A.B. Exner

Spätes Opfer


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Nicht etwa, weil sie die Kunden auffordern wollten, weniger verschwenderisch mit der Elektrizität umzugehen. Nein, man könnte eher was aus den Verbrauchsmustern der Verschwender lernen, um das bei anderen Kunden zu kopieren. Solange die bezahlten, war alles okay. Aber es gab natürlich auch die anderen Fälle, wo der benachbarte Sportverein angezapft wurde oder Steckdosen des verlassenen mittelständischen Unternehmens von der anderen Straßenseite.

       Opas Stromverbrauch musste auffallen.

       Solange unser CDU-Enkel noch der Mann im Rechenzentrum war, konnte er verhindern, dass Opa Besuch bekam. Er manipulierte das Rechnungssystem.

       Sein Nachfolger auf dem Posten kam schnell dahinter und wollte Erklärungen.

       Der Rest ist schnell berichtet.

       Nachfolger erpresst Neupolitiker Schrägstrich Enkel wegen Betruges, will seinen Anteil am Verkauf der Cannabispflanzen – Neupolitiker Schrägstrich Enkel zahlt nicht und will Opas Keller ausräumen – Opa, leicht verwirrt, löst Gefechtsalarm aus und verteidigt seinen Hof gegen alle – auch den eigenen Enkel. Nachfolger des Enkels sucht Gespräch mit Bewohner am Ende der Hardcorestromverbrauchsleitung und wird mit einer Wehrmachtsmaschinenpistole vom Hof gejagt. Nachfolger ruft wegen der Waffe anonym bei der Polizei an, was die Fingerabdrücke in der Telefonzelle beweisen – welch pfiffiges Kerlchen.

       Mein Chef belobigte mich für den schnellen Erfolg.

       Ich erzählte dem Team nicht, von wem die Idee stammte, und kaufte eine verdammt teure Flasche Wein, die dann schmeckte wie Himbeersaft auf Pelz.

       Bert hat sich dennoch wegen der Geste des Dankes gefreut.

       Von den Pflanzen im Keller wusste wirklich nur der Enkel allein. Naja und die später ermittelten Abnehmer aus Hamburg und Holland.

       Was ich auch wieder nicht wusste, das war genau 84 Jahre nach der Gründung des Deutschen Fußball Bundes in Leipzig.

       Aber für solche Informationen hatte ich ja Bert Klose, meinen Nachbarn.

