Melissa Jäger

Raetia


Скачать книгу

leer. Gegenüber dem Schreibtisch befanden sich zwei Nischen mit den Statuen der Heilgötter Asklepius und Salus, die die Griechen Hygieia nannten. Vorsichtig warf Alpina einen Blick in den Innenhof, der von allen vier Seiten des Gebäudes aus zugänglich war. Säulengeschmückte Umgänge umgaben ihn, so dass man trockenen Fußes von einem Gebäudeteil zum anderen gehen konnte. Über der Tür des gegenüberliegenden Tores stand „Medicus“. Ein farbiger Mann in einfacher, blutbespritzter Tunika lief über den Innenhof. Er trug einen Eimer und blutige Leinenbinden. Ihm folgte nach kurzer Zeit ein anderer Mann, dessen Tunika sauber und von besserer Qualität war. Er warf Alpina einen überraschten Blick zu und eilte dann auf sie zu.

      „Was willst du hier, Mädchen? Das hier ist kein Kinderspielplatz!“

      Alpina fuhr zurück ins Innere des Vestibüls. Sie stotterte, als sie ihr Anliegen vorbrachte.

      „Ich muss den Medicus sprechen! Es ist dringend! Meine Mutter, die Obstetrix Iulia Elvas schickt mich. Wir sind bei einer Frau, deren Kind tot im Uterus liegt. Sie wird sterben, wenn er ihr nicht helfen kann!“

      Bettelnd sah sie den Mann an, dessen Gesicht sich verzog.

      „Ist sie die Frau eines Soldaten oder Magistratsbeamten?“

      Alpina schüttelte den Kopf.

      „Ist sie reich?“

      Wieder musste Alpina verneinen. „Sie ist die Frau eines Schusters, aber ihr Mann hat versprochen, die Behandlung zu bezahlen!“

      Der Adiutor des Medicus zuckte die Achseln und wandte sich ab.

      „Wenn er nicht vorab fünfundzwanzig Sesterzen bezahlt, wird der Medicus Demetrios das Valetudinarium sicher nicht verlassen. Er ist beschäftigt!“

      Alpina war am Verzweifeln.

      „Aber die Frau stirbt, wenn wir es nicht schaffen, das Kind zur Welt zu bringen!“

      Decimus Solemnis, der bereits wieder hinter seinem Schreibtisch Platz genommen hatte, wurde wütend.

      „Dann stirbt sie eben! Glaub´ mir, Kleine, sie ist nicht die erste, die eine Geburt nicht überlebt.“

      Er vertiefte sich in seine Unterlagen und würdigte die entsetzte Alpina keines weiteren Blickes. Enttäuscht ließ das Mädchen den Kopf hängen. Wie sollte sie mit dieser Nachricht zu ihrer Mutter und der Schwangeren zurückkehren? In ihrer Verzweiflung fiel ihr Blick auf die Statuen der Heilgötter. Alpina sank vor der bunt bemalten Steinfigur der Göttin Salus in die Knie.

      „Salus, mächtige Göttin der Gesundheit, nun kannst nur noch du mir helfen! Ich flehe dich an, entreiße Ferun den Armen Proserpinas und schenke ihr die Fackel des Lebens!“

      Wutentbrannt sprang der Sekretär des Medicus von seinem Sitz auf.

      „Mach´, dass du fortkommst, Impudenda! Was fällt dir ein, dieses ehrwürdige Haus durch dein Gewinsel zu entehren!“

      Er machte einige schnelle Schritte auf Alpina zu, packte sie schmerzhaft am Oberarm und zerrte sie hoch. In diesem Augenblick trat ein großer, gutgebauter Mann in griechischer Kleidung vom Innenhof her ins Vestibül. Er trug den Bart in etwa so wie Claudius.

      „Was ist denn hier los? Solemnis, du schuldest mir eine Erklärung für das Geschrei!“

      Der Sekretär drehte sich zu seinem Herrn um.

      „Dieses freche Ding hier stiehlt mir meine kostbare Zeit. Stellt Euch vor, sie wollte sogar Eure kostbare Zeit verschwenden für irgendeine mittellose Lupa aus dem Suburbium, und dann hatte sie auch noch die Frechheit, hier, vor meinen Augen, in Klagegebete auszubrechen, wie ein Klageweib beim Totenbegängnis! Ich entferne sie von hier, mit Eurer Erlaubnis, verehrter Dominus Demetrios.“

      Der dunkelhaarige Grieche musterte Alpina neugierig.

      „Sie sieht mir nicht aus wie eine Lupa aus dem Suburbium. Wie heißt du, Mädchen?“

      Solemnis lockerte seinen Griff ein wenig. Alpina schöpfte neue Hoffnung.

      „Ich heiße Alpina und bin die jüngste Tochter des Centurio der Equites Singulares, Caius Iulius Achilleus und der Obstetrix Iulia Elvas.“

      Demetrios hob die Augenbrauen.

