A.B. Exner

Spätes Opfer


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welche Aufstiegschancen Dirk denn in seinem Beruf haben würde. Die Antworten waren erschütternd. Nicht, dass man in einem solchen Beruf keine Möglichkeiten hatte, die Karriereleiter empor zu klettern, es lag an ihm. Dirk war nicht fleißig und nicht zielstrebig. Und er verdiente 100 Mark mehr, als er Vera erzählte. Ihr Zug sollte um 23.51 Uhr vom Bahnsteig drei abfahren. Wir heulten und lachten. Wollten nicht voneinander lassen. Das Zimmer im Bahnhofshotel konnte ich gerade noch so bezahlen. Am Morgen ging es uns beiden besser. Sie durfte mal heulen und lieben. Ich durfte endlich bei ihr sein. Um fünf Uhr dreißig musste ich in der Kaserne sein. Ihr Zug, ja, diesmal fuhr sie wirklich, ging um 8.21 Uhr. Heute Abend wollten wir telefonieren. Beim ersten Klingeln ging sie ran. Dirk war betrunken Moped gefahren, hatte sich dann mit seinem „Sperber“ zugedeckt und schlafend gewartet, bis die Polizei so freundlich gewesen war, ihn zu wecken. Nein, er war nicht verletzt. Nein, er hatte nicht gewusst, dass Vera bei mir war. Er hatte einfach einen getrunken mit seinen Kumpels vom Sportclub in Berlin Lichtenberg, dem die meisten seiner Kollegen angehörten. Und außerdem kostet das kleine Bier in der Vereinskneipe nur 45 Pfennige. Das sei doch nicht schlimm. Scheiße fand er nur, dass sein Moped und seine Flebben weg waren. Vera weinte. Sie liebte Dirk, vermisste mich. Beide waren wir weit weg. Räumlich der eine, seelisch der andere. Als ich wieder in meinem Zimmer war, sah ich den Brief meines Vaters. Ungeöffnet. In Gedanken bei Vera, versuchte ich zu verstehen, was der Alte mir mitteilen wollte. Als ich begriffen und meinen vietnamesischen Kumpel davon informiert hatte, waren meine Gedanken zwar woanders gebunden, meine Seele war dennoch nicht frei. Ich hatte die schönste Nacht meines Lebens hinter mir. Mit der Unerreichbaren. Der Freundin meines besten Freundes. Mein Vater hatte mich informiert, dass an Bord seines Schiffes eine vietnamesische Delegation von ehemaligen Offizieren sei, die in der DDR an Offiziersschulen Vorträge halten sollten. Der erste Anlaufpunkt des Schiffes sei Stralsund. Ich solle mich mal darauf vorbereiten, dass ich ihn am 23. Mai abholen könne. Das war morgen. 23.5.1923 da wurde die Sozialistische Arbeiterinternationale gegründet, aus der dann die Sozialistische Internationale wurde. Heute war wieder ein 23. Mai. Heute kam mein Vater in Stralsund mit einem Schiff voller vietnamesischer Veteranen an. Na toll. Von wegen Veteranen. Alle zwei Köpfe kleiner als ich, aber fit wie ein Turnschuh. Hung begrüßte die Delegation. Unsere Politstellvertreter und die militärische Führung wussten natürlich schon länger über den Besuch Bescheid. Dass mein Vater der Kapitän des Schiffes war und Hung einer der ehemaligen Kampfgefährten der Delegationsteilnehmer, wurde bis zum Erbrechen ausgeschlachtet. Vor allem propagandistisch. Nach zwei Tagen nahm der Trubel ab und Hung mich beiseite. Er habe in seiner Stube ein Präsent für mich. Nach Dienstschluss war ich den Tränen nahe. Freudentränen. Ich glaube zu wissen, dass ich in der ersten halben Stunde, in der ich mir den Kreislaufbeatmer von Hung erklären ließ, nicht einmal an Vera gedacht habe. Die Genossen aus Vietnam hatten alle Kreislaufatemgeräte ausgemustert, warum, wusste Hung selbst nicht. Die Delegation hatte sich dreißig oder vierzig davon einpacken lassen. Die genaue Zahl wusste kein Mensch an Bord. Fünf sollten nach Berlin gehen, zum Tauchclub Nautilus. Zehn sollten die Seelandeeinheiten in Peenemünde erhalten und den Rest sollten die Offiziere der Tauchausbildungsschule auf dem Dänholm in Stralsund nutzen. Die Vietnamesen hatten nichts anderes als diese Art Gastgeschenke. Maximal hätten sie noch amerikanisches Napalm mitbringen können, davon hatten sie ja auch genug. Mit meinem Vater konnte ich einen ganzen Abend allein verbringen. An Bord seines Frachters. Wir redeten über dies und das. Ein Gespräch? Nein, sowas entwickelte sich nicht. Wir warfen einander offene Fragen an den Kopf und hofften auf ausführliche Antworten des anderen. Dennoch erzählte ich ihm alles von Vera. Er erinnerte mich daran, dass ich noch achtzehn Monate bei der Marine zu dienen habe. In dieser Zeit wäre Dirk immer näher an Vera dran. Seine Chancen stünden besser. Ich solle meinen Dienst in Ruhe beenden und mich dann meinem Studium widmen. Wenn dieses Studium in der Nähe von Vera sein könnte, dann gäbe er mir eine Chance. Sonst nicht. Der Abend endete in Hungs Zimmer. Drei von seinen ehemaligen Kameraden waren bei ihm. Er bedeutete mir, nichts von seinem Geschenk zu sagen, und stellte mir ein Glas hin. Zuckerrohrschnaps. So süß, dass mir morgen früh beim Pinkeln definitiv die Ameisen den Strahl hochkrabbeln würden. Am kommenden Morgen verstaute mein Vater Hungs Geschenk in seiner Kammer auf dem Schiff und dampfte Richtung Überseehafen Rostock, wo Mutter ihn schon erwarten würde. Dann war ich wieder allein mit dem Grübeln über Vera und mich. Achtzehn Monate hatte mein Alter gesagt. Scheiße.

