A.B. Exner

Spätes Opfer


Скачать книгу

Wunder, ich trug eine mir nicht bekannte lange Baumwollhose, mein Oberhemd und ein paar Latschen an den Füßen, die ich mich nicht erinnern konnte, angezogen zu haben.

       Es war saukalt.

       Durch das geöffnete Tor der Scheune konnte ich Bert sowohl stilistisch, als auch wärmedämmend wesentlich besser gekleidet als ich selbst mit einer Axt in der einen Hand und einem Stück Kien in der anderen erkennen.

       Es war der 25. Januar 1985.

       Behauptete zumindest der Abrisskalender, den ich anstarrte.

       Mittwoch.

       Bert fragte mich, ob ich wüsste, dass heute vor neunundfünfzig Jahren die ersten olympischen Winterspiele in Chamonix begonnen hatten?

       Da ich nicht wusste, was ich antworten sollte, stellte er mir gleich die nächste Frage. Ob denn noch der Zettel in meiner Hemdtasche wäre?

       Wieder benötigte mein geschundener Geist Sekunden, um die Frage an die entsprechenden Stellen in meinem Hirn weiterzuleiten.

       Bert kam auf mich zu, griff in meine Hemdtasche und reichte mir erst die dort aufbewahrte Brille, dann einen kleinen Zettel.

       Bert spaltete wieder kleine Kienspäne von dem verharzten Holzstück und ich las:

       „Wenn die Schwester des Opfers nicht privat krankenversichert ist, dann verhafte sie und den Gynäkologen. Sie ist vermutlich die Täterin und er gibt ihr ein Alibi, eventuell sind die beiden ein Paar.“

       Eine Stunde später saßen mir Hilke Fredersen und Finja Mahrt gegenüber. Die beiden hatten Wochendienst. Ich befahl, den optischen Eindruck zu ignorieren, was den beiden augenscheinlich nicht gelang, präziser ausgedrückt, sie amüsierten sich auf meine Kosten. Ich hatte frei, die Mädels waren im Dienst. Dennoch war ich natürlich in der Opferrolle.

       Die Hose würde fantastisch die Resultate meiner Diät untermalen. Der Euphemismus des Tages.

       Nun ja.

       Die Information, die die beiden mitbrachten, war, dass die nun verdächtige Frau in der gesetzlichen Krankenkasse versichert war. Und die Alleinerbin. Nun, das war neu.

       Hilke war die Fallanalytikerin und Finja die IT-Ermittlerin in unserem Kriminalteam. Die Strukturen der Zusammensetzung waren uns irgendwann einmal selbst überlassen worden. Und so hatten wir uns entschlossen, es so zu gestalten, dass es funktionierte und nicht, wie die Chefetage es dann in späteren Dienstanweisungen vorschrieb.

       Unser Kriminalpsychologe hieß Melih Mesghara. Sein Vorname bedeutete: der die Schönheit besitzt. Nun, das konnte heißen was es wollte.

       Melih war ein richtig Guter, aber er hatte eine Hakennase, dürftige Augenbrauen, lange Wangen die in einem sehr schmalen Kinn endeten und blasse Augen. Kurz: ein Gesicht, das nur eine wahre Mutter lieben kann.

       Seine Mutter lebte nicht mehr.

       Wir hatten noch einen Waffenexperten in unserer Truppe, das war Marcus Podasch.

       Dann unser reiner Datenermittler - Vuk Krst.

       Der hieß wirklich so. Der verdiente sein Geld durch Befragungen von Zeugen, Recherchen, Erstverhöre und wir nannten es Zu-Fuß-Ermittlungen. Geboren in Serbien konnten seine armen Eltern ihm nicht einmal einen Vokal im Familiennamen vererben. Ausgesprochen wurde der Name wie Christ, was immer wieder zu Verwechslungen: „Ich bin kein Christ – ich bin Atheist“, und zu mutwilligen Scherzen führte.

       Die Namen unserer Gerichtsmediziner brauchten wir uns gar nicht zu merken. Spätestens nach einem halben Jahr ließen sich die Damen und Herren aus der Provinz wegloben. Einer war vor zwei Jahren mal einfach so spurlos verschwunden. Weg. Einfach so. Den haben die nie wieder gefunden.

       Aber ich schweife ab.

       Ich erklärte Finja und Hilke also Folgendes.

       Die Frau hatte ihren Urlaub auf Mallorca abgebrochen. Angeblich wegen einer Erkrankung ihrer Schwester. Am Tag ihrer Ankunft rief sie, noch vom Flughafen, bei ihrem Frauenarzt an und bat um einen schnellen Termin. In der Zeit dieser gynäkologischen Untersuchung wurde die Schwester am nächsten Tag ermordet. Keine Einbruchsspuren! Nur die Schwester hatte einen Wohnungsschlüssel.

