A.B. Exner

Spätes Opfer


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hatte? Nein, Dirk nicht. Aber jemand anderes. Ich erkannte den forschen Schritt einer Frau auf der anderen Seite der Wiese, auf der wir lagen. Die Frau ging unten an der Spree entlang. Eigentlich hatte ich jetzt keinen Bock auf diesen Zufall. Ich lotste Vera, ohne ihr etwas zu sagen, in die entgegengesetzte Richtung. Doch Gaby hatte uns schon entdeckt. Sie stellte sich uns in den Weg und nicht zur Rede. Vera wollte mich nicht loslassen. Ich löste meine Hand dennoch aus der ihren. Gaby sandte nur Blicke. Wir standen im Dreieck. Nach ewigen Sekunden des Schweigens sagte Vera nur zu Gaby, dass wir Freunde seien, nicht mehr. Gaby fing bitterlich an zu weinen. Nicht jedoch wegen uns. Ihre Mutter sollte heute in der Nacht zum dritten Mal operiert werden. Allerdings in einer Klinik in Westberlin. Die Möglichkeiten in der Charité waren alle erfolglos geblieben. Verwundert hinterfragten wir, weil uns nicht klar war, dass es die Möglichkeit einer OP im Westen der Stadt gab. Sie erklärte uns, dass die katholische Gemeinde aus unserem Stadtbezirk etwas Geld dazu gab und auch die Verwandten aus dem Westen finanziell halfen. Das es sowas gab? Waren unsere Ärzte jetzt nicht mehr gut genug? Ich fühlte eine bittere Empörung in mir. Wir begleiteten Gaby bis zur Straßenbahn und verabschiedeten uns. Schweigend setzten wir unseren Spaziergang fort. Immer wieder musste ich an die Peinlichkeit denken, dass unsere Medizin nicht so gut seine sollte, wie die im Kapitalismus. Wir liefen durch die Hackeschen Höfe, genehmigten uns eine Pause am Neptunbrunnen, auf dem Alex, um dann auf ein Bier in die Zillestuben einzukehren. Wir saßen direkt am Fenster. Die Straßenlaternen waren schon lange an. Die Werbung für die Jugendtageszeitung „Junge Welt“ krönte einen der schrecklicheren Neubauten am Rande des Alexanderplatzes. Vera fragte mich, was an all diesen Erlebnissen dieses Tages nicht stimmte. Ich wusste, dass an diesem Tag im Jahr 1905, die Weltausstellung in Lüttich eröffnet worden war. Auf das Heute bezogen, hatte ich keine Ahnung. In meiner grenzenlosen Einfalt hatte ich nicht erfasst, worum es ihr ging. Wieder einmal. Sie sah mich lange und bestimmt an. Dann sagte sie nur das eine Wort. Seinen Namen. Er hatte ihr gesagt, dass er heute seine Mutter besuchen wollte. Deshalb hatte sie auch nichts vorgehabt, konnte mit mir unterwegs sein. Abends, dass wusste sie, wollten Dirk und ich mit alten Kumpels in den BEWAG-Club. Jetzt war es bereits dunkel. Dirk war nicht bei seiner Mutter gewesen. Und jetzt war Dirk nicht mit Bert im Club. Was also war los? Sie wollte die Antwort jetzt. Wollte mit mir und Dirk reden. Sie wollte mit mir zu Dirk nach Haus. Es war die längste U-Bahnfahrt meines jungen Lebens. Sie sprach kein Wort und ich wusste, dass ich die Schnauze zu halten hatte. Gaby war schon wieder zu Haus und immer noch nicht beruhigt. Dirk sei in der „Ampel“. Sogleich wandten wir uns zum Gehen, als Gaby Vera an die Hand nahm. Gaby sah uns abwechselnd an und beschwor uns, Dirk das nicht anzutun, er würde zerbrechen, würde am Alkohol zugrunde gehen. Vera solle nicht mit ihrem Bruder Schluss machen. Die Ampel war eine Kneipe der übleren Sorte. Vera sah Dirk sofort. Ich hörte ihn nur grölen. Er weinte bitterlich wegen der Ungerechtigkeit der Welt. Dass er Vera liebe und seine Mutter bald sterben werde und ihm jetzt, wo er wieder zum Fusel