etwas unwirsch von Amadou zurück. „Immer dasselbe“, ergänzt Sekou und nimmt ergeben einen Schluck aus seiner Flasche.

      Jeder hängt seinen Gedanken nach, bis Amadou in trotzigem Ton das Schweigen bricht: „Ich hab Lust auf eine Zigarette; habt ihr noch ein paar Münzen?“ Er schaut Sekou und Ibrahim fordernd mit geöffneter Hand an. Sekou krempelt bedauernd seine Hosentaschen nach außen und Ibrahim gesteht, dass er auch pleite ist. Die Freunde verfallen in unheilvolles Schweigen.

      Sekou studiert aufmerksam das Etikett der Flasche in seiner rechten Hand; Amadou säuselt ohne Erfolg einer vorbeigehenden Dorfschönheit Komplimente hinterher.

      „Vergiss es. Bei der wirst du nie landen“, belehrt Sekou seinen Freund, und mit verächtlicher Stimme: „Die geht nur mit einem Typen aus, der ein Auto hat und ihr Geschenke machen kann.“

      Mit dieser Aussage tritt er nichts ahnend eine Lawine von angestautem Frust los. „Oh Mann“, stöhnt Amadou, „ich kann so nicht weitermachen. Jeden Tag, den Gott mir schenkt, arbeite ich von morgens bis abends, putze den Touristen das Klo, mache jede Dreckarbeit in der Herberge, und wofür? Für einen Hungerlohn! Und am Ende eines harten Tages kann ich mir nicht mal eine Zigarette leisten.“

      „Aber du rauchst doch gar nicht“, versucht Sekou ihn zu beruhigen.

      „Na und?“, schnarrt Amadou, „darum geht’s doch gar nicht.“

      Die grellen Scheinwerfer eines luxuriösen Jeeps streifen für den Bruchteil einer Sekunde sein wütendes Gesicht und degradieren es zu einer Fratze; sie tauchen im unregelmäßigen Rhythmus der Schlaglöcher immer wieder auf und ab. Mit