      Bert Klose

       Ich hatte nur noch drei Wochen bis zur Entlassung vom Armeedienst. Alle Angebote, mich für länger zu verpflichten, schlug ich aus. Tauchen? Ja! Kampfschwimmer? Nein. Vielleicht später einmal bei der Wasserschutzpolizei? Mal sehen. Dirk Färber wollte mich vom Zug abholen. Jetzt, um neun Uhr zwölf. In Berlin Lichtenberg. Dann sollte es mit seinem Moped in den Prenzlauer Berg gehen. Seit siebzehn Tagen hatte er seine Fahrerlaubnis wieder. Er durfte wieder fahren. Wir wollten heute am Abend in den BEWAG-Club gehen. Seit Jahren ein absoluter Insidertipp in der Nähe vom Bahnhof Friedrichstraße. Dort, gleich um die Ecke, befand sich auch das Berliner Ensemble. In diesem Theater arbeitete Veras Mutter als Personalerin. Vera. Dirk war nicht am Bahnhof. Nicht vor dem Bahnhof. Als ich mit der S-Bahn fünfundvierzig Minuten später in der Stolpischen Straße ankam und bei ihm klingelte, machte seine Schwester Gaby auf. Ein kurzes: Hallo, wie geht’s, sollte es werden und dann wollte ich zu Dirk ins Zimmer. Aus der Begrüßung wurde ein Heulen. Dirks und Gabys Mutter war zwei Tage zuvor mit einem schweren Hirntumor in die Klinik gebracht worden. Es gab keine Ergebnisse, keine Informationen. Ob es eine Chance gab, nun – die Ärzte sprachen einfach nicht darüber. Ihr Vater sei seit mehreren Tagen nicht zu Haus aufgetaucht. Wieder ein Tränenschwall. Nach mehr als einer Stunde fragte ich nach Dirk. Sie wies nur auf sein Zimmer. Dirk lag zugedeckt in seinem Bett neben zwei Flaschen Goldbrand. Leeren Flaschen. Nachdem ich ihn in eine aufrechte Position gebracht hatte, grinste er mich an und fragte, ob ich ihm beim Implodieren seiner Leber zuhören wolle. Dann übergab er sich nach vorn in seinen eigenen Schoß. Gaby kam rein. Sie warf die vollgekotzte Bettdecke auf den Balkon und Dirk ging ins Badezimmer. Sie setzte sich schluchzend neben mich. Er habe seit Monaten nichts mehr getrunken. Das war das Erste, was Gaby zu diesem Thema sagte. Jetzt, wo er fest mit Vera zusammen sei, riss er sich zusammen. Eine neue Arbeit in einem Lager für Elektronikbauteile in der Storkower Straße habe er angenommen. Dirk und Vera sprachen über Kinder. Sogar das Rauchen habe er eingeschränkt. Bis gestern Abend. Da kam der Einberufungsbefehl zur Armee. Die Nationale Volksarmee verlangte nach ihm. Gerade jetzt, wo das mit Mutter und Vater so beschissen und mit Vera so fantastisch lief. Ich wollte nur noch weg, ersehnte Trubel, Tanz, Abwechslung und ja auch Alkohol. Dirk war nicht in der Lage, mich zu begleiten. Mit wem konnte ich Berlin unsicher machen? Ich rief ein paar Leute an, die aber auch alle schon verplant waren. In meinem Telefonbüchlein blieben nur noch U V W X Y Z. Bei V wurde ich fündig. Vera. Sie hörte sich so normal an. Dirk wäre gestern mit ihr bei seiner Mutter im Krankenhaus gewesen. Heute wolle er allein hin. Deshalb habe sie nichts vor. Sehr gern würde Vera mit mir den Abend verbringen. Wieder fielen mir zuerst die Veränderungen an ihr auf. Sie war runder. Nicht schwanger oder fetter oder so, nein – runder. Die Schatten auf ihrem Gesicht zeichneten sich weicher ab. Sie war fraulicher geworden. Hatte nicht mehr diese Mädchenfigur. Bei unserer letzten Begegnung hatte sie dicke Winterklamotten angehabt. Und die Figur eines Mädchens, das nicht immer satt wird oder nicht immer den Teller leer isst. Sicher, das ist ein blöder Omaspruch, aber mir fällt nichts Besseres ein, um es zu beschreiben. Jetzt, in der ersten Aprilsonne, trug sie ein hellblaues, verteufelt kurzes Kleid. Ihre kleinen Füße steckten in Wildledersandalen. Über den Schultern hatte sie ihre Jeansjacke. Ihre Haare waren lang gewachsen. Immer noch Kastanie. Nur eine kleine Spange an der linken Schläfe hielt die wallende Pracht von ihrem Gesicht fern. Ihr Gesicht war runder. Wie soll ich es anders beschreiben? Sie hatte den Weg von der sportlichen Zierlichkeit zu fraulicher Eleganz beschritten. Erfolgreich beschritten. Wir hatten uns verabredet. Für elf Uhr dreißig in der Kollwitzstraße. Wir wollten, wie früher schon einmal, einen Spaziergang über den jüdischen Friedhof machen. Wir waren beide pünktlich. Wir redeten wenig. Wir wiesen den anderen auf kleine Entdeckungen in der jungen Frühlingsnatur hin. Wir betrachteten uns verschmitzt mit Teenagerblicken. Am Märchenbrunnen kauften wir Eis, und wandelten dann über den Alexanderplatz. Durchquerten die Leipziger Straße, um zum Berliner Ensemble zu spazieren. Dort besuchten wir Veras Mutter. Sie freute sich sichtlich, mich zu sehen. Sie war augenscheinlich erstaunt, dass wir Händchen hielten. Ich sollte warten, während sich die Frauen leise tuschelnd verdrückten. Was war hier los? Geschah irgendetwas mit mir? Färbte Veras unbekümmerte Leichtigkeit auf mich ab? Vera war so gelöst, so unschuldig, so frei. Ihre Mutter so nervös. So geheimnisvoll. Ich wartete im Büro der Mutter. Nach zwanzig Minuten erschienen die Frauen. Vera hatte also wieder den Fundus des Theaters plündern dürfen. Sie hatte eine grüne Strumpfhose angezogen. Darüber ein knallrotes Kleid mit zwei riesigen, aufgesetzten, rechteckigen Taschen. Die Taschen waren gelb. Wie eine liebestolle Ampel. Das Kleid war testosteronfördernd kurz. Ich liebte es. Ihre Haare trug sie jetzt in einem rotzfrechen Pferdeschwanz. Dadurch, dass ihr Gesicht jetzt völlig frei war, kamen ihre wundervoll gewölbten Lippen ans Tageslicht. Ihre Augen überstrahlten das jetzt offene Antlitz und warfen Unschuld in den Frühlingstag. Unwillkürlich ging ich zwei Schritte zurück. Drei Schritte. Das Zimmer war zu Ende. Keck. Das ist der richtige Begriff. Keck. Sie sah keck aus. Sie schaute keck. Gemeinsam mit Veras Mutter aßen wir in einem kleinen Restaurant in der Oranienburger Straße. Jetzt, wo ich so nah an Veras Gesicht war, entdeckte ich zu meinem Erstaunen erst, dass sie nicht geschminkt war. Das war pure Natur. Ich liebte ein Mädchen, besser gesagt, eine Frau, die am schönsten in natura war. Ihrer Mutter konnte das nicht entgehen. Ich bekam ein schlechtes Gewissen. Nicht nur, weil ihre Mutter das Essen zahlte. Nicht nur, weil es offensichtlich war, dass ich in die Freundin meines Freundes verliebt war. Nein, ich wusste auch, dass Dirk Vera wieder belogen hatte. Er würde seine Mutter heute nicht besuchen, sondern seinen Rausch ausschlafen. Oder weiter trinken. Ihre Mutter musste wieder zur Arbeit. Jetzt nicht mehr Händchen haltend gingen wir in Richtung der Museumsinsel, um dann doch einen Schwenk in Richtung des Monbijouparks zu machen. Ich lag mit meinem Kopf auf ihrer linken Schulter. Sie lag mit ihrem Kopf auf meiner linken Schulter – Ohr an Ohr. Das hatten wir früher schon gemacht, wenn wir in den Himmel sahen, um die Umrisse von Wolken zu deuten. Bei uns im Garten. In Veras Wohnung auf der Dachterrasse, am Orankesee beim Baden. Im Ruderboot in Güstrow. Das war die Zeit zum Spinnen. Zum Fantasieren, zum Zukunft malen. Wir begannen immer damit, dass wir uns Ohr an Ohr legten und die Augen schlossen. Dann musste einer eine Melodie summen, die der andere fortsetzen sollte. Dirk fand es immer albern. Vera liebte es. Ich liebte es. Ich liebte sie. Wir