K. Uiberall-James

ZUGVOGEL


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Vater sitzt noch draußen auf der Bank. „Na, Papa, noch nicht müde?“ Er setzt sich neben ihn und versucht, sich seinen Kummer und Frust nicht anmerken zu lassen.

      „Ich habe auf dich gewartet, Amadou“, antwortet sein Vater, „deiner Mutter geht es gar nicht gut, kannst du …“

      Amadou erhebt sich sofort wieder und lauscht am mit Stoff verhangenen Eingang zur Hütte seiner Mutter. Leise fragt er durch den Vorhang: „Mama, bist du noch wach?“

      Jaa, komm’ nur herein“, flüstert sie schwach. Er setzt sich ans Kopfende der Schlafstätte zu ihr auf den Boden.

      „Miriam war hier“, fügt sie hinzu und schließt vor Schwäche die Augen.

      „Mama, du sollst dich nicht anstrengen“, lenkt Amadou ab, weil er nicht möchte, dass seine Mutter sich aufregt. Er taucht einen Stofffetzen in die neben dem Bett stehende Wasserschüssel, wringt ihn aus und betupft behutsam die heiße Stirn seiner Mutter. „Soll ich den Doktor holen?“, fragt Amadou mit besorgter Miene.

      „Nein, nein, so schlimm ist es nicht.“ Sie versucht sich etwas aufzurichten, „aber ich muss mit dir reden.“ Amadou setzt sich zu ihr auf das Bett und hält stützend den rechten Arm um die Schultern seiner Mutter. „Es geht um Miriam“, beginnt sie und macht erschöpft eine Pause, „sie ist solch ein liebes Mädchen.“

      „Da bin ich mir nicht mehr so sicher; ich habe sie heute Abend im Jeep von dem Typen gesehen, der in Deutschland lebt und zu Besuch bei seiner Familie ist.“

      „Ach Junge, das hat nichts zu sagen; er hat sie nur ein Stück mitgenommen, weil sie so viel zu tragen hatte. Das hat sie uns selbst erzählt.“ Amadou schweigt. „Aber du solltest nicht mehr zu lange mit dem Heiraten warten, sie liebt dich wirklich und hat es nicht verdient, so hingehalten zu werden.“

      Amadou antwortet nicht; seine Gedanken driften, wie schon so oft, zurück zu dem Afrikafestival, das vor einigen Jahren live im Fernsehen übertragen worden war. ‚Wo hatte das noch stattgefunden?’, versucht er sich zu erinnern, ‚auf jeden Fall in Europa.’

      Der Besitzer vom ‚Paradies’ hatte damals in einem Anfall von Großzügigkeit und der Erwartung eines festtagsähnlichen, hemmungslosen Getränkeumsatzes, seinen Fernseher mit drei gefährlich brüchigen Verlängerungskabeln unter dem Mangobaum aufgestellt. Das ganze Dorf hatte, auf dem nackten Boden hockend, fasziniert die Funken sprühende Show von tanzenden und singenden Afrikanern verfolgt. Begeisterung und Stolz waren auf den Gesichtern des Publikums abzulesen.

      Nur einmal wurde diese friedvolle Einträchtigkeit unter den Schaulustigen von etwas wirklich Trivialem empfindlich gestört: von einem dicken Vogelschiss direkt auf den Fernseher. Den Besitzer des Fernsehers traf fast der Schlag. Er sprang vom einzigen Stuhl auf und brüllte in die verunsicherte Menge: „Macht das weg oder ich mach den Kasten aus!“ Ein Tumult entstand; einige waren der Meinung, dass der Besitzer das selber machen sollte, andere waren der Meinung, den Vogelschiss nicht weiter zu beachten, um die Show nicht zu verpassen, andere wiederum konnten sich vor Lachen kaum halten, und noch andere waren wütend, weil die Palavernden den Bildschirm verdeckten. Schließlich wurde der Barkeeper, der nichts Böses ahnend weitere Getränke herausbrachte, dazu verdonnert, die Schweinerei zu beseitigen. Sein angeekeltes Gesicht dabei provozierte die Anwesenden prompt erneut zu einer Vielzahl von Bemerkungen mitfühlender, aufziehender oder höhnischer Art. Amadou schmunzelt bei dem Gedanken an die Szene.

      „Amadou, woran denkst du?“ Seine Mutter legt ihre verschwitzte Hand leicht auf den Arm ihres Sohnes. In ihren Augen flackert ein Lächeln.

      Erfreut nutzt er die Gelegenheit, um seine Mutter etwas aufzuheitern. „Ach, kannst du dich noch an den Vogelschiss auf dem Fernseher der ‚Paradies‘-Bar erinnern?“ Natürlich kann sie das, und für eine kleine Weile denken beide nicht an Krankheit.

      Als Amadous Mutter erschöpft ihre Augen schließt, kehren seine Gedanken wieder zurück zu den afrikanischen Künstlern.