gegriffen habe, nur seine Schwester bleiben würde. Denn Vera würde ihn doch bestimmt verlassen. Mit den beiden letzten Annahmen sollte er sich täuschen. Es kam anders herum. Es dauerte drei Stunden, bis ich Dirk im Bett hatte. Vera war bereits nach ein paar Minuten rückwärts aus der Kaschemme verschwunden. Er weinte. Er sträubte sich. Er wurde ungerecht. Er brach zusammen. Meine Eltern waren sowieso nicht zu Hause, also blieb ich einfach bei Dirk. Gaby und ich saßen auf dem Balkon. Nebeneinander auf der Bank. Eingemummelt in eine alte Steppdecke. Sie erzählte mir von Dirk und den letzten Monaten. Erzählte von den Stunden des Bangens am Bett des besoffenen Bruders und denen am Bett der Mutter. Dem verständnislosen Warten am leeren Bett des Vaters. Sie berichtete von den Gesprächen mit Vera. Gaby befürchtete immer, dass Vera wegen der besseren Stelle, des besseren Verdienstes irgendwann von Dirk ablassen würde. Vera beruhigte sie jedes Mal. Für Dirk war Vera die einzige Konstante in seinem Leben. Nur wegen ihr hatte er sich die andere Arbeitsstelle gesucht. Wegen Vera trank er nur noch Bier und verzichtete auf die harten Sachen. Er rauchte zu Haus gar nicht mehr. Wegen seiner Liebe zu Vera. Ich hörte zu. Ich war verliebt in die Freundin meines besten Freundes. Und ich schlief in dieser Nacht mit seiner Schwester. Als ich nur noch sechs Tage bis zu meiner Entlassung aus dem Wehrdienst übrig hatte, kam der Brief von Vera. Sie entschuldigte sich, weil sie einfach nicht in der Lage gewesen war, mir an diesem Abend in der Kneipe zu helfen. Sie hatte lange mit Gaby gesprochen. Über mich und über Dirk. Auch über Dirks Mutter. Sie hatte sich mit Dirk verlobt. Veras Mutter war nicht begeistert und ihr Vater außer sich. Als angehende Medizinerin wolle sie einen Lagerarbeiter durchbringen? Das würde kein Mitglied der Familie verstehen können. Wieder las ich die Hilferufe der Freundin. Was sollte ich tun? Bei der Armee gab es nicht eben mal schnell so einen Urlaub nebenher. Schon gar nicht mit dieser Begründung. In einer Woche wäre ich zu Haus. Dann könnte ich helfen. Das schrieb ich ihr und war der festen Überzeugung, dass es so sein würde. Einen Abend später erhielt ich einen Anruf von Dirk. Da das Gespräch längst weg war, als die Heerscharen von Wachhabenden mich endlich darüber informiert hatten, rannte ich zum Med.-Punkt und wählte Dirks Nummer. Beim zweiten Klingeln hörte ich ihn weinen. Sein Vater sei in der Nacht von einem Motorrad angefahren worden. Es ginge ihm sehr schlecht. Der Schädel sei offen. Gaby sei jetzt bei ihm, er würde sie in zwei Stunden wieder ablösen. Nach einer Sauftour von nahezu vier Wochen, wollte der Vater wieder nach Haus und war genau vor dem Musikgeschäft in der Schönhauser Allee / Ecke Stolpische Straße von dem Motorrad erwischt worden. Nur vierzig Meter vor der eigenen Wohnung. Über seine Mutter könne er nichts sagen, die sei immer noch in dem Westberliner Klinikum. Ja, er werde Gaby grüßen. Ich solle mich melden, wenn ich wieder da sei. Er werde mich dann aber nur kurz sehen können. Kein Wort der Begründung. Und dann fiel es mir ein. Ich kam am Montag nach der Armeezeit nach Haus und ab Mittwochabend sollte er das sozialistische Vaterland verteidigen. Fliegender Wechsel. Wir hatten nur ein paar Stunden. Scheiße. Das Gespräch wurde durch Dirk beendet. Etwas fehlte. Vera. Wir hatten kein Wort über Vera gesprochen.

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