      „So? Und was führt dich zu mir, Alpina?“

       Er gab seinem Adiutor einen Wink, Alpina loszulassen. Verärgert gab der Mann den Arm des Mädchens frei. Sie wiederholte ihre Bitte und schickte ein weiteres stummes Stoßgebet an Salus, sie möge das Herz des Medicus erweichen.

      „Deine Mutter hat einen guten Ruf als Obstetrix. Sie soll gewissenhaft arbeiten. Lernst du das Handwerk deiner Mutter, Alpina?“

       Sie nickte.

      „Du meinst also, sie würde mich nicht rufen lassen, wenn es nicht dringend wäre. Also dann, Solemnis, hol mir Tutto! Er soll meinen Instrumentenkasten und die Medikamente mitbringen. Wir brechen auf!“

      Plötzlich nickte der Sekretär eifrig und lief so schnell er konnte über den Hof zum Behandlungsraum des Medicus. Kurze Zeit später erschien der dunkelhäutige Sklave, den Alpina bereits gesehen hatte, in einer frischen Tunika. Er trug eine Ledertasche und eine schöne, messingverzierte Holzkiste.

      „Folge uns, Tutto!“, befahl Demetrios und gab Alpina ein Zeichen, ihm den Weg zu weisen.

      ***

      Der kaiserliche Legat und sein Gefolge erreichten Gontia am Nachmittag und nahm im verwaisten Lager der Ala II Flavia Quartier. Nicht weit entfernt, am neuen Übergang über den Danuvius, in Phoebiana, war eine berittene Kohorte einquartiert, die die neue Brücke bewachen sollte. Gemeinsam mit dieser Einheit wollten sie am kommenden Tag nach Aquileia reiten und dort an einer Übung teilnehmen. In Aquileia hatte die eintausend Mann starke Ala II Flavia ihr neues Quartier bezogen.

      Routiniert verstauten die Soldaten ihre mitgebrachte Ausrüstung und machten sich daran, ihre Abendmahlzeit zuzubereiten. Caius saß mit dem kaiserlichen Legaten Fabricius Veiento, den Statthaltern Sura und Proculus, sowie den Begleitern und ranghöchsten Offizieren der Prätorianereinheit zum Essen. Der Regen hatte nachgelassen, als sie sich in der großen Halle, die der Principia vorgelagert war, trafen. Man besprach die Route für die kommenden Tage. Nach der Inspektion des neuen Lagers in Aquileia mit der dazugehörigen Übung würden sie am darauffolgenden Tag weiterreisen. Ihr Weg sollte sie entlang der neugeschaffenen Grenzlinie mit ihrer baumlosen Schneise nach Germania superior und schließlich, nach der Überquerung des Rhenus, nach Mogontiacum führen. Noch immer waren nicht alle Kastelle auf der Strecke ausgebaut. Vielfach waren die römischen Garnisonsstützpunkte noch Baustellen. Die Grenze zum freien Germanien war noch nicht flächendeckend durch Kleinkastelle und Wachposten überwacht, wie der Kaiser es sich wünschte. Der Saturninus-Aufstand und die Auseinandersetzungen mit den wehrhaften Chatten hatten ihm vor Augen geführt, wie wichtig sowohl eine schnelle und sichere Verbindung vom Danuvius in die Hauptstädte der neuen Provinzen, als auch eine deutliche militärische Präsenz an der Grenzschneise waren. Während der Warenverkehr noch immer über den Danuvius und Arae Flaviae zum Rhenus lief, sollte der Gesandte des Kaisers die neue Verbindung nach Mogontiacum testen und Domitianus über die Fortschritte bei den Baumaßnahmen an den Kastellen entlang der Grenze berichten. Außerdem stand eine Inspektion der Ala I Cannanefatium von Lopodunum an, bevor sie die Hauptstadt der Provinz Obergermanien erreichen würden. Dort würde Proculus den bisherigen Statthalter Priscus ablösen. Gemeinsame Beratungen und Inspektionen entlang der Grenzanlagen sowie ausgiebige Übungen waren angesetzt, bevor Fabricius Veiento den zukünftigen Statthalter Sura in die Colonia Claudia Ara Agrippinensium in Untergermanien begleiten würde. Caius hingegen würde dann mit Rufus nach Augusta Vindelicum zurückkehren, wo auch der kaiserliche Legat auf seiner Heimreise nach Rom erneut Station machen wollte.

      ***

      Als Alpina und Demetrios das Haus des Schusters betraten, hörten sie bereits die erstickten Schreie der Kreißenden. Der Schuster flehte den griechischen Medicus an, das Leben seiner jungen Frau zu retten. Demetrios nickte abwesend, er folgte den Schreien zur Kammer im hinteren Teil des Hauses. Elvas kniete neben der Rotblonden