A.B. Exner

Spätes Opfer


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Mutter freute sich wie doll und verrückt und mein Vater erfuhr es über den Seefunk zwei Tage später. Der war gerade als nautischer Offizier auf einem Handelsschiff von Montevideo in Richtung Heimat unterwegs. Weshalb ich das mit Hawaii erwähne, fragen Sie? Nun, das war die Methode meiner Mutter, mir Geschichte beizubringen. Mit vielen Daten in meinem Leben kann ich historische Ereignisse verbinden. Dafür war und bin ich zum Beispiel in Englisch und allen anderen Fremdsprachen immer noch auf dem Niveau der siebten Klasse. Es hat mich nicht interessiert. Geschichte hat mich interessiert. In Mathe war ich richtig gut, genauso wie in Chemie und Physik. Aber in Biologie zum Beispiel ist es, als wenn ich in jeder Stunde nur Kreide holen war. Bis auf das Wort Symbiose ist nichts hängen geblieben. So, das dazu. Was ich wirklich richtig gut kann, ist tauchen. Beinahe wäre ich Kampfschwimmer geworden. Vermutlich sogar ein richtig guter. Aber dann kam was dazwischen. Und davon handelt dieses Buch auch. Als ich 1965 in Berlin in die Schule kam, war Vera noch in der Parallelklasse. Meine Einschulung war am 1. September. Am Sonntag darauf, dem 5. September, starb ein gewisser Albert Schweitzer. Sagte meine Mutter. Die Schule war ein altes Gemäuer im tiefsten Prenzlauer Berg in Berlin. Der triste, düstere Innenhof wurde in keiner Sekunde des Tages durch direktes Sonnenlicht erhellt. Der untere Teil der U-Form des Gebäudes war so genial nach Süd ausgerichtet, dass wir uns nie Sorgen um Sonnencreme machen mussten, die sowieso aus dem Westteil der Stadt von Verwandten hätte kommen müssen. Am oben offenen Ende des Grundrisses der Schule stand ein Klotz von Turnhalle, eigentlich zwei Turnhallen übereinander. Schon als wir in der vierten Klasse waren, durften wir wegen der Schäden im Dach die obere der beiden Turnhallen nicht mehr betreten. Der Name der Schule wird mir immer in Erinnerung bleiben. Nadeshda Krupskaja. War wohl die Frau von Lenin. Bei dieser Dame war meine Mutter mit dem historischen Basiswissen nicht so hinterher. Jetzt, wo ich so darüber nachdenke, haben die historischen Lernassoziationen meiner Mutter selten tatsächlich kommunistische, historische Hintergründe. Fällt mir jetzt erst auf. So. Vera. Sie wohnte zwei Aufgänge weiter in der Stolpischen Straße. Sie in der Nummer 8 und meine Familie in der Nummer 6. Genau zwischen dem Bäcker Kupsch und dem Farbenladen Kabisch, der aber schon auf der anderen Straßenseite lag. Somit hatten wir beide und mein Kumpel Dirk Färber, der direkt über dem Bäcker Kupsch wohnte, einen gemeinsamen Schulweg. Meistens vertrugen wir uns. Dirk wollte immer ein Küsschen haben, weder Vera noch ich wollten ihm eines geben. Von mir wollte er wohl auch keines. Wenn meine Mutter mich im Winter bei Minustemperaturen zur Schule schickte, dann hatte ich immer drei frisch hartgekochte Eier in der Manteltasche. Vera und Dirk bekamen immer eines ab. Das wärmte die Hände. Vera konnte sogar beide Hände gleichzeitig in ihrem Muff wärmen, den ihre Oma ihr geschenkt hatte. Noch in der ersten Klasse durfte ich Veras Vater kennen lernen. Welch zweifelhaftes Vergnügen. An einem Sonnabend gegen elf Uhr dreißig. Damals gab es an Sonnabenden immer noch den Vormittagsunterricht. Ich hatte am Freitag zuvor meinen Füller vergessen. Also lieh ich mir von Dirk den Reservefüller. Dieser allerdings war trocken. Keine Tinte. Vera konnte helfen und gab mir eine Tintenpatrone. Als ich ihr dann am nächsten Tag, einfach um sie zu veräppeln, zwei, allerdings leere, Patronen zurückgab, eskalierte die Situation irgendwie. Vor der Schule warteten die Eltern, die zum Wochenende in den Garten wollten, zu irgendwelchen Familienfeiern eingeladen waren oder einfach nur, weil es eben Sonnabend war, ihre Kinder abholen wollten. Vera meckerte mich an. Meine Mutter war ebenso schnell bei uns, wie der Vater von Vera. Es geschah etwas, dass ich erst Jahre später wirklich begriff. Nach einer sehr kurzen Erklärung von Vera zog deren Vater mich an meinem linken Ohr. Meine Mutter hing an seinem Arm und schaffte es, uns zu trennen. Dann unterhielten sich die beiden in einigem Abstand von uns. Mein Ohr brannte vor Schmerz. Weshalb die beiden Erziehungsberechtigten sich so aufregten, war weder mir, noch Vera klar. Wir beide hatten uns schon wieder versöhnt. Die meisten anderen Eltern waren schon verschwunden. Nach einigen Minuten hatte ich Stubenarrest und Vera durfte nicht, wie geplant, in den Tierpark fahren. Auf dem gesamten Heimweg wurde jeder meiner Erklärungsversuche von Mutter abgewürgt. Ich sollte mir schon mal überlegen, wie ich das meinem Vater erkläre. Nachdem ich die gesamte Geschichte zu Haus noch mal meinem Vater erzählt hatte, sah alles plötzlich ganz anders aus. Vater war der erste, der verstand, dass es sich bei den Patronen nicht um echte Munition handelte, sondern um Tintenpatronen. Mutter sank mit weichen Knien auf die Couch und weinte ein bisschen. Dann winkte sie mich zu sich und versuchte mir zu erklären, dass es eine Generation Krieg gäbe. Beide, Veras Vater und sie selbst, hatten nur „Patronen“ gehört und waren davon ausgegangen, dass wir in den abgesperrten Ruinen in der Behmstraße, direkt an der Grenzmauer, alte Munition gefunden hätten. Noch während sie mir das erklärte, klingelte es und Veras Vater stand mit Blumen in der Tür. Seine Tochter war wohl auch endlich zu Wort gekommen. Beide, meine Mutter und Veras Vater, waren Mitte Vierzig und assoziierten mit Patronen eben zu allererst Munition. Ich verstand das in diesem Moment nicht. Mein Vater holte eine Flasche Doppelkorn und Mutter setzte Kaffee auf. Vera und ich verkrümelten uns zu Dirk. Ab diesem Moment aber, verbrachten die beiden Familien einiges an Zeit miteinander. In unserem Garten, auf der anderen Seite von Westberlin, in Falkensee, oder in deren Wohnwagen auf einem Zeltplatz in der Nähe von Müncheberg. Sogar in Güstrow, damals eine Weltreise innerhalb der DDR. Bei einemUrlaub im Bootshaus des Großvaters von Vera lernten wir schwimmen, segeln und angeln. Dirk, Vera und ich. Vera war Kumpel, nicht Freundin. Dirk Färber, mein bester Freund, war immer dabei und immer verliebt. Bis zum 4. Juni 1972. An diesem Tag entschied sich, dass Vera auf die EOS, die „Erweiterte Oberschule“, gehen würde. Sie war die Klassenbeste, in Sport sogar besser als Dirk, was ihn wahnsinnig nervte. Weder Dirk, noch ich konnten ihr in Sachen Auffassungsgabe das Wasser reichen. Wir blieben also in unserem alten, immer noch nicht renovierten, Schulgemäuer. Vera ging ab September im Stadtbezirk Mitte in die EOS. Sie belegte etliche Nachmittagskurse, wechselte den Sportverein, ging zu Sprachförderstunden, kam oft erst spät nach Haus. Aus den Augen, aus dem Sinn? Ja, so nach und nach geschah es. Aus den Augen, aus dem Sinn! Bis 1975.