      ‚Die haben es geschafft’, hatte er damals gedacht, ‚dabei machten sie dort auf der Bühne in Europa nichts anderes als zu Hause. Nur, dass sie dort Geld dafür bekamen. Sie nannten sich ‚Botschafter der afrikanischen Kultur’ und die Weißen fuhren total darauf ab.’

      Amadou ist ein Tagträumer.

      Seine Gedanken driften in seinen Lieblingstraum ab, wo auch er Botschafter seiner Kultur ist, wo er als Tänzer um die Welt reist und sich auf internationalen Bühnen feiern lässt. Er würde erst dann zurückkommen, wenn er das nötige Geld hätte, um die besten europäischen Ärzte und eine Pflegerin für seine Mutter zu engagieren, und wenn er seinen Eltern ein schönes, kühles Haus bauen könnte.

      „Amadou, hörst du mich? Ich rede mit dir.“ Amadou hört sie nicht; sein Körper ist zwar anwesend aber sein Geist hat den afrikanischen Kontinent verlassen. ‚Ja, und er würde auch etwas für sein Dorf tun. Nicht wie die anderen, die nur an sich selbst denken, die gerade mal das Nötigste aus dem reichen Europa schicken. Zugegeben, um es richtig zu machen, müsste er zunächst in der Hauptstadt eine traditionelle Tanzausbildung absolvieren, um sein Talent professionell umzusetzen; tanzen kann ja jeder.’

      „Amadou.“

      „Ja, Mama“, er wendet ihr schleppend den Kopf zu, die Augen folgen verzögert, als müssten sie sich gewaltsam von seinem schönen Zukunftstraum losreißen. „Tut mir leid; was hast du gesagt?“

      Sie seufzt. „Ich wünsche mir so sehr, dass du Miriam heiratest.“

      „Mama, ich bin noch zu jung zum Heiraten, und abgesehen davon haben wir kein Geld für eine Hochzeit.“

      Das Petroleumlämpchen neben dem Bett seiner Mutter flackert und erlischt dann ganz. Mutter und Sohn lassen die vollkommene Dunkelheit zu. Reglos verharren sie in Schweigen; die unausgesprochenen Worte hängen abwartend in der stickigen Luft. Sie haben keine Eile. Dann entschließt Amadou sich doch, für Licht zu sorgen. Er tastet auf dem Regal neben dem Bett nach Streichhölzern, steht auf, hebt den Vorhang vor dem Eingang zur Seite und befestigt ihn an einem dafür vorgesehenen Nagel. „Ich hole nur Öl für die Lampe, bin gleich wieder da“, sagt er leise in Richtung Bett.

      Als er zurückkommt, ist seine Mutter in einen leichten Schlaf gefallen. Er sorgt dafür, dass die Lampe wieder brennt, fächelt mit einem Stück Pappe etwas frische Luft in die Hütte und gesellt sich dann zu seinem Vater draußen auf die Bank. „Schläft sie?“ „Ja.“ Ihre Blicke wandern bedächtig hoch zum Himmel, wo unzählige Sterne nach und nach ihre Position einnehmen.

       Ein ganz normaler Tag

      Sekou hat bei seinem Onkel geschlafen. Das macht er oft, um dem Stress mit seinem Vater zu entgehen. Es ist noch Nacht, als er sich von seinem Lager erhebt. Er tritt aus dem Haus und geht mit noch vom Schlaf verklebten Augen hinter die Büsche, um sich zu erleichtern. Dabei blickt er in den Himmel und sieht die Sterne in der beginnenden Morgendämmerung verblassen. Zurück im Haus, wirft er sich eine Handvoll Wasser ins Gesicht, spült sich den Mund aus, nimmt ein paar Münzen aus einem Glas und schlüpft so leise wie möglich durch das knarrende Holztor.

      Auf der Straße steuert er den Brotstand an, einen kleinen Holzverschlag mit einer Luke zum Herausreichen des Brotes. Hier schmeckt das Brot am besten. Beim Nachbarstand kauft er dann noch vier Eier, zwei Zwiebeln und etwas Erdnuss-Öl in einem kleinen Plastikbeutel. Der Verkäufer legt die Eier vorsichtig in einen zu einer Papiertüte zusammengedrehten Papierfetzen und lächelt Sekou freundlich an. „Vergiss nicht das Salz“, erinnert Sekou ihn mit ruhiger Stimme. Der Verkäufer knebelt einen Teelöffel voll Salz in einen noch kleineren Papierfetzen und packt alles in eine dünne Plastiktüte. „Grüß deinen Onkel von mir.“ Sekou nickt.

      Der Verkäufer mag den Jungen, er ist immer hilfsbereit und höflich, und er ist sich für keine Arbeit zu schade. Manchmal, wenn abends noch Brot übrig ist, ruft er den Vorübergehenden zu sich und schenkt ihm ein oder zwei Brote - es wäre doch schade, wenn es altbacken würde - weil er weiß, dass Sekou seinen Stolz hat. ‚Tja, der Junge hat wirklich Pech gehabt’, denkt er und schaut ihm nachdenklich nach.