A.B. Exner

Spätes Opfer


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Leider hatten seine Vorgesetzten diese Information an seinen ehemaligen Trainer weitergeleitet.

       Nach zwei Tagen und drei Abenden waren alle offiziellen Termine erledigt und Bert konnte Hung sein Berlin zeigen. Ja, sie besuchten auch eine vietnamesische Teestube. Das war am Humannplatz und Bert hatte keine Ahnung, was da so in die Tees getan wurde.

       Der Abend endete damit, dass Hung sich mit Bert auf der Schulter zur Stolpischen Straße durchfragen musste. Berts Vater war auf den sieben Weltmeeren unterwegs, er hatte ihn seit mehr als einem Jahr nicht gesehen.

       Berts Mutter war nicht sonderlich erbaut. Aber sie ließ Hung jetzt nicht mehr weg.

       Es war mitten in der Nacht, basta, er solle dort schlafen.

       Der kommende Morgen war für Bert die völlige Überraschung.

       Er hatte immer gehört, dass Alkohol unweigerlich dazu führte, dass man Kopfschmerzen und Unwohlsein verspüren müsse. Dem war nicht so.

       Er hatte keine Erinnerung an den Abend. Und noch etwas hatte er nicht.

       Er hatte keine Beine.

       Er wollte aufstehen und knickte sofort wieder ein.

       Im Kopf absolut klar, fragte er Hung nach den Getränken des Vorabends. Er konnte beruhigt werden, es habe sich nur um einen vietnamesischen Fruchtlikör gehandelt.

       Ein paar Stunden später waren die beiden zum Abschiedstermin im Tauchclub.

       Hung verkündete eine Idee, die er habe. Er müsse das nur noch mit dem Konsulat klären, sei aber sehr zuversichtlich, dass der Tauchclub Nautilus einige der Atemgeräte bekommen könne, die Hung selbst dazu genutzt hatte, die amerikanischen Schnellboote auf den Flüssen seiner Heimat zu sprengen. Die Freude war so lala.

       Was sollten die Berliner Taucher mit dem Vietnamesenschrott, an dem vorher noch die Sowjets rumgefummelt hatten? Vielleicht konnte man eines der Geräte in dem vereinsinternen Museum unterbringen.

       Während der Zugfahrt nach Stralsund in die Dienststelle der beiden erklärte Hung das Geheimnis der Geräte. Es handelte sich um sogenannte Kreislaufbeatmer. Eine Atemkalkpatrone bindet das Kohlendioxid der ausgeatmeten Luft als Feststoff und reichert die verbliebene Luft mit reinem Sauerstoff wieder an. Die Erfindung war nicht neu, aber die Russen hatten es wohl geschafft, einen handlichen Rückencontainer zu bauen. Mit dem war ein geübter Taucher wie Hung selbst in der Lage, mehrere Stunden unter Wasser zu verweilen.

       Dieser Vorteil jedoch wurde noch dadurch überboten, dass es beim Ausatmen keinerlei Blasen zu sehen gab, da die gesamte verbrauchte Atemluft sozusagen recycelt wurde.

       Hung selbst hatte ein Patrouillenboot der Feinde in die Luft gejagt, in dem er eine Magnetmine direkt an den Rumpf gehängt hatte. Da keine Luftblasen eines Tauchers zu sehen waren, ahnte die amerikanische Besatzung auch nichts von dem Angriff. Noch dazu waren diese kleinen Container komplett aus Kunststoff. Nur Teile der Ventile waren aus Metall. Somit konnten auch Magnetsonargeräte suchen, wie sie wollten.

       Der Taucher war für mehrere Stunden unsichtbar.

       Bert war begeistert. So ein Ding wollte er unbedingt mal ausprobieren.

       Hung versprach es.

       In Stralsund angekommen, meldete Bert sich beim Diensthabenden an und ging in seine Stube.

       Er war mehr als perplex.

       Zwei Briefe.

       Der erste Brief war von seinem Vater und nicht halb so interessant wie, der von Vera.

      Bert Klose

       Ihre Handschrift hatte sich nur insofern geändert, als sie jetzt ein kleingeschriebenes Z mit einem Tiefhaken wie bei einem kleinen g versah und sie wegen der besseren Übersichtlichkeit einen waagerechten kurzen Strich über den Buchstaben u setzte, damit der besser von ihrem kleinen n zu unterscheiden war. Es ginge ihr sehr gut und sie wolle sich einfach nur mal melden. Aus den folgenden Zeilen konnte ich erkennen, dass es mit Dirk und Vera wieder besser lief. Er war Stahlflechter in einem Baukombinat in Berlin, hatte einen abgeschlossenen Beruf. Sie studierte jetzt im zweiten Semester Humanmedizin und, weil sie Spaß daran hatte, lernte sie neben Russisch und Latein noch Finnisch. Sie bekäme immer nur Einsen und Zweien. Na, das kannte man ja von ihr. Das ganze Studium und die Paukerei bereiteten ihr richtig viel Spaß. Dirk habe sich gefangen, was den Alkohol betraf, rauche aber immer noch. Sie könne sich nicht vorstellen, ihr Leben mit Dirk als Partner zu beenden. Das war der erste Satz, bei dem alle Lampen angingen. Die folgenden Sätze, in denen es um den Gesundheitszustand der Elternteile meiner Freunde ging, musste ich mehrfach beginnen. Dirks Mutter hatte Krebs. Sein Vater käme mit der Situation nicht klar. Der Verfall der geliebten Frau trieb ihn immer wieder in die Kneipe. Ganz offen fragte Vera, ob das „Sich zum-Alkohol-hingezogen-Fühlen“ erblich sei. Wie vorsichtig sie sich ausdrückte. Das war der nächste Dorn in meiner Seele. Ihren eigenen Eltern ginge es gesundheitlich gut. Ihr Vater allerdings werde wohl seine Arbeit verlieren, weil er sich mit Vorgesetzten und Parteigenossen wegen der Planerfüllung nicht einigen könne. Das war wiederum sehr vorsichtig ausgedrückt. Sie wagte nicht, wie sonst absolut ihre Art, Klartext zu schreiben. Verdammt, was war da los? Je mehr ich las, umso mehr verstand ich, dass sie um Hilfe schrie. Und Angst hatte. Und befürchtete, dass wir beide nicht die einzigen waren, die diese Zeilen lasen. Die weiteren zwei Seiten waren gespickt mit Andeutungen. Ich las den Brief dreimal. Dann rannte ich runter zur Regimentskneipe. Dort gab es einen der drei öffentlichen Fernsprecher. Es standen schon zwei Leute an. Beim Clubhaus ebenso. Also rannte ich quer über den Exerzierplatz zum weit entfernten Med.-Punkt. Das Telefon war frei. Nach dem dritten Klingeln ging jemand ran. Ich hörte nicht raus, ob es Mutter oder Tochter war. Ich stellte mich mit meinem Namen vor. Es war ihr Vater. Nach kurzem Hallo, wie geht es und so, rief er Vera. Ich erklärte ihr, dass ich in vierzehn Tagen wieder frei haben könne, um nach Berlin zu kommen. Ob ihr das helfen würde? Sie antwortete nur, dass sie am 21.Mai 1976 in Stralsund sein könne. Ob ich frei bekäme? Das war morgen. Stralsund im Frühsommer war ganz in Ordnung, wenn man die Baulücken akzeptierte. Stralsund ist nicht schön. Die Stadt ist alt. Sicherlich gab es im Krieg Zerstörungen. Bei der Verteidigung der Stadt gegen die anrückende sowjetische Streitmacht gab es sogar elf Tote Hitlerjungen. Dennoch, da der Bürgermeister sich 1945 der Roten Armee sozusagen kampflos ergeben hatte, hielt sich die Zerstörungswut der Siegermacht hier in Grenzen. Somit gab es für die Planungskommission der DDR auch keine Veranlassung, Geld in die jahrhundertealte Bausubstanz der Stadt zu stecken. Seit Beginn des Krieges gab es am Stadtkern nur Ausbesserungen. Was man sah. Und dann sah ich sie. Ich nahm sie in die Arme. Sie hielt mich fest. Zwanzig Jahre zuvor hatten die Amis ihre erste transportable Wasserstoffbombe im Nauruatoll im Pazifik gezündet. Als ich Vera das sagte, hielt sie inne. Es sei die liebenswerteste Macke, die sie je bei einem Kerl kennen gelernt habe. Am Bahnhof hatte ich einen kleinen Strauß Blumen besorgt. Ich hatte ihren Rucksack in der Hand und sie den Strauß. Wir gingen die Bahnhofstraße hoch zum Tribseer Damm. Als wir das Wasser des Frankenteiches sahen, fragte sie mich, weshalb ich mich nach den Küssen im Treppenhaus nie bei ihr gemeldet habe. Die Bank direkt vor uns kam mir gerade recht, um Zeit zu schinden. Natürlich hatte ich mit dieser Frage rechnen müssen. Es hatte mich nicht gekümmert, mich auf unser spontanes Treffen vorzubereiten. Naiv wie ich war, dachte ich, dass mich eine alte Freundin besuchte. Mich besuchte, um mit mir einen moralischen Mülleimer zu haben, dem sie ihre Sorgen anvertrauen könne. Bisschen über alte Zeiten quatschen und so. Als wir saßen, sah ich aus dem Augenwinkel, dass sie mich von der Seite betrachtete. Ich hatte immer noch nicht geantwortet. Ihr zu erklären, dass Dirk mein erster und bester Freund war und es mir nach unseren wirklich fantastischen Küssen nicht gut ging, das fiel leicht. Es war eine Ausrede. Das wussten wir beide. Sie setzte zum Sprechen an und stand auf. Mit einem Strahlen sah sie mir direkt in die Augen. In jeder Faser ihres Körpers steckte eine Verve des Glücks. Ihr Leben war Leichtigkeit, das wollte sie signalisieren. Mich konnte sie täuschen. Sich selbst nicht. Dirk war ihr erster und bester Freund. Hatte ich das nicht gerade auch von mir selbst behauptet? Sie wusste nicht, wie sie sich uns beiden, Dirk und mir, gegenüber verhalten sollte. Ihr Leben sollte geplanter verlaufen, als das ihres Vaters, der inzwischen vor der Parteikontrollkommission Gefahr lief, richtige Probleme zu bekommen. Sie sehnte sich