      Reginald Hübler

      Da stand er nun vor mir.

       Das Schild an seinem Briefkasten hatte ich schon vor Wochen zum ersten Mal gesehen.

       B. Klose stand drauf.

       Jetzt wusste ich, dass „B“ Bert bedeutete.

       Bert Klose also. Mein neuer Nachbar.

       Er hatte eine Flasche Asbach Uralt in der linken Hand und in der rechten einen Tempranillo.

       Ich winkte ihn rein und nahm ihm die Flasche Rotwein aus der Hand.

       Ein attraktiver Kerl, soviel stand fest. Bestimmt fast einen Meter neunzig groß, leichte Grautöne an den Schläfen im sonst borstigen Haar, wache Augen hinter der schnörkellosen Brille. Hundertprozentig hatte Bert Idealgewicht. Durchtrainiert? Nein, sicher nicht. Aber fit war er wohl. Glattrasiertes Gesicht, ein neckisches Grübchen in der Kinnmitte. Ehrlicher Blick mit nicht nur altersbedingten Lachfältchen. Der Typ konnte urkomisch sein. Das sah ich sofort.

       Er hatte seine Jeanslatzhose an. Präzis ausgedrückt sah ich ihn bei Arbeit oder Erholung im Garten immer nur in dieser Hose.

       Wir verstanden uns von der ersten Sekunde an. Jeder hatte seinen Spleen. Jeder akzeptierte die Macken des anderen. Jeder von uns neckte gern, besser gesagt, verarschte herzhaft.

       Jeder aber konnte bei Bedarf, ebenso tiefgründig wie oberflächlich sein.

       An diesem ersten Abend lernte ich die erste Marotte von Bert kennen. Die Datumsmanie.

       Er erklärte mir doch tatsächlich, dass er genau seit dem 1. September 1983, seit dem Tag, als die Sowjets einen südkoreanischen Jumbojet abgeschossen hatten, in der Bundesrepublik lebte.

       Das war so ziemlich genau ein Jahr her. Er hatte sich in diesem Jahr mit dem neuen Leben arrangiert und sich einen Job gesucht. Es ging ihm gut. Das Geld aus einem Fond für Flüchtlinge und einem Kredit reichte aus, um das Bauernhaus gegenüber zu finanzieren.

       Weshalb er aus dem Osten, sprich aus der DDR, geflohen war, habe ich damals nicht erfahren.

       Trotz dreier Flaschen Rotwein an diesem Abend.

       Präziser ausgedrückt, ich hab es niemals erfahren. Trotz der Mengen an Alkohol, die wir gemeinsam vernichteten. Über sein Geburtsland, er sagte nie Mutter- oder Vaterland,