      Reginald Hübler

      Drei Tage nachdem ich bei Bert übernachtet hatte, rief mich eine Ermittlung an den östlichen Rand unseres Ermittlungsgebietes.

       Ich hörte nur die Floskel „sozusagen“. Ein richtiges Wort war das für mich nie. Es gibt Dinge, die ich einfach verabscheue.

       Zuallererst mal dumme Menschen. Dann Nazis. Okay, irgendwie ergänzen sich diese beiden Gruppen fantastisch. Stimmt.

       „Sozusagen“ gehörte eindeutig in meine „Fürchterlich-Kiste“. Vor allem, wenn es derart inflationär benutzt wurde, wie bei eben diesem Vertreter der schreibenden Zunft.

       Dieses „sozusagen“ kam von unserem Reporter mit Lokalkolorit – so bezeichnete sich der Mann selbst. In Ehren ergraut, überall zu finden, hatte er genaugenommen nirgends was zu suchen.

       Der Mann wollte gerade einen meiner Leute interviewen.

       Da noch nicht einmal ich, als Ermittlungsleiter informiert worden war, hatte der Mann keine Chance. Meine Truppe hielt dicht.

       Es handelte sich, nach Meinung des Opfers, um einen Einbruch. Die Straftat wurde komischerweise nicht vom Opfer, sondern anonym bei der Polizei gemeldet. Von einem öffentlichen Fernsprecher in der Nähe des Kreismuseums von Syke. Der Anrufer meldete einen Verstoß gegen das Kriegswaffengesetz.

       Der uralte, glatzköpfige, kleine Hauseigentümer wartete bei Vuk Krst, demjenigen aus unserer Abteilung, der als erster hier gewesen war.

       Vuk sah mich nur kurz an und begann zu berichten. Dabei hatte er eine alte deutsche Maschinenpistole aus den Kriegsjahren in der Hand. Die Munition dazu lag in zwei Päckchen neben ihm auf einem verrosteten Metalltischchen.

       Das anonym angezeigte Einbruchsopfer stand, die Hände in seinen zu langen, schmutziggrauen Baumwollhosen, bei uns und hörte genau zu.

       Nach zwei Minuten wusste ich vor allem drei Sachen.

       Erstens, der Hauseigentümer war nicht sonderlich helle.

       Zweitens, der Alte war auch seines Deos beraubt worden, es sei denn, es hatte ihn schon vorher verlassen. Er bestand darauf, dass sich immer wieder Leute an seinen Hof ran schlichen, um ihn zu bestehlen.

       Drittens, jeder meiner Kollegen wusste von meinem Aufzug am vergangenen Wochenende. Die Baumwollhose des Alten hatte wohl eine meiner beiden weiblichen Unterstellten dazu verleitet, lästernd zu petzen.

       Blasphemie am frühen Morgen. Das ging gut los.

       Eine Stunde später hatten wir einen k89 Karabiner mit einem Bajonett gefunden. Die Anzahl der gefundenen Handgranaten konnte ich mit einem Blick nicht überschauen. Während die anderen unter Mithilfe der Sprengstoffexperten aus Bremen weiter suchten, wollte ich mehr über den Alten wissen.

       Die Informationen waren mehr als armselig. Er wollte nicht reden. Jetzt nicht mehr. Wie sich herausstellte, hatte er einen der Einbrecher mit dieser Maschinenpistole bedroht.

       Gestohlen worden war nichts. Sagte der Alte.

       Wie alt mochte er sein?

       In jedem Fall hatte der in seiner Kindheit bei McDonalds noch den Reichsjugendverzehrbeutel statt der Juniortüte bekommen.

       Er hätte nicht geschossen und die Waffen lagerten schon seit Kriegsende bei ihm. Einmal im Jahr würden die Gewehre geputzt. Schießen wollen hätte er damit nie. Für wie blöd wir ihn hielten?

       Ich antwortete ihm, dass mir dazu die Adjektive fehlten.

       Sein Blick bestätigte, dass ich ihn mit diesem Substantiv ebenfalls überfordert hatte.

       Er wohnte in etwa so, wie Bert und ich.

       Von der Umgebung her. Nicht vom Niveau und Charakter der Behausung.