       Bert Klose, seit heute, mein absoluter Lieblingsnachbar, hatte mir fünfzig Minuten zuvor die entscheidende Frage gestellt.

       Ob ich mir etwa vorstellen könne, dass eine Frau, die in der gesetzlichen Krankenkasse versichert sei, einen Frauenarzttermin für den kommenden Tag bekommen könne, wenn sie nicht mit dem Arzt verwandt, verschwägert oder liiert sei?

       Da ich davon keine Ahnung hatte, rief ich meine Ex-Ex an – Präziser ausgedrückt, meine erste Frau.

       Inken wollte sich gar nicht mehr beruhigen, so belustigend fand sie meine Frage. Natürlich müsste es mit dem Teufel zugehen, wenn dieses Gynäkologenwunder geschehen sollte.

       Ich informierte Hilke und Finja von dem Gedanken.

       Letztere fragte mich nur, ob ich da selbst drauf gekommen sei.

       Erstere bemerkte danach, dass es sie wurme, dass sie nicht allein auf das Offensichtliche gekommen war. Als Frau.

       Hilke rief schon die Uniformierten an, um den Frauenarzt und die Schwester ins Revier zum Verhör holen zu lassen.

       Als der Dienstwagen der Kolleginnen vom Hof fuhr, interviewte ich Bert.

       Ich hatte wohl solch einen Frust auf meinen Job, dass ich am Abend zuvor redseliger gewesen war, als ich hätte sein dürfen. Dienstlich gesehen.

       Bert schwor mir, dass es ihm einen riesen Spaß bereitet hatte, mein Gastgeber, Zuhörer und Ermittlungskollege zu sein, und er würde niemals etwas verraten.

       Er wollte nur seine Baumwolljogginghose wieder haben.

       Seit diesem Abend soffen wir etwas weniger und immer, wenn ich in einem Fall nicht weiter kam, erzählte ich Bert darüber. Es half nicht immer. In manchen Fällen aber stehen Kriminalisten einfach nur auf dem Schlauch, das kann ich Ihnen sagen.

       Ich schwöre, dass ich nie wieder Garlix angerührt habe.

       Woher wusste Bert so etwas?

       Nie habe ich ihn mit einer Frau gesehen.

       Nie erzählte er etwas über Frauen in seinem Leben.

       Im Übrigen hat die Dame nach den ersten Verhören gestanden. Die Schwester hatte gewusst, dass sie im Sterben lag und wollte alles, was sie besaß, an ein Kinderheim vererben.

       Das fand die Mörderin nicht lustig und half nach.

       Der Gynäkologe war der Komplize.

      Bert Klose

       Vor zehn Jahren, am 15. Dezember 1965 hatten die Amerikaner einen riesigen Erfolg im Weltraum. Zwei ihrer Raumkapseln hatten sich auf wenige Meter angenähert. Wenn die Dinger sich zusammengekoppelt hätten, dann hätte ich das verstanden, aber so? Egal. Dirk hatte morgen Geburtstag. Sein Geschenk lag in meinem Regal. Ein Reparaturhandbuch für seinen Sperber. Das war in dem Falle kein Vogel, sondern der Name eines berühmten DDR-Mopeds. Da Ersatzteile für das Ding nicht aufzutreiben waren, besorgte ich das Buch. Ich freute mich auf die Party. Wie jedes Jahr wollten drei Familien, also Dirks Eltern und seine ältere Schwester, die Familie von Vera und meine Mutter auf den Berliner Weihnachtsmarkt gehen. Mein Vater schipperte, inzwischen Kapitän eines Handelsschiffes, irgendwo in Asien herum. Das waren noch Weihnachtsmärkte. Schausteller und Attraktionen. Buden mit Überraschungen. Die Fahrgeschäfte strahlten vor Nostalgie. Ein Wort, das ich damals noch nicht kannte. Die Jugend marschierte los und die Erwachsenen hielten an den Handwerksständen Ausschau nach letzten Kleinigkeiten für die entfernteren Verwandten. Dirks Schwester verkrümelte sich sofort. Wir wussten alle, dass sie nicht wusste, dass selbst ihre Mutter wusste, dass ihr Freund sie am Bahnhof Alexanderplatz abholen wollte. Vera reichte mir die linke Hand und Dirk die rechte. Der drückte seine Zigarette aus und fasste zu. Das mit dem Rauchen hatte er sich in der Lehre angewöhnt. Vera fand es doof und ich verstand es nicht. Probiert hatte ich auch einmal, aber das Tauchen als Hobby existierte nicht mehr. Jetzt war es Tauchen als Leistungssport. Wie alles